16.07.2009
26. Filmfest München 2009

Aus erster Hand

Die Debütfilme auf dem Münchner Filmfest

Von Stefanie Schulte-Krude

Ein Spiel­film­debüt ist immer für eine Über­ra­schung gut. Dement­spre­chend unvor­ein­ge­nommen betritt man den Kinosaal, setzt man sich entspannt in den Sessel. Ohne Erwar­tungen an den Film eines unbe­kannten Regis­seurs zu richten, der praktisch aus dem Nichts auftaucht und genauso schnell dorthin wieder verschwinden kann. Für die nächsten Minuten ist man also bereit, sich auf dieses Alles und Nichts einzu­lassen – und wird dafür manchmal mit einem kleinen Meis­ter­werk belohnt. Mit einem Film, der eine eigene Sprache sucht, seine Geschichte wundersam erzählt und/ oder die Welt anders, aber stets mit scharfem Blick wahrnimmt. Das Münchner Filmfest hat dieses Jahr erstaun­lich viele Erst­ling­werke unter­schied­lichster Couleurs gezeigt. Hier eine kleine Auswahl.

Was für ein Gott verlas­sener Ort muss der Land­strich Guatamala sein. Es gibt kaum Menschen auf der Straße, die Wohn­blocks sind durch Wach­posten und Mastbäume herme­tisch abge­rie­gelt, der Himmel erstreckt sich endlos. Das Leben scheint hier still­zu­stehen oder spielt sich wenn in den Häusern ab – hinter dicken Mauern. Dieser Einöde wollen die Teenager Gerardo, Nano und Raymund für diese Nacht entfliehen. Schon macht sich einer daran, dem Nachbar Benzin zu stibitzen und es direkt von dessen Auto in den Kanister abzu­füllen. Anschließend geht es mit einem gelie­henen Wagen auf Spritz­tour. Eine Tour mit fatalen Folgen.
In weiträu­migen Bildern fängt Filme­ma­cher Julio Hermández Cordón in GASOLINA die Tristesse ein, die seine eigene Jugend ausmachte. Nach dem Motto »Denn sie wissen nicht, was sie tun« ließ man sich treiben und stellte Unsinn an. So fühlte man sich in einer immer stärker in Armut abdrif­tende Gesell­schaft weniger verloren. Folge­richtig sind Cordóns Prot­ago­nisten in seinem Debütfilm Laien­dar­steller, die aus seiner Nach­bar­schaft, einer Gated Community, kommen. »Es geht mir darum, die Gewalt, die in Guatamala allge­gen­wärtig ist, zu zeigen und die damit verbun­dene, einher­ge­hende Straf­lo­sig­keit«, sagt Cordón im Anschluss an die Film­vor­füh­rung. Das gelingt ihm auch vom ersten bis zum letzten Bild. In einer entwaf­fenden Direkt­heit und Noncha­lance, die sich ihren Sinn für Humor bewahrt hat (wunderbar ist etwa die Szene, wo ein Streit unterm bzw. vor einem Auto ausge­tragen wird).

