18.05.2009
62. Filmfestspiele Cannes 2009

Lars von Trier, der Hexer oder: Die Perver­sion

Antichrist
Gequälte Frau – Charlotte Gainsbourg in Antichrist
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / 24 Bilder Film GmbH)

Desperate Housewifes: Charlotte Gainsbourg, Sophie Marceau und Monica Bellucci und ein russischer Zar

Von Rüdiger Suchsland

Blut und Sex nahe an der Porno­gra­phie hatte er schon im Vorfeld angekün­digt – ob das nun als Drohung gemeint war, oder als Verspre­chen, so sicher kann man sich bei diesem Mann eigent­lich nie sein. Schon immer war er gut gewesen für Provo­ka­tionen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister nun verlauten, würde er seine eigene Seele entblößen, so tief wie nie, könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken. Kurz: Lars von Trier hat einen neuen Film gemacht.

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»Das ist ein kranker Mann. Der braucht eine Therapie.« Dieses Urteil einer bekannten inter­na­tio­nalen Film­kri­ti­kerin war keine Einzel­mei­nung am Sonn­tag­abend, unmit­telbar nach der Premiere des Films Anti­christ im Wett­be­werb der Film­fest­spiele von Cannes. Scho­ckiert, mit bleichen Gesich­tern, manche grinsend, andere kopf­schüt­telnd, viele nach­denk­lich und ungewohnt schweigsam, taumelten die viel gewohnten inter­na­tio­nalen Kritiker aus dem Kino. Erschüt­tert. Zuvor hatte sich lautes »Buh« und Beifalls­klat­schen in etwa die Waage gehalten, und man hatte einen Film gesehen, wie man ihn auch auf einem Film­fes­tival nicht oft zu sehen bekommt, einen Film, der unmit­telbar zu »dem« Aufreger des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs wurde, und von dem man sich noch in Jahren erzählen wird. Für derartige Provo­ka­tionen auf höchstem Niveau ist von Trier immer gut, und wer Anti­christ gesehen hatte, konnte auch sämtliche Zuschauer-Reak­tionen irgendwie nach­voll­ziehen.

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Gequälte Frauen. Irgendwie geht es mal wieder darum, nicht nur in Anti­christ. In Park Chan-wooks Thirst wird eine zum Vampir, muss dafür erstmal sterben, dann wieder­auf­er­stehen, um dann am Ende noch einmal zu sterben, nun aber den Vampirtod in der Morgen­sonne. Eine andere erleidet einen Schlag­an­fall, um dann zwangs­ge­füt­tert zu werden. In diesem Fall könnte man noch sagen: Den Männern geht es letztlich nicht besser. In Marina van Dans Neo-Noir-Horror Ne te retourne pas ist es schon anders. Da wird die Haut gemorphed und das Fleisch geknetet, bis einem selbst der Arm wehtut – als ob eine Schlange im Körper der Damen Sophie Marceau und Monica Bellucci ihr Wesen triebe. In Brillante Mendozas Kinatay geht es schon wesent­lich härter zur Sache: Hier wird eine Frau geschlagen, verge­wal­tigt, schließ­lich geköpft. Den Gipfel von allem erreichte aller­dings wieder einmal Lars von Trier.

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Es beginnt alles wunder­schön: Prolog. Händels berühmte Arie Lascia ch'io pianga aus der Oper Rinaldo ertönt: »Leave me to weep over my cruel fate And leave me to long for liberty. May sorrow break the bonds of my anguish, if only for pity’s sake...«. Das Bild ist Schwarz­weiß, klar und kräftig, tausend Mal besser aussehend, als in Coppola Tetro vor ein paar Tagen. In Zeitlupe sieht man Close-Ups von einem Paar beim Sex unter der Dusche, ein paar porno­gra­phi­sche Nahauf­nahmen inbe­griffen, dazu eine Wasch­ma­schine, die läuft, Spielzeug, ein Kinder­zimmer... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: »Pain«, »Grief«, »Dispair« heißen sie, ein Glas stüzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich die Kata­strophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als Sünden­fall.
Ohne Frage: Lars von Trier macht das gut. Zugleich es ist ungemein präten­tiös: Der Teddy, der Zeitlupe in den Schnee fällt... Die bezau­bernde Kirchen­musik dazu... Die Wasch­ma­schine, die läuft?

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Auf die Vorwäsche folgt sozusagen der Haupt­wasch­gang: In der strengen Struktur von vier Akten, plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verloren hat, und das sich in einem Teufels­kreis aus Trauer, Schuld­vor­würfen und Wahn verstrickt. Das zumindest glaubt der Zuschauer vor der letzten halben Stunde. Denn da wandelt sich das zähe Bezie­hungs­drama, das die Selbst­zer­flei­schung des Paares (intensiv gespielt von Charlotte Gains­bourg und Willem Dafoe) zeigt, von miss­glückter Therapie und einer Wanderung in einen symbolü­ber­frach­teten Wald erzählt, in einen Horror­film mit Splat­ter­ele­menten. Schon zuvor hatte man expli­ziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejaku­lieren, einen Bohrer das Bein des Mannes durch­bohren, worauf durchs die Wunde ein Stahl­stift getrieben und daran ein Mühlstein fest­ge­bunden wird. ebenfalls ohne Narkose schneidet sich die Frau mit einer Schere die Klitoris ab – und dies sind nur die Grau­sam­keits­höhe­punkte des Films. Der Hinter­grund des Ganzen: Die Frau und Mutter stellt sich als Hexe heraus, der Tod des Kindes als Frucht reli­giösen Wahns – und wie im klas­si­schen Horror­film kämpft der Mann, als er endlich erkannt hat, was Sache ist, ums Überleben...

