02.04.2009
Cinema Moralia – Folge 19

All dieses Gefühl...

John Rabe
Im Licht des Schattens – John Rabe
(Foto: Majestic Filmverleih GmbH / Twentieth Century Fox of Germany GmbH)

Die seltsame deutsche Emotionalität, John Rabe, Ulrich Tukur und der aufrechte Gang sowie der Tod von Maurice Jarre

Von Rüdiger Suchsland

»Emotional – ein Wort, das ganz oben ansteht in der deutschen Kultur der letzten 20 Jahre und DEUTSCHLAND 09, ganz oben in der Politik, im Film, in der Musik, in der Finanz­wirt­schaft, in der Werbung. Wir müssen immer alle die Menschen emotional mitnehmen, die Künstler, die Politiker. Die Archi­tektur ist nun also auch emotional, die Reprä­sen­ta­ti­ons­ar­chi­tektur. Naja, das war sie ja wahr­haftig immer schon; selbst in den dunkelsten Momenten der deutschen Geschichte. Aber seit den Nazis hat das niemand mehr so betont, wie die Deutschen in den letzten 20 Jahren seit der Wieder­ver­ei­ni­gung: erhaben, gefühls­be­laden, berührt, getroffen, ergriffen, gefühls­du­selig, aufge­wühlt… Viel­leicht ist diese seltsame Emotio­na­lität der Archi­tekten, der Funk­ti­onäre, der Politiker, viel­leicht ist all dieses Gefühl nur der Deck­mantel, hinter dem die wahre Geschichte entsorgt wird? Und unseren Kindern bleiben Papp­ku­lissen. Und Stadt­schlös­schen. Alles versinkt…«

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Unsere Lieb­lings­pas­sage in Deutsch­land 09, eine aus dem Off gespro­chene Frage, die vieles in diesem Film auf den Punkt bringt, und die sich, in seinen schwächeren Momenten, auch an ihn selbst richtet. Sie stammt aus Dominik Grafs »Der Weg, den wir nicht zusammen gehen«, einem der besten der insgesamt 13 Beiträge zu Deutsch­land 09. Als eine »Reise durch die Archi­tek­tur­land­schaft« Deutsch­lands tritt Grafs Doku-Essay eher bescheiden auf, aber der Regisseur findet in des sinn­li­chen Gewiss­heiten des ganz Konkreten schnell das Allge­meine, und so wird aus seiner Doku­men­ta­tion des Verschwin­dens der Nach­kriegs­ar­chi­tektur eine Reflexion über die Geschichte und unser Verhältnis zu ihr. Und über den Umgang mit Gefühlen und Geschichte, über deren mögliche Poli­ti­sie­rung und gras­sie­rende Entpo­li­ti­sie­rung. Darum drehen sich nahezu alle dieser zu einer Länge von über zwei Stunden zusam­men­ge­fassten Kurzfilme, die man unbedingt, jetzt und schnell im Kino sehen sollte. Denn lange werden sie dort leider nicht zu sehen sein. (Siehe unten).

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Genau um dieses Thema der Poli­ti­sie­rung und Entpo­li­ti­sie­rung von Emotionen geht es auch in JOHN RABE, der diese Woche startet. Zum Film nächste Woche mehr, das reicht immer noch. Aber schon vor ein paar Wochen lesen wir in der münch­ne­rischsten der Münchner Boule­vard­zei­tungen ein Zitat von Ulrich Tukur, der uns gerade noch als einer der wenigen Licht­blicke des Films und überhaupt immer wieder des deutschen Kinos sympa­thisch war: »Ich habe das Gefühl, dass sich der lange Schatten des Natio­nal­so­zia­lismus lichtet«, sagt Tukur da: »Das merkt man auch daran, dass junge Regis­seure dieses Land, diese Kultur und die Menschen anders sehen, auch liebe­voller.«
Hm. Darüber denken wir jetzt mal gemeinsam nach.
Lichtet sich der Schatten, weil junge Regis­seure das Land anders sehen? Oder sehen sie das Land anders, weil sich der Schatten lichtet? In beiden Fällen wäre zu fragen, ob wir uns jetzt freuen sollen, ob es gute Gründe dafür gibt, dass sich der Schatten lichtet. Und was bedeutet überhaupt das Bild vom Schatten? Ich meine jetzt nicht den Ausdruck. Aber hatte der Schatten guten Gründe oder war er immer nur nervig? Und wir sind jetzt von einer lästigen Bürde befreit?
Und was hat das alles eigent­lich mit John Rabe zu tun? Macht Florian Gallen­berger so einen Film, weil sich der Schatten lichtet, und er liebe­voller aufs Land blickt? Das hieße ja, er durfte oder konnte das vorher nicht. Wohl eher Quatsch.
Was also? Was jeden­falls hängen­bleibt, ist, dass wir etwas heute anders sehen als früher, neue Gene­ra­tion und so, und dass das mit einem unde­fi­nierten Schwächer­werden der NS-Folge zu tun hat. Hm. Klingt ein bisschen wie die Rede vom Büßer­ge­wand, das wir jetzt endlich ablegen. Mit JOHN RABE kommt der aufrechte Gang zurück. Hoffent­lich nicht. Oder, um mal mit Rabe zu sprechen: »Da kann man schon vom Heimweh kuriert werden.«

