04.09.2008
65. Filmfestspiele von Venedig 2008

Emmanuelle Béart, Göttin des Urwalds

Vinyan
Im Land der roten Menschen: Vinyan
(Foto: Koch Media)

Die Rettung der Welt, das Land der roten Menschen, traurige Tropen, Frauenqualen, Krokodile im Pool und Ethnologen stellen dumme Fragen...

Von Rüdiger Suchsland

»Was können wir tun, um die Welt zu retten?« Natürlich ist das pathe­tisch formu­liert, und natürlich diese Frage irgendwie unzeit­gemäß in einer Epoche, die Kultur mit Enter­tain­ment gleich­setzt/verwech­selt, und sich schon gestört fühlt, wenn ein Film den Zuschauer einmal nicht mit einem trös­tenden Happy End und dem Verspre­chen alles Unan­ge­nehme schnell vergessen zu können, aus dem Kino verab­schiedet. Dabei sollte es doch um genau das gehen, in der Kunst: Die Rettung der Welt.

Dabei sollte es doch um genau das gehen in der Kunst: Die Rettung der Welt. Wo, wenn nicht wenigs­tens noch bei einem Kunst­fes­tival wie den Film­fest­spielen von Venedig. Dort lief der Kurzfilm Do visivel ao invisivel des Portu­giesen Manoel de Oliveira, der dieses Jahr 100 wird, und damit der älteste, aktive Regisseur der Welt ist. Der Satz ist der letzte des Films, ein schöner Satz, wenn es denn der Abschieds­satz von Oliveira werden sollte, aber auch ein wunder­bares heim­li­ches Festi­val­motto für eine Mostra, die ihren Weg an den ersten Tagen noch nicht gefunden hatte, noch kaum einen Film gezeigt hatte, der alle fesselte, der Debatten auslöste, sich in die Gedanken der Besucher einschlich oder faszi­nierte. Venedig 2008, das ist bisher ein etwas müdes Dahin­plät­schern, geprägt von latenter Enttäu­schung und vager Hoffnung, es könnte besser werden.

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Um die Welt zu retten, müssen, folgt man den Wett­be­werbs­filmen der ersten Tage, offenbar die Frauen leiden. Selten sah man in so wenigen Filmen so viele in unter­schied­lichster Weise verwun­dete Frauen: Verbrannt, verge­wal­tigt, verlassen, gekauft, gefoltert, betrogen. Schon mit der von Nina Hoss gespielten Ehefrau in Christian Petzolds Jerichow ging es los, es folgten die beiden Haupt­fi­guren in The Burning Plain vom Mexikaner Guillermo Arriaga. Den kannte man bisher vor allem als Dreh­buch­autor der komplex aufge­bauten Ensemble-Filme Amores perros, 21 Gramms und Babel. Auch sein Regie­debüt ist ein in vier Erzähl- und Zeit­s­trängen komplex geknüpftes Melodram, in dessen Zentrum eine trau­ma­ti­sierte Frau steht, die von Schuld­ge­fühlen gegenüber ihrer Mutter, für deren Tod sie verant­wort­lich war und ihrer jungen, von ihr früh verlas­senen Tochter geplagt wird. Eine Medi­ta­tion über Gefühle, einer­seits sehr spannend und bild­kräftig insze­niert und in seinen Zeit- und Orts­sprüngen inter­es­sant verrät­selt, ande­rer­seits rutscht alles dann doch immer stärker in ranzige Hollywood-Senti­men­ta­li­täten und Moral­pre­digten ab. Und wenn man die Konstruk­tion der vier Erzäh­le­benen erst einmal durch­schaut hat, bleibt vom Rätsel nur das schale Gefühl, einem formalen Trick aufge­sessen zu sein. Was erzählt uns der Film Neues? Die Frage provo­ziert nur ein Achsel­zu­cken.
Und die Insze­nie­rung von Traumata hinter­läßt auch einen unguten Nach­ge­schmack: Kim Basinger mit einer wegope­rierten Brust und dicker roter Narbe statt­dessen, Charlize Theron die sich selbst Brand­wunden mit dem Feuerzeug zufügt und mit einem Stein das Fleisch der Schen­kel­in­nen­seiten aufritzt, Brand­ri­tuale zwischen Teenage-Lovern. Hm.
Unein­ge­schränkt eindrucks­voll ist der Auftritt von Charlize Theron (die den Film auch produ­zierte) in der Haupt­rolle – kein Holly­wood­star verbindet Zerbrech­lich­keit und Coolness so wie sie.