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Der Film wie gesagt ist in gewissem Sinn eine erschüt­ternde Erfahrung. Eine erschöp­fende auch. Denn nach dem schönen Anfang und vor der letzten halben Stunde, wo der Film plötzlich anzieht, ist es erst einmal auch ziemlich zäh und lang­weilig. Der Film geht einem einfach auf die Nerven. Im Rückblick kann man sagen: Absicht. Von Trier will uns einlullen, und uns vorbe­reiten auf die Aufgaben, die noch kommen. Man kann aber auch sagen: Der Film hat keine Ökonomie.
In jedem Fall ist er gepflas­tert mit Zeichen in gerade barocker Fülle und Plas­ti­zität. Ein Fall fürs Dechif­frier­syn­dikat: Man sieht spre­chende Füchse, erschla­gene Vögel, ein Reh mit der Totgeburt aus dem Bauch heraus­hän­gend, eine Hütte im Wald, die Eden heißt, Goya-Bilder anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester, einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft. Den Kern von alldem verrät dann aber mit sonder­barer Offenheit bereits der Trailer zum Film. Aber auf die Frage, warum er diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich vorerst: Ist Lars von Trier ein Frau­en­feind oder doch ein heim­li­cher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Oder einfach nur wahn­sinnig?

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Denn irgendwie ist das natürlich auch ein Riesen-Scheiß. Egozen­trisch, arrogant, manie­riert. Vergleicht man Anti­christ mit Kinatay, dann muss man zugeben, dass Mendoza etwas riskiert, während Lars von Trier imme auf der sicheren Seite bleibt. Er kann sich so einen Film erlauben. Er erzählt eine einfache Geschichte,

Einmal mehr entpuppt sich von Trier jeden­falls als Kino-Hexer, der sein Publikum verzau­bert und dabei in Rage versetzt. Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: Das Ausreizen mensch­li­cher Extreme und die Konfron­ta­tion mit ihnen. Und die aller­inter­es­san­teste Erfahrung an diesem Tag 1 nach der Anti­christ-Premiere ist nun die Unsi­cher­heit der aller­meisten darüber, was man vom Anti­christ zu halten hat. Viele hassen diesen Film und schätzen zugleich doch seine Qualität. Wenn Kunst das leistet, ist sie noch nicht verloren. Und Lars von Trier braucht keine Therapie; er hat sie längst. Seine Therapie ist das Kino.

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Düstere Blicke, lange Bärte, nicht ein Funken Humor – Tsar von Pavel Lungin ist genau so, wie man sich, in seinen schlimmsten Befürch­tungen, einen russi­schen Kostüm-Film vorstellt. Man sieht eine Welt aus Schnee und Dreck, Menschen mit Pelz­mützen und reli­giösen Visionen, arme Bauern und weise Priester. Und selbst der Mann an der Spitze des Staates friert und hat längst statt Zähnen schwarze Stümpfe im Mund.

Der Zar, um den es hier geht, ist Iwan der Schreck­liche (1530-1584). Ein Thema mit Tradition, schließ­lich verfilmte schon Sergej Eisen­stein das Leben dieses Zaren, seiner­zeit im Auftrag Stalins, als Nation-Building-Epos um die Sowjet­union propa­gan­dis­tisch in die Konti­nuität einer tausend­jäh­rigen russi­schen Natio­nal­ge­schichte zu inte­grieren, und unaus­ge­spro­chene Paral­lelen zu ziehen, zwischen dem Gene­ral­se­kretär des ZK der KPdSU und dem selbst­er­nannten »neuen Caesar«, als Vertei­diger des Reiches gegen auslän­di­sche Invasoren. Aber ansonsten gibt es nur wenige Bücher über diesen Zaren, als ob dieser Teil der russi­schen Geschichte bis heute ein Tabu sei.

Lungin erzählt Iwans Leben nun als die Geschichte eines reli­giösen Wahns und der Kirchen­macht. Über einen Herrscher, der Sendungs­be­wusst­sein mit Angst verbindet, und der Über­zeu­gung, die Apoka­lypse stehe unmit­telbar bevor. Iwan sieht um sich herum nur Hölle – doch dann rettet die Kirche den Zar. »Wenn Du Gutes tust, ist Dein Wille auch der Wille Gottes« sagt ihm der Metro­polit der ortho­doxen Kirche.