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Eine Pres­se­mit­tei­lung der HFF München infor­miert uns, dass Dr. Klaus Schaefer, Geschäfts­führer des FilmFern­sehFonds Bayern, eine Hono­rar­pro­fessur an der Hoch­schule für Fernsehen und Film München erhält. Hono­rar­pro­fes­soren an der HFF sind u. a. der Kame­ra­mann Michael Ballhaus, Regis­seurin Caroline Link sowie Georg Stefan Troller und Wim Wenders.
Aus der Mittei­lung erfahren wir auch, dass Schaefer bereits seit November 2001 das Amt des 1. Vorsit­zenden des Förder­ver­eins der Hoch­schule für Fernsehen und Film München inne hat – ehren­amt­lich. Der Verein sammelt Spenden und unter­s­tützt Diplom­filme. Im vergan­genen Jahr waren es 80.000 Euro.

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By the Ways: A Journey with William Eggleston heißt ein Film der Franzosen Vincent Gérard und Cédric Laty. Es handelt sich um einen Doku­men­tar­film über und mit dem »Vater der modernen Farb­fo­to­grafie«, der u.a. Dennis Hopper, Sofia Coppola und Gus Van Sant inspi­rierte. Der Film läuft noch einmal in einer »letzten Zusatz­vor­stel­lung« im Münchner Werk­statt­kino am Sonntag, 5.4. um 18.30 Uhr. Also besser nicht warten, ob es noch eine »aller­letzte Zusatz­vor­stel­lung« gibt. Man könnte sich verspe­ku­lieren.

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Bei der 7. Türki­schen Filmwoche Berlin wird am 5. und 6. April in zwei Sonder­vor­stel­lungen die kontro­vers disku­tierte Doku­fic­tion MUSTAFA gezeigt werden. Am 5.4.2009 um 18:00 im Broadway auch in Anwe­sen­heit des Regis­seurs Can Dündar, einem in der Türkei bekannten Fern­seh­jour­na­listen und Kolum­nisten der links­li­be­ralen »Milliyet«. Weitere Hinweise: www.tuer­ki­sche­film­woche-berlin.de
Der fragliche Film provo­zierte im vergan­genen Herbst einen Medi­en­streit über die Ange­mes­sen­heit des im Film gezeich­neten Atatürk-Bildes, auf den sich dann der eine oder andere Politiker aufschwang. Bereits zu Lebzeiten war die Figur Atatürks als Grün­der­ge­stalt der Türkei eine roman­ti­sierte Figur, ein Element poli­ti­scher Ikono­gra­phie, die nach der radikalen Verab­schie­dung der jahr­tau­sen­de­alten Tradi­tionen des Osma­ni­schen Reiches unver­zichtbar war. Atatürk war auch als Person Teil des türki­schen Nati­on­buil­ding, und lebt bis heute weiter als Zentral­ge­stalt türki­scher Zivil­re­li­gion, als ihr Messias. Auch sein Leben wurde da zum Bestand­teil polit­scher Mytho­logie.