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Jerichow ist ein Meis­ter­werk, dem wir uns in einer der nächsten Venedig-Notizen einge­hender widmen. Die Italiener, das ist gleich zu merken, verstehen den Film nicht richtig.

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In Injou, la bete dans l’ombre erzählt der Franzose Barbet Schroeder ein Feti­schis­mus­drama in den etwas zu großen Fußstapfen von Hitchcock: Ein ziemlich arro­ganter fran­zö­si­scher Jungautor (Benoit Magimel) fährt nach Japan auf Lesereise. Dort will er auch einen von ihm bewun­derten, geheim­nis­vollen Schrift­steller treffen, den seit Jahren niemand mehr persön­lich gesehen hat. Bald hat sich der Autor verliebt – ausge­rechnet in eine Geisha, die zum Objekt allerlei expli­ziter und brutaler Fessel­spiele wird, zugleich wird er selbst von seinem Idol bedroht und findet sich immer mehr als Beute im Spin­nen­netz einer undurch­sich­tigen Verschwörung gefangen – ein Thriller für Japan-Fans, inter­es­sant und unbedingt sehens­wert ob vieler schöner Einfälle, aber doch zu unent­schieden zwischen seinen zahl­rei­chen Facetten, um völlig zu über­zeugen.

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Über den todlang­weilig insze­nierten fran­zö­si­schen Beitrag L’AUTRE – eine Frau wird zunehmend irr, als ihr Ex eine Neue hat –, sollte man ebenso gnädig schweigen, wie über Ferzan Özpeteks geschmacklos insze­niertes italie­ni­sches Depres­si­ons­drama: Un giorno perfetto, in dem eine Frau von ihrem Ex geschlagen und verge­wal­tigt wird, eine Tochter von ihrem Vater nieder­ge­schossen, weitere Schwie­ger­mütter, Gattinnen und Geliebte, bedroht, beschimpft oder sonstwie schlecht behandelt werden – ohne dass der Zuschauer am Ende wüsste, ob er Familie nun schreck­lich finden oder doch das Gefühl haben soll, Gefühle könnten auch in anderes münden, als in einen Gewaltakt.

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Beim Rausgehen aus L’autre (nach einer guten Stunde) treffe ich den alten Kollegen, den ich vom Sehen seit Jahren kenne. Folgender Dialog: »It’s boring, isn’t it« – »oh yeah, enough is enough.« – »Nothing will happen, Just at the end she will feel a bit better« – »Do you think so? But I won’t.«
Die Frage ist, was so ein Film überhaupt im Wettbeweb von Venedig zu suchen hat. In der Neben­reihe ok, in Wett­be­werben höchstens in Mannheim oder Karlovy Vari, hier aber nicht.

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Der einzige Film der letzten Tage, bei dem keine Frauen ernsthaft zu Schaden kamen, stammt aus China, spielt aller­dings in Brasilien: Plastic City (i.O.: Dangkou) spielt zwar in Brasilien stammt aller­dings von Hongkong-Regisseur Yu Lik-wai, der auch als Produzent und zuletzt besonders als Kame­ra­mann von Jia Zhang-ke bekannt wurde, der hier vor zwei Jahren mit Still Life den Goldenen Löwen gewann.

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In sattem Grüngelb geht es los, ein Mann ist auf der Flucht im Dschungel, und auf einmal steht vor ihm ein wunder­schöner großer weißer Tiger. Ein mythi­sches Bild mit dem dieser Film im Wett­be­werb von Venedig beginnt, der uns schnell in Brasi­liens brodelnde Mnegacity Sao Paulo führt; und dort ins Chine­sen­ghetto. Yu entfaltet ein faszi­nie­rend-flir­rendes Portrait der Metropole Sao Paulo und des Milieus der dortigen Chinesen – das noch nach Herkunft (die drei Chinas: VR China, Hongkong und Taiwan, der ältesten) und Einwan­de­rungs­ge­ne­ra­tion diffe­ren­ziert ist.
Hier gibt Yuda den Ton an, ein harter Mate­ria­list, der sein Geld mit Pira­ten­pro­dukten verdient – »our product is fake, but their cash is verdad.« –, der Politiker und Poli­zisten schmiert, und sich cleverer anstellt, als der Rest. Jetzt kommt »Senior Taiwan«, die von New York finan­zierte Konkur­renz mit ihren moder­neren Methoden; und alte und neue Ökonomie prallen unver­meid­lich hart aufein­ander. Ein kühler Mafiaplot, keines­wegs neu aber gut und straight, dabei mit viel Phantasie und vor faszi­nie­rendem Hinter­grund entfaltet. Selbst die Mord­dro­hungen haben hier ihr eigenes exoti­sches Flair: man wirft ein Krokodil in den Pool, und droht dessen Besitzer ihn hinter­her­zu­werfen – und das hübsche elegante Vieh vor blauem Grund im Schein­wer­fer­licht schwimmen zu sehen, das sieht zumindest im Kino sehr schön aus.