»Die poli­ti­sche Kultur Russlands ist bis heute durch den Zwiespalt zwischen Fana­tismus und Gottes­furcht dominiert.« kommen­tiert der Regisseur. Formal wirkt Lungins Film zwar wie durch­schnitt­li­ches 70er-Jahre-Fernsehen, inhalt­lich ist es eine versteckte Verherr­li­chung der ortho­doxen Kirche – »der Metro­polit Philip opferte sein Leben, um andere zu retten. Er ist bis heute mit uns!« – und eine offene Allegorie auf das russische Reich des 21. Jahr­hun­derts, auf die Auto­kra­ten­herr­schaft des Vladimir Putin: »Macht wird in Russland immer als gött­li­ches Recht aufge­fasst«, so Lungin, »Macht, die nicht absolut ist, ist keine. Die Person an der Spitze reprä­sen­tiert Gott auf Erden. Jeder, der ihn nicht anbetet, muss bestraft werden.«

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Im nächsten Film ist der nackte Rücken von Sophie Marceau das erste, was man sieht. Sie steht allein vor dem Spiegel, daneben an der Wand hängen Bilder aus früheren Zeiten. Wer die Karriere von Sophie Marceau verfolgt hat, der kennt ein paar davon. Und darum ist dieser Film, auch wenn Sophie Marceau hier Jeanne heißt, auch und nicht zuletzt ein Medi­ta­tion über diese Schau­spie­lerin, über ihre öffent­liche Persona, ihre Wirkung und Schönheit, über ihre Insze­nie­rung. Man sieht ihr zu, wie sie sich fertig macht, wie sie sich abschminkt, wie sie sich betrachtet. Es ist Nacht, gleich wird sie zu Bett gehen. Einmal ganz kurz sieht man sie, wie sie ihre Falten unter den Augen mit einem Foto von früher vergleicht.

Zunächst scheint der Film eine nicht mehr ganz junge Frau in ihrem Alltag zu begleiten. Wir erfahren: Sie ist erfolg­reiche Jour­na­listin. Jetzt hat sie einen Roman begonnen, der auf auto­bio­gra­phi­schem Material beruht. Ihr Vater, der Verleger ist, will ihr den Plan ausreden. Zu detail­liert sei das Buch, sie finde keine Form. Wir erfahren: Jeanne hat keine Erin­ne­rung an die Zeit, bevor sie acht Jahre alt war. Nun will sie ihre »Kindheit wieder­finden«. Zuvor sah man sie in einem Zimmer des Verlags Hachette sitzen. Über sich Foto­gra­fien einiger der wich­tigsten fran­zö­si­schen Geis­tes­größen: Sartre, Baude­laire, Foucault, Yourcenar, Rinbaud. Alles Autoren die in ihrem Werk die Zersplit­te­rung des modernen Ichs in den Blick nahmen, und versuchten, diese Splitter auf ihre je eigene Weise wieder zusammen zu setzen. Kurz darauf sieht man wie zufällig Film­pla­kate von Casablanca und Inland Empire, kleine klare Verweise auf die filmische Land­schaft des Noir und Neo-Noir, in der dieser Film zuhause ist.

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Das Ich ist eine Andere: Was dann in den folgenden Minuten passiert, ist merk­würdig: Erste Irri­ta­tionen nehmen schnell zu, Jeanne hat das Gefühl, die Möbel in der Wohnung sind anders gestellt, sie erkennt Unordnung, wo zuvor keine war, Dinge scheinen spie­gel­ver­kehrt, und ihr Mann und ihre Kinder scheinen Unbe­kannten Zeichen zu geben. Erst bleibt es noch in der Schwebe, dann geht der Film mit schnellen Schritten voran: Jeanne wird eine andere. Eine andere Frau kriecht unter ihre Haut. Und die Erfahrung des Zuschauers ist noch irri­tie­render: Denn er sieht, wie aus Sophie Marceau Monica Bellucci wird, wie beide Star­schau­spie­le­rinnen mitein­ander verschmelzen – technisch elegant gelöst mit bekannten Morphing-Verfahren, aber als Spiel mit Unver­wech­sel­bar­keit und Austausch­bar­keit der Star-Image eine so ironische wie aufre­gende Erfahrung.

Ne te retourne pas heißt der neue Film der Französin Marina van Dan, der jetzt in Cannes in der Sektion »Un certain regard« gezeigt wurde. Der neue Film dieser Beob­ach­terin spezi­fisch weib­li­cher Gren­z­er­fah­rungen (Dans ma peau) handelt von Ich-Verlust, vom Gefühl plötzlich ein Fremder zu sein, überall nur Verän­de­rung zu sehen. Die Wissen­schaft hat dafür Begriffe, das Gefühl ist das des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Das Geheimnis des Gesche­hens, das erwartbar in der Kindheit von Jeanne liegt, in den natürlich nicht grundlos verges­senen, sondern verdrängten ersten acht Jahren, wird am Ende enthüllt. Aber im Gedächtnis bleibt Ne te retourne pas weniger als solider und stil­si­cherer Neo-Noir in altmo­di­schen 70er-Jahre-Atmo­sphären, den man eines Tages zumindest auf DVD wird in Deutsch­land sehen können. Sondern als ein Horror­film, bei dem wie zum Trost die Kamera immer wieder minu­ten­lang auf dem schönen Gesicht von Sophie Marceau ruht.