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»Die Menschen sehen nicht, was sie nicht sehen wollen«, sagt die fran­zö­si­sche Regis­seurin Juliette Garcias dem Publikum. Garcias hat an der Sorbonne Kunst­ge­schichte studiert, arbeitete jahrelang als Cutterin. Auf dem Münchner Filmfest präsen­tiert sie ihren Debütfilm. Man merkt ihr an, dass sie es gewohnt ist, diese Art von Diskus­sion zu führen. Wann hätte ich das Unge­heu­er­liche wo wahr­nehmen sollen? Mancher aus dem Publikum verlangt nach Eindeu­tig­keiten. »Sie verschließen die Augen«, fügt Garcias hinzu. Genau dieser Aspekt macht ihr Erst­lings­werk Sois sage so inter­es­sant. Was sieht man und was sieht man nicht. Der Film erzählt eine dunkle Liebes­ge­schichte, er gibt klare Hinweise auf Unge­heu­er­li­ches (in Text, Szenen und Bildern) und spannt einen von Anfang an in die Tagträu­me­reien, sprich Wahr­neh­mung, der Prot­ago­nistin Ève (Anais Demoustier) ein. Wenn sie ihre Hand in einen Bottich voller Schnecken taucht, wenn sie junge Menschen beim Baden über­rascht. Die Frau ist oben ohne, zwei Männer balgen sich im Wasser. Kunstvoll wird man immer tiefer in die Geschichte hinein gezogen, wie Ève obsessiv das Landhaus eines Ehepaares mit Baby obser­viert und die Nähe zu dem älteren Mann, einem Pianisten (Bruno Tode­schini), sucht. Ihr ehema­liger Geliebter. Das Warum bleibt lange Zeit verborgen (das Ende wird hier nicht verraten, damit man selbst das Seh-Expe­ri­ment eingehen kann). Das Gefühl aber, das irgend­etwas nicht stimmt, verdichtet sich, je näher man der Auflösung kommt. Unbehagen macht sich breit. Was man wann wo wie schließ­lich definitiv erfährt, ist letztlich egal. Es bedarf keiner solchen Eindeu­tig­keit, denn die Vorzei­chen sind eindeutig und die Schluss­szene ist es auch – wenn man hin schaut. Die Geschichte funk­tio­niert.
Zu einem Bild – Eve steht in einem Kleid mitten im Wasser – fragt ein Zuschauer, ob es ihren Selbst­mord andeuten soll. Sie hoffe das für die Figur nicht, entgeg­nete die Regis­seurin. Dabei wirkt sie leicht erschro­cken. Meiner Meinung nach könnte man das Bild auch so sehen, dass das klare Wasser alles rein wäscht (wie in einer Szene zuvor) und Ève in einer Pose von »Ich bin da. Es gibt mich« dasteht. Aber die »Wahrheit« liegt wohl in den Augen des Betrach­ters.

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Ein Baby hängt in einem weißen Tuch. Es zappelt und schreit. Im oberen Frame ist noch der schlicht zusammen gebundene Knoten des Tuches zu sehen. So müsste es aussehen, wenn ein Storch ein Neuge­bo­renes zu seinen Eltern bringt. In The Blessing sind Katrine (Laerke Winther Andersen) und Andreas (Mads Riisom) gerade Eltern geworden. Nach der Geburt stürzen die Ereig­nisse unab­läss­lich auf die junge Mutter ein: Zuhause warten die Gäste, die bewirtet werden und alles über die Geburt wissen wollen; Lise, Katrines Mutter, weist sie, als sie sie um Unter­s­tüt­zung bittet, mit dem Satz »nicht in diesem kind­li­chen Ton« zurecht; und Andreas muss für die nächsten Tagen beruflich verreisen. Katrine bleibt schließ­lich mit ihrer kleinen Tochter allein zuhause. Als die Hebamme fest­stellt, dass das Stillen nicht so klappen will und das Neuge­bo­rene an Gewicht verliert, spitzt sich die Lage weiter zu.
Es ist ein unge­wöhn­li­ches Thema, dessen sich die dänische Regis­seurin Heidi Maria Faisst annimmt, dem Baby Blues. Dem Dogmastil verpflichtet (kühle Bilder, Hand­ka­mera und ein ausge­pfeiltes Drehbuch) findet sie geeignete Mittel zu zeigen, welchem Turbostress die junge Mutter ausge­setzt ist und wie sie sehr sich in die Enge getrieben fühlt. So sehr, dass ihr Mann sie nicht mehr erreicht, dass sie ihr Kind auf kaltem Boden ablegt und dort liegen lässt. Stel­len­weise bedient sich die Regis­seurin einer knüp­pel­di­cken Drama­turgie, derer es nicht bedurft hätte; denn auch in gerin­gerer Dosis hätte man sehr gut verstanden, worum es geht. So jedoch steckt man, ebenso wie die junge Mutter, mitten drin in dieser emoti­nalen Achter­bahn. Und erschrickt. Wie weit wird Katrine gehen? Was macht dieses Gefühl, das eigene Kind nicht annehmen zu können, aus ihr? Hier wird es gesell­schaft­lich inter­es­sant, das Tabu post­na­tale Depres­sion und Kindstod klingt an. Unauf­haltsam nimmt die Geschichte ihren Lauf – und überzeugt. Respekt.

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Haar­strähnen, vom Winde verweht, schimmern im Licht­schein. Scha­blonen für einen Sehtest tauchen auf und die Konturen verschwimmen leicht. Gesprächs­fetzen von einem Arzt­be­such werden aufge­griffen. Zwischen all diesen Eindrü­cken geistert immer wieder Mutter (Catalina Saavedra), mit einer schwarzen Horn­brille auf der Nase. Wie sie duscht, wie sie Raquel (Eva Luna Isense) die Haare bürstet, wie sie im Bett frühs­tückt. Dabei verschüttet sie Milch auf das Tablett, ohne es zu merken. Vorsichtig nimmt Raquel einen Brot­krumen, der die Milch schließ­lich aufsaugt.
Es ist eine ganz eigene Welt, die man in Mami te amo betritt. Raquels Welt. Manchmal ist alles seltsam stumm, dann wieder dröhend laut. Regungslos steht das Mädchen da, wenn sich ihre erblin­dende Mutter tasend durch die Wohnung bewegt. Grimmig leiert diese die Einkaufs­liste herunter. Die Mutter wird Raquel fremd. Die einzige Möglich­keit zu verstehen, warum sie sich so zombie­like verhält, scheint dem heran­wach­senden Mädchen zu sein, ebenfalls zu erblinden. Heimlich mixt sich Raquel im Bade­zimmer Augen­tropfen aus Haarspray und Chemi­ka­lien und träufelt sie sich ein (wobei die Szene offen lässt, ob Raquel dieses tatsäch­lich tut oder nur so spielt, als ob).
Mit 25 Jahren liefert die chile­ni­sche Regis­seurin Elisa Eliash ein gewagtes Debüt ab. An der Escuela de Cine de Chile leitet die Filme­ma­cherin bereits Dreh­buchse­mi­nare und assis­tiert bei Kursen des Autors Benjamin Galemiri. Diese lite­ra­ri­sche Nähe ist Mami te amo anzu­merken. Wie sonst könnte man auf solch eine ebenso erschre­ckende wie berüh­rende Geschichte kommen und solche Szenen schreiben. Unkom­men­tiert spiegeln diese die Fantasie, die absurden Einfälle und das kindlich ernste Spiel eines Mädchens wider, das gerade die Welt entdeckt und in seinen Koor­di­naten begreift. Mit all seinen Sehn­süchten und Ängsten. Konse­quent bannt Elisa diese innere Welt auf HD-to-DigiBeta; heraus kam dabei ein eigen­wil­liges Werk: Ungestüm, respektlos, expe­ri­men­tell. Das macht neugierig, wie wohl ihr zweiter Film aussehen wird.

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Der kleinste gemein­same Nenner all dieser Debüts, die sehr unter­schied­liche, aber klar erkenn­bare Hand­schriften tragen, ist: Verleih offen. Mit ein bißchen Glück ist der eine oder andere Film wieder auf einem Festival zu sehen, mit wesent­lich viel mehr Glück kommt er gar in ein Programm­kino. Die Namen dieser Jung-Regis­seure, die sich bei ihrem Erst­lings­werk visuell wie auch drama­tur­gisch auspro­bieren und dabei wunder­bare Wagnisse eingehen, sollte man sich jeden­falls merken. Denn ihr nächster Film verheißt, wieder einen kleines Meis­ter­werk zu werden.