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27.02.2008
 
 
     
Berlinale 2008
"Du musst dich der Selbstkritik stellen!"

 
UNITED RED ARMY
 
 
 
 
 

Bevor der Film startet, tritt der 72-jährige Regisseur Wakamatsu Koji auf die Berlinale-Bühne und verkündet dem Publikum, wie sehr ihm dieser Film am Herzen liege, jahrelang habe er daran gearbeitet und jetzt endlich habe er sich getraut, es sei ihm ein echtes Bedürfnis… Alles was nun zu sehen sein wird, entspräche realen Tatsachen und sei als Dokumentation zu bewerten obgleich die meisten der Szenen nachgestellt sind.

Mit diesen Worten entlässt er das Publikum in einen etwa einstündigen Verschnitt von Archivmaterial aus den Zeiten der aufkeimenden Studentenrevolte an den japanischen Universitäten mit Spielszenen - die Zusammenfassung eines Jahrzehnts im Zeitraffer. Wir sehen bewaffnete Polizisten und vermummte Radikale aufeinander zustürmen, Gebäude explodieren, Menschenmassen rennen, das Ganze permanent unterlegt mit gefälligen Gitarrenriffs von Jim O´Rourke. Gezeigt werden Ereignisse und Fakten, die dem Entstehen der im Film portraitierten Splittergruppe der gewaltbereiten Linken der 60er-Jahre im ehemals faschistischen Japan vorangingen. Aus den Untertiteln erfahren wir bald: Die japanische RAF formiert und radikalisiert sich, es kommt zu ersten ernstzunehmenden Aktionen und Massenverhaftungen. Die RAF wird offiziell verboten. Ab da beginnt der zweistündige zweite Teil des Films.

In den studentischen Politbüros wird hart verhandelt, gestritten, große Reden werden geschwungen, Statements werden formuliert. Sehr viele hübsche Gesichter werden namentlich mit