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Der eigent­liche Reiz von Yu’s Film liegt sowieso in dem bisher so noch nicht gesehenen Brasilien-Portrait: Yu findet Bilder dafür, das Mosaik der Stadt – von Tatoo-Studios bis zu Evan­ge­listen – zu zeigen, Sao Paulo als mythi­schen Ort aus Farben, Nacht und Neon zu zele­brieren; er badet in der Sexyness der Großstadt, in der Hitze der Nacht, im Party-Leben der Reichen und Schönen, ohne den ganzen Rest der Gesell­schaft, den Alltag Brasi­liens und das wirkliche Leben zu vergessen.

Korrup­tion und Opti­mismus als brasi­lia­ni­sches Lebens­ge­fühl sind auch ein absolutes Gegen­mo­dell zur kühl-lebens­s­atten Melan­cholie Hongkongs. »Die Brasi­lianer leben auf einem anderen Planeten« fasst Yu Lik-wai seine persön­liche Erfahrung zusammen. Man kann in diesem Film auch die prekäre Lage des China der Gegenwart entdecken, den vorweg­ge­nommen postolym­pi­schen Kater, der unwei­ger­lich in eine neue Iden­ti­täts­suche münden wird. »China und der chine­si­sche Film müssen sich neu erfinden. Aber dafür brauchen wir eine Alter­na­tive zu Amerika und seiner Hollywood-Kultur« sagt Yu Lik-wai. Ob er die in Brasilien, überhaupt Latein­ame­rika findet?

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Zumindest cine­as­tisch orien­tiert der Regisseur sich nach Europa, mehr noch als Rosi und Melville, den Spezia­listen des realis­tisch-schwarzen Gangs­ter­kinos, hin zum deutschen Expres­sio­nismus von Murnau und Lang und zu Langs sehr spezi­eller Neuer Sach­lich­keit.
Plastic City war diese Orien­tie­rung anzusehen, die erste Stunde des Groß­stadt­mär­chens war durch Bilder­kraft und poeti­schen Stilmix das Beste, was es in Venedig bisher zu sehen gab, und bot mit dem ergrei­fend melan­cho­li­schen Anthony Wong auch einen Anwärter auf den Schau­spiel­preis. In der zweiten Hälfte glitt dem Regisseur sein Film ein wenig aus der Hand, und man hat auch den sicheren Eindruck, dass der Film noch nicht fertig geschnitten war. Alles wirkte zeit­weilig wie ein LSD-Trip – wie dieser war der Film aber eine einmalige, sehr besondere Erfahrung.

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Am Montag sorgte Bird watchers – la terra degli uomini rosse der neue Film von Mario Bechis für die erste echte positive Über­ra­schung. Der Regisseur ist 1955 in Chile geboren, in Brasilien und Argen­ti­nien aufge­wachsen, lebt seit Ende der 70er Jahre in Italien, und da sein Vater auch noch aus Italien stammt, wurde er von der einhei­mi­schen Presse in Venedig bereits einge­meindet – obwohl seine Filme bisher zumeist in Latein­ame­rika gesiedelt sind und in ihnen Spanisch gespro­chen wird.

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Ein Boot fährt auf einem Fluss durch den brasi­lia­ni­schen Dschungel. In ihm sitzen Weiße, die italie­nisch sprechen, es wird viel foto­gra­fiert, was links und rechts am Ufer zu sehen ist. Offenbar Ethno­logen oder Touristen auf Bootstrip. Plötzlich sieht man auf der einen Flußseite eine Gruppe von Indios auftau­chen. Frauen und Kinder sind dabei. Die Indios tragen tradi­tio­nelle Tracht, nur ein Lenden­schurz bedeckt ihre Haut, die bunt und fremd­artig bemalt ist. Stumm und mit ausdrucks­losen Gesich­tern gucken sie auf das Boot und ihre Insassen, neugierig erregt gucken die anderen zurück: Die Begegnung zweier unver­ein­barer Welten, so scheint es. Bedrohung liegt in der Luft. Als das Boot sich allmäh­lich entfernt, schießen ihm die Indios ein paar Pfeile hinterher, die das Boot jedoch verfehlen.
Dann gehen die Indios in das Dickicht des Dschun­gels zurück, dazu setzt barocker Chor­ge­sang ein, etwas Weihe­volles, Heiliges gar sugge­rie­rend. Para­die­si­sche Ursprüng­lich­keit, die Unschuld der ersten Kultur­be­geg­nungen, und Filme von Werner Herzog kommen einem in den Sinn.
Doch plötzlich zieht sich der erste Indio ein T-Shirt über, die Waffen und Lenden­schürze werden abgelegt, ein Jeep wartet hinter dem Gebüsch, und eine Indiofrau erhält ein paar Geld­scheine in die Hand gedrückt: »Zu wenig!« konsta­tiert sie bitter. Die Ökonom ie ist immer präsent.

