10.02.2015
65. Berlinale 2015

Von Ferkeln und Menschen

Ein idealer Ort
Anatol Schusters Ein idealer Ort
(Foto: ARRI Worldsales)

Kleine Miniaturen eines Kinos der Zukunft: Impressionen aus der Berlinale-Sektion »Perspektive Deutsches Kino« – Berlinale-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Ein Heimat­film. Aber doch anderer Art. Denn der »ideale Ort«, von dem Anatol Schuster in seinem gleich­na­migen Film erzählt, ist ein Dorf jenseits der Idylle, eher der ganz normale deutsche Gegen­warts­alltag zwischen Lange­weile und latenter Krise. Eine Gesell­schaft, die sich mit sich selbst wohlfühlt, irgendwie, aber der zwischen Ferkeln und Blasmusik die Utopien abhanden gekommen sind, deren Träume sich, wo es sie noch gibt, in Vergan­gen­heiten richten.
Schuster ruhig erzählter Film glänzt mit schönen Beob­ach­tungen, unge­wöhn­li­chen Bild­ein­fällen – kleine Minia­turen eines Kinos der Zukunft.

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Er läuft in der »Perspek­tive Deutsches Kino«. Seit mitt­ler­weile 14 Jahren gibt es diese erste von mehreren Sektionen, mit denen Berlinale-Boss Dieter Kosslick das Festival seit seinem Amts­an­tritt erweitert – nicht wenige würden sagen: »aufge­bläht« – hat. Die »Perspek­tive« ist inzwi­schen etabliert, und wird, im Gegensatz etwa zum »Kuli­na­ri­schen Kino« oder der »Natives«-Sektion, ernst genommen und beachtet.
Ihren Ruf als Nach­wuchs­rampe des deutschen Kinos hat sie bisher aller­dings nie ganz abschüt­teln können. Denn hier laufen neben Lang­filmen auch kurze und mittel­lange Werke, Doku­mentar- und Spiel­filme. So gleicht die Perspek­tive einer Wunder­tüte, in die man hinein­blickt, und je nach Glück Groß­ar­tiges findet oder Enttäu­schendes, Qualität oder schalen Durch­schnitt.

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Man kann sich mit guten Gründen streiten, ob ein Film hier wirklich besser aufge­hoben ist als zwei Wochen früher beim Festival von Saar­brü­cken, denn im Wust der 411 Berlinale-Filme geht die »Perspek­tive« leicht mal unter. Zuletzt aber hat sie wieder deutlich an Profil gewonnen: Gerade im letzten Jahr gelangen Leiterin Linda Söffker einige Coups: Mit dem seltenen deutschen Genre-Film Der Samurai oder dem sarkas­ti­schen Controller-Drama Zeit der Kanni­balen, der erst am Montag beim deutschen Kriti­ker­preis abräumte, liefen dort zwei Filme, die über das ganze deutsche Kinojahr 2014 hinweg zum Besten gehörten. Die Entschei­dung für Radi­ka­lität und Bosheit, für die Irri­ta­tion des Zuschauers und gegen Eiapopeia-Wohl­fühl­kino wurde belohnt. Ein Grund mehr, in diesem Jahr mit beson­derem Interesse auf die »Perspek­tive« zu blicken.

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Gab es im letzten Jahr einen kleinen Trend zu Jungs-Filmen neigt sich das Pendel diesmal wieder hin zu jungen Frauen: Saskia Walker erzählt von Sprache: Sex, Lisa Sperling (in Sag mir Mnemosyne) wird das Porträt eines verstor­benen Kame­ra­manns zu einer pracht­vollen kontem­pla­tiven Passage; Filippa Bauer porträ­tiert in  Freiräume allein­er­zie­hende, allein lebende Frauen. In Inter­views aus dem Off berichten sie von der räum­li­chen und emotio­nalen Leere, die ihre Kinder nach dem Auszug hinter­lassen haben – und davon, wie sie dieser Heraus­for­de­rung begegnen.
Dies sind alles Doku­men­tar­filme. Das ergänzt die filmisch wunder­volle und im besten Sinne gewagte Spiel­film­ver­sion Im Spinn­web­haus von Mara Eibl-Eibes­feldt – eine Mutter, drei Kinder und ein modernes Geis­ter­mär­chen in schwarz­weißen Bildern. Alle drei Spiel­filme, alle im Cine­ma­scope-Format gedreht, verweisen auf ein beson­deres Form-Bewusst­sein der Filme­ma­cher.

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Das Interesse für Regis­seu­rinnen entspricht der augen­blick­li­chen Lieb­lings­de­batte der Berlinale und des deutschen Kinos, wo manche jetzt auch eine Regis­seu­rinnen-Quote fordern, als ob Kunst mit einem Aufsichtsrat oder einem Parteitag vergleichbar wäre. Aber schon zeigen sich erste Risse: Will man jetzt eine Quote für das Geld oder geht es einfach darum, dass Frauen Regie führen? Und was passiert, wenn eine Produ­zentin mit einem Regisseur arbeiten will? Wird sie dann benach­tei­ligt, gegenüber einem männ­li­chen Produ­zenten mit einer Frau auf dem Regie­stuhl, weil der gerade passt, um die Quote zu erfüllen?

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Solche Debatten werden die jungen deutschen Regis­seure der »Perspek­tive« erst kümmern, wenn sie ihre nächsten Filme machen wollen. In ihren jetzigen Filmen sind sie in der rauen Wirk­lich­keit aber schon ange­kommen. Schwer zu sagen, ob es sich um einen Trend handelt, oder an einer Auswahl liegt, die sich besonders für Sozi­al­rea­lis­ti­sches – wohl­ge­merkt keinen Sozi­al­kitsch – inter­es­siert: Aber die Perspek­tive-Filme wollen jeden­falls alle etwas zeigen von der Wirk­lich­keit, sie wollen Lügen und Schein durch­bre­chen. Etwa Jakob Erwa in Homesick – ein Psycho­thriller über eine junge Frau, die für einen Musik­wett­be­werb übt und darüber fast wahn­sinnig wird.
Oder Tom Sommer­lattes Im Sommer wohnt er unten, der Eröff­nungs­film der Reihe. Der erzählt eine spannende Fami­li­en­ge­schichte: Bruder­zwist im Banker­haus.
Der eine Sohn, David, ist als authen­ti­sches Alphatier in die Fußstapfen des Vaters getreten, der andere, Matthias, scheint dagegen aus der Art geschlagen – zumindest inter­es­siert er sich nicht besonders für Geld und hat sich einer eher kontem­pla­tiven Lebens­füh­rung verschrieben. Die Nutzung des elter­li­chen Feri­en­hauses an der fran­zö­si­schen Atlan­tik­küste ist genau geregelt, nur dass David mit seiner Frau plötzlich eine Woche früher als geplant in die sommer­liche Idylle von Matthias, dessen Freundin Camille und ihrem Sohn Etienne, platzt. Sofort halten neue Regeln und Ansprüche Einzug. Doch was zuerst auf klare Macht­ver­hält­nisse hindeutet, stellt sich als offene Konstel­la­tion heraus, umso mehr als Matthias‘ Freundin ihren anti­au­to­ri­tären Impulsen freien Lauf lässt. Voraus ging nach Angaben der Produk­tion »eine Odyssee von abge­sprun­genen TV Sendern und abge­sagten Förde­rungen, einer Unter­s­tüt­zung in letzter Minute von der fran­zö­si­schen Film­för­de­rung Poitou-Charentes Cinéma und einem traum­haften Dreh«. So landet dann ein deutscher Film in Frank­reich.