64. Berlinale 2014
Von Caligari zu Kosslick |
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Berlinale-Gewinner Black Coal, Thin Ice |
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(Foto: Fortissimo Films) |
Am meisten überrascht war ganz offenkundig der Regisseur selbst: Als Jurypräsident James Shamus am Samstagabend verkündete, wer den Goldenen Bär gewonnen hatte und Diao Yinan, Regisseur und Drehbuchautor von Black Coal, Thin Ice auf die Bühne bat, schaute der sich ungläubig um, als wolle er fragen: »Bin ich gemeint? Oder hat er den falschen Zettel aus der Tasche gezogen?« Und noch als er auf der Bühne stand, schüttelte er den Kopf und die Stimme zitterte fassungslos: »Das ist eine große Ehre für ganz China.« Dieser Preis war die größte Überraschung an einem Abend, dessen Verlauf manche stirnrunzelnd zur Kenntnis nahmen. Denn die größten Favoriten unter den Besuchern waren entweder mit Silbernen Bären gut aber nicht herausragend bedient – wie Richard Linklater (Regiebär für Boyhood) oder der Deutsche Dietrich Brüggemann (Drehbuchpreis gemeinsam mit seiner Schwester Anna für Kreuzweg) – oder völlig leer ausgegangen, wie Dominik Graf (Die geliebten Schwestern) oder die Argentinierin Celina Murga (La tercera orilla). Stattdessen gab es drei weitere Preise für asiatische Filme und zwei Auszeichnungen mit denen nun niemand gerechnet hatte: Wes Anderson gewann für seine Hollywood-Komödie Grand Budapest Hotel, die die Berlinale eröffnet hatte, den Jurypreis, und ausgerechnet der älteste Regisseur im Wettbewerb, der 92-jährige Franzose Alain Resnais, gewann den Silbernen Bär »für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet« – so als erlaube sich die Jury offenen Spott über einen Wettbewerb, der von vielen Beobachter aus In- und Ausland als zwar solide, aber künstlerisch weitgehend perspektivlos bewertet wurde.
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Dabei gehörte Black Coal, Thin Ice fraglos zu den interessantesten und besten Filmen der Auswahl. Auf der Rechnung hatten ihn trotzdem nur wenige, weil er recht »klein« und unscheinbar wirkt. Auch schien es unwahrscheinlich, dass ein Kriminalfilm gewinnt: Im Zentrum steht Zhang, ein Polizist, der im Jahr 1999 mit einem Mordfall zu tun hat, bei den Ermittlungen schwer verwundet wird, aus dem Polizeidienst ausscheidet und fortan als Sicherheitsmann arbeitet. Zeitsprung: Im Jahr 2004 kommt es zu neuen Mordfällen, die dem ersten ähneln. Die Spur führt zu Wu, der so hübschen wie schweigsamen Witwe des ersten Opfers. Und Zhang wird von seinen Ex-Kollegen um Hilfe gebeten. Er soll sich Wu nähern und undercover ermitteln. Dabei verliebt er sich in die Frau, zudem wird bald klar, dass deren Ex-Mann noch lebt, und für die Morde verantwortlich ist. In seinem dritten Spielfilm, der vor allem des Nachts in einer grauen, ewig verschneiten Industrielandschaft im nordchinesischen Kohlerevier spielt, zitiert Diao Yinan die Mythologie des Film noir mit ihren klassischen Figuren – dem Detektiv und der Femme fatale – und versetzt sie in das China des Hyperbooms der letzten Dekade. Unter der Hand entsteht so eine Betrachtung über die Amoral der Moderne – wo auch im Herzen Eiszeit herrscht. Zugleich gibt es großartige visuelle Einfälle und Bildmomente: Sex in einem Riesenrad über der Neon-Metropole, ein Feuerwerk bei Tag und eine lange Eislaufszene bei Flutlicht, dies ist das dünne Eis des Titels, das alle Figuren gefährdet.
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Auf dünnem Eis bewegt sich zunehmend auch Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Ein Rumoren ging durch die ganzen zehn Berlinale-Tage, der Überdruß vieler Besucher an Kosslicks profilloser Auswahl war mit Händen zu greifen, die Kritiken der inländischen Presse waren schlecht, die im Ausland vernichtend wie selten. Kritisiert wird nicht etwa, dass es keine guten Filme gäbe, sondern dass sie einander ähneln, austauschbar wirken und die Filme, die die Kinokunst voranbringen, seit Jahren fehlen. Im Sektionschaos der Berlinale – 11 Sektionen mit etwa 200 Filmen, Retrospektive und Klassiker nicht mitgerechnet – finden sich auch Profis nicht mehr zurecht. Die Frage, was das Panorama nun vom Forum und beide wieder von der Generation unterscheidet, ist kaum einem klar. So wird es zur Glückssache, ob man die besten Filme sieht. Gefährlicher als Presse und Publikum dürfte für Kosslick aber die Kritik der Kulturpolitik und der Funktionäre sein: Die neue Staatsministerin Monika Grütters hatte zur Eröffnung mit ihrer Hoffnung auf »Kritik und Ungeduld« der Künste genau das benannt, was der Berlinale unter dem selbstzufriedenen Kosslick fehlt. Und das Selbstlob, er tue so viel fürs deutsche Kino hält näherer Betrachtung nicht stand: Zehn Jahre nach Fatih Akins Goldenem Bär gab es diesmal zwar einen Nebenpreis, doch zwei der vier Deutschen Filme wurden allgemein als nicht wettbewerbswürdig eingestuft – und die fertigen neuen Filme von Fatih Akin, Christian Petzold und Andreas Dresen werden in Cannes laufen. Quantität ersetzt eben nicht Qualität, die reine Masse kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die besten Filme seit Jahren kaum noch auf der Berlinale zu sehen sind.