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Schon der Anfang ist listig, weil er unsere Erwar­tungen konter­ka­riert, mit den Kultur­kli­schees auch des sich aufge­klärt dünkenden Kino­zu­schauers bricht – nix da Ursprüng­lich­keit. Schon das darauf­fol­gende Bild zeigt ein Indiomäd­chen, das zu modernem Pop Tanz­schritte übt. Die Indios von heute haben Plas­tik­fo­lien über ihre Hütten gezogen, weil die besser vorm Regen schützen. Sie holen das Wasser vom Fluss mit modernen Kanistern, haben ein Mobil­te­lefon, und Depres­sionen, weil ihnen das Leben im Reservat keinerlei Perspek­tive bildet. Nicht wenige von ihnen hängen sich darum kurzer­hand im Dschungel auf.
Bird watchers – la terra degli uomini rosse erzählt nun von einer Indio­gruppe, die das Dorf verlässt, und auf ihr ursprüng­li­ches Land zurück­kehrt, dort wo die Vorfahren begraben liegen. Das gehört längst einem Groß­grund­be­sitzer, aber auf dem Gras­streifen zwischen Straße und Viehzaun können sie juris­tisch nicht vertrieben werden, und genau dort siedelt die Gruppe.

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Im folgenden passiert, immer wieder kapi­tel­weise geglie­dert durch den Barock­choral alles Mögliche: Ein Indio­junge, der Schamane werden soll, inter­es­siert sich für die Tochter des Grund­be­sit­zers, und sie sich für ihn, sie bringt ihm Motor­rad­fahren bei, und was man mit Mädchen sonst so machen kann, er staunt und guckt schwei­gend. Der Häuptling säuft, der Schamane erzählt, dass der Jaguar »unser Bruder ist«, beim Kaufmann in der Nähe lassen die Indios anschreiben, zum Arbeiten sind sie aber zu faul, und jagen lieber verirrte Kühe im Dschungel, und Ethno­logen stellen dumme Fragen.
Ohne Klischees in die philo- und teilweise auch anti-india­ni­sche Richtung kommt das nicht ganz aus. Man kann auch nicht sagen, dass die Indios hier sonder­lich idea­li­siert würden, wohl aber, dass die weißen Brasi­lianer umgekehrt wirklich nicht gut wegkommen.
Allmäh­lich eskaliert der Konflikt mit dem Grund­be­sitzer. Irgend­wann werden Insek­ti­zide auf der Siedlung verspritzt, es wird geschossen, und am Ende, das war aber von Anfang an klar, müssen die Indios weiter­ziehen. Inter­es­sant auch, dass hier gar keine Polizei oder andere Obrigkeit auftaucht.

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Der Film mischt ein modernes sozi­al­rea­lis­ti­sches Polit­drama, wie es auch von Ken Loach erzählt werden könnte, mit der Tradition der Land­nah­me­wes­tern, in denen Hollywood gern Vieh­hirten gegen Farmer, und weniger gern manchmal auch Weiße gegen Indianer streiten ließ.
Die Indios, mit denen Bechis gedreht hat, sind Guarani-Kaiowa-Indios, der gleiche Stamm, mit dem einst »The Mission« entstand, und mit dem auch schon Werner Herzog gear­beitet hat – in seinem Fall, das zeigt Herzog in seinen eigenen Doku­men­ta­tionen, mit mäßigem Erfolg: Sie flohen vor ihm immer in den Dschungel, er wiederum schrie sie an, drohte und verführte wech­sel­weise.
Bechis erzähle jetzt in Venedig, dass er die Indios anders vorbe­reitet hatte: »Ich zeigte ihnen zunächst Hitch­cocks The Birds (Die Vögel) und später Sergio Leones Once Upon A Time In The West (Spiel mir das Lied vom Tod) – jeweils dreimal hinter­ein­ander: Zuerst die Origi­nal­fas­sung, dann eine Version, bei der jede Szene von 2 Sekunden Schwarz­film unter­bro­chen war, und drittens eine Fassung ohne Ton.« So konnten sie verstehen, wie Film gemacht ist.
Das Ergebnis hat sich gelohnt: Mario Bechis bein­dru­ckender Film über Identität und Verrat sollte bei der Preis­ver­lei­hung am Wochen­ende nicht leer ausgehen.