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Am Ende sind es, für Film­re­gis­seure wie für ihre Kompo­nisten, dann doch nur ganz wenige Arbeiten, die einen unsterb­lich machen. Bei Maurice Jarre war es vor allem dieses Lied: »Lara’s Song«, die Filmmusik von Doktor Schiwago, die noch mehr als der Film selbst Mitte der 60er Jahre um die Welt ging. Ein absoluter Ohrwurm.
Er war einer der berühmten drei Muske­tiere des fran­zö­si­schen Kinos, die seit Ende der 50er Jahre die Filmmusik revo­lu­tio­nierten: Im Vergleich zu Georges Delerue, dem Kompo­nisten der Nouvelle Vague von Godard und Truffaut, dessen Klänge für immer mit dem Geschmack von Gauloises und Rotwein verbunden sein werden, und zu Michel Legrand, dem jüngsten und kühlsten, in jeder Hinsicht ameri­ka­nischsten der drei, war Jarre der Roman­tiker, dem Gefühl und Atmo­sphäre wichtiger ist als Effekt, der seine Einfälle immer in einem Gesamt­zu­sam­men­hang wieder­keh­render Themen und Leit­mo­tive einordnet, und sympho­ni­scher denkt, als seine Kollegen, mehr wie ein klas­si­scher Komponist.
Geboren wurde Maurice-Alexis Jarre 1924 in Lyon, die prägenden Jahre als Schüler waren dominiert von Krieg, deutscher Besatzung, der Resis­tance und dem Terror Klaus Barbies. Die Musik wurde diesem von Grund auf bürger­li­chen Menschen zum Trost und Rück­zugs­punkt. Nach der Befreiung begann Jarre dann mit einem klas­si­schen Musik- und Kompo­si­ti­ons­stu­dium am renom­mierten Pariser Konser­va­to­rium. Danach schuf er zunächst Musik für Thea­ter­s­tücke, und lernte bereits hier, noch im Kontakt mit der klas­si­schen fran­zö­si­schen Bühnen­tra­di­tion, den Sinn für Spektakel, für unmit­tel­bare Effekte, und grad­li­nige Wirkungen aufs Publikum.
Mit Beginn der 1950er Jahre wandte Jarre sich dann der Filmmusik zu. Seine Welt­kar­riere begann aber erst zehn Jahre später, 1962 mit einem Film und der dazu­gehö­rigen Musik, die dem Publikum sofort neue musi­ka­li­sche Dimen­sionen öffnete, noch nie gesehene Bilder in noch nie gehörte Klan­gräume verwan­delte: Lawrence von Arabien. Das monu­men­ta­li­sche Haupt­thema dieses Films verbindet sich mit dem rausch­haften Farben­spiel einer Morgen­däm­me­rung über der Wüste und dem aufglühenden Himmel zum Eindruck einer geradezu über­mensch­li­chen Schick­sals­ge­walt. Aber zur pathe­tisch-elegi­schen Pracht und den kurzen Anklängen an Marsch­musik treten bei Jarre der Einfluss neuer ethni­scher Klänge, arabi­scher Instru­mente, Kitha­ra­zu­pfer, und afri­ka­ni­scher Trommeln. Schließ­lich setzte Jarre, der die ganze Musik zu Lawrence von Arabien in nur sechs Wochen kompo­nierte, hier auch als einer der ersten Kompo­nisten die Klänge elek­tro­ni­scher Synthe­sizer ein – zehn Jahre später kam kein Film mehr ohne diese neue Mode aus. Schon bei diesem Film erwies der Regisseur David Lean Maurice Jarre die Ehre, zur Ouvertüre völlig auf Bilder zu verzichten, und das Publikum so ganz auf die Musik des Kompo­nisten zu konzen­trieren.
Mit diesem Film begann nicht nur Jarres inter­na­tio­nale Karriere, sondern auch eine konstante und gegen­seitig überaus befruch­tende Zusam­men­ar­beit mit dem distin­gu­ierten Briten David Lean. Auf Lawrence von Arabien... folgte Schiwago, auf Schiwago Ryans Tochter und auf diesen 1984 A Passage to India, für den Jarre seinen dritten und letzten Oscar für die »Beste Filmmusik« erhielt.
Mehr als 160 Film­mu­siken hat Jarre kompo­niert. Dabei waren seine Partner selbst in Hollywood fast immer Regis­seure, die mit ihm die bürger­liche europäi­sche Herkunft teilten: Wie Alfred Hitchcock, für dessen fiebrigen Kalten-Kriegs-Thriller Topaz er arbeitete, wie Elia Kazan, Luchino Visconti und John Huston, oder auch für Volker Schlön­dorff, für dessen später Oscar-prämierte Grass-Verfil­mung Die Blech­trommel er kompo­nierte. Er hat viele Preise gewonnen, den letzten erst im Februar in Berlin, wo er bei der Berlinale einen Goldenen Bären für sein Lebens­werk erhielt. Jarre hatte drei Kinder aus vier Ehen. Das Berühm­teste von ihnen ist sein Sohn Jean Michel Jarre, der seit den 70ern durch seine Synthe­si­zer­musik bekannt wurde.
Sein Leben verbracht hat Jarre vor allem in der Schweiz. Aber gestorben ist er jetzt auf der Reise, ausge­rechnet in Los Angeles, der Haupt­stadt des ameri­ka­ni­schen Kinos.