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In der Spon­tan­re­ak­tion glauben viele, den Höhepunkt des Wett­be­werbs gesehen zu haben. Aber viel­leicht wird der Film jetzt ein bisschen über­schätzt, im Zusam­men­hang mit einem Wett­be­werb, der schwach ist, wie noch nie. Es gibt bei Bechis auch einen Hauch von Wovon die grünen ameisen träumen. Aber Wim wird’s gefallen.

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Ein wenig kommt man sich auf einem Film­fes­tival immer auch wie ein Ethno­logie vor: Andere Länder, andere Sitten und wenn einer eine Reise tut, kann er bekannt­lich viel erleben. Mit einer unserer Lieb­lings­fran­zö­sinnen, mit Emma­nu­elle Béart bzw. ihrem belgi­schen Regisseur Fabrice du Weltz sind wir beim Film­fes­tival von Venedig nun zum Beispiel nach Thailand gereist.

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Béart, die jetzt langsam in das Alter kommt, wo man den Begriff der Charak­ter­rolle etwas freier inter­pre­tiert, spielt in dem Film Vinyan eine in Thailand lebende Mutter, deren zwölf­jäh­riger Sohn beim großen Tsunami 2005 ums Leben kam. Jeanne glaubt daran, dass ihr Sohn noch lebt, es gibt Geschichten über Kinder, die in den Wirren der Kata­strophe gekid­napped wurden, und dann sieht sie das Video einer Ärztin, die Doku­men­tar­auf­nahmen von Natur­völ­kern in Burma gemacht hat. In einem der Jungen glaubt sie ihren Sohn zu erkennen.
Ihr Mann Paul ist skep­ti­scher. Eher um die Gattin zu beruhigen, und weil er glaubt, dass ihr Schmerz erst dann zu lindern ist, wenn sie über den Tod des Sohnes Gewiss­heit hat, lässt er sich darauf ein, die Burma-Spur zu verfolgen.
Jeanne verläßt sich auch auf die Hilfe von Schamanen. Vor präch­tiger Natur­ku­lisse und zu schönen Bildern einer gelb­lich­braunen Tropen­nacht beob­achtet der Film allerlei sonder­bare Hexereien, Zauber­ri­tuale und Drogen­trips und lauscht kruden Sätzen wie »Spirit becomes angry, becomes vanyang« – alles natürlich im Dienst der guten Sache.

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Immer weiter und tiefer geht es in den Dschungel, und immer abge­spa­ceder wird der Film. Allein Paul bleibt skeptisch, und das Ehepaar ähnelt – mit vertauschten Geschlech­ter­rollen – immer mehr Scully und Mulder aus »Akte X«: Er setzt auf Vernunft, sie glaubt an Geister und Stimmen aus dem Nimmer­land.
Dann setzt Dauer­regen ein, Dörfer sind verlassen, die einhei­mi­schen Führer, erwar­tungs­gemäß nur aufs Geld der Europäer aus, haben sich aus dem Staub gemacht, und das Paar wandert einfach weiter durch den Dschungel. Dann taucht aus dem Nichts eine Tempel­land­schaft im Urwald auf, bewohnt von zahl­rei­chen Einge­bo­renen-Jungen mit weiß bemalter Haut und in einem Alter kurz vor der Pubertät. Sie gucken ausdruckslos und stumm, oder sie lachen frech, jeden­falls ist alles latent bedroh­lich. Man wartet eigent­lich nur noch jeden Augen­blick darauf, dass Colonel Kurtz um die Ecke kommt. »The horror, the horror«...

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Viel verdankt Vinyan dem Horror- und Paranoia-Film der 70er. Paul muss natür­gemäß auch noch dran glauben, in einem eindrucks­vollen, »schönen« Bild sieht man ihn von dutzenden Einge­bo­renen-Jungen umringt im Regen auf dem matschigen Urwald­boden liegend, während die bösen Kinder ihm den Leib aufge­schlitzt haben, und seine Einge­weide heraus­ziehen und in alle Rich­tungen verteilen.
Emma­nu­elle Béart/Johanna hingegen verschmilzt mit der Natur. Im letzten Bild sieht man ihren nackten, mit Schlamm beschmierten Leib. Ein paar Kinder dürfen den Busen anfassen. Da waren nicht wenige im Kino neidisch.

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Die Natur­völker bleiben uns auch nach diesem Film ein Rätsel.

Rüdiger Suchsland