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Gerade mal gut 7000 Zuschauer gingen, nachdem, was man so hört, am ersten Wochen­ende in den Film Deutsch­land 09. Bei 40 Kopien! Das ist natürlich ein trauriges Ergebnis, zumal der Film unge­achtet schlechter Kritiken beim normalen Berlinale-Publikum gut ange­kommen war. Auch wenn es in diesem Fall zwei­fellos eine Mitschuld durch über­durch­schnitt­lich schlechte Pres­se­ar­beit und unver­s­tänd­liche Entschei­dungen des Verleihs gab (allein das Plakat!), ist dieses Ergebnis doch auch ein Indiz für die desas­tröse Lage, in der sich die Film­kultur in Deutsch­land überhaupt befindet. Vor einigen Jahren noch wäre so ein Film, egal was man über seine Qualität denken mag, zumindest Gesprächs­stoff gewesen. Er wäre ein Anlass auch fürs breite Publikum gewesen, über den Zustand des deutschen Films, den Stand der Dinge zu disku­tieren. Viel­leicht auch über Politik. Heute reagiert das breite Publikum nur noch mit Ignoranz. Und, schlimmer noch: Die Film­kritik ist kaum besser. Man kann ja mal die Kritiken zur Berlinale nachlesen. Und auf das über­prüfen, was man früher »Relevanz« genannt hätte.

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Mitschuld hat natürlich die allge­meine Infi­zie­rung des Jour­na­lismus durch PR, also das, was man heute »Pres­se­ar­beit« nennt. Auch Jour­na­listen sind heute oft Pres­se­ar­beiter, die einer Zeitung etwas »verkaufen« wollen, die bei Redak­ti­ons­kon­fe­renzen ihr Thema verkaufen. Wie aber soll man etwas verkaufen, das im Unter­titel »13 kurze Filme zur Lage der Nation« heißt.

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Worum es wirklich geht, das illus­triert auch eine Einladung, die uns heute erreichte. Kein April­scherz: Betreff: Erin­ne­rung – Premiere von Winne Toons – DIE LEGENDE VOM SCHATZ IM SILBERSEE am Sonntag, den 05. April 2009 um 14.00 Uhr ins CinemaxX Dammtor in Hamburg. »An diesem Tag hält der Wilde Westen Einzug in den kühlen Norden und verwan­delt das CinemaxX Dammtor in ein wahres Kinder­aben­teuer inkl. Gold­wa­schen, Lasso­werfen und Kinder­schminken!«

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»Logik spielt hier keine Rolle. Aber warum auch? Es geht um Spaß und Kurzweil.« schreibt einer in einer Kritik bei BR-Online.
Warum auch? Ok, also hier die Antwort: Weil es im Kino nicht immer nur um Spaß und Kurzweil geht. Und wenn Logik keine Rolle spielt, macht es irgend­wann keinen Spaß mehr und ist nicht kurz­weilig, weil man sich dann für blöd verkauft vorkommt.

Rüdiger Suchsland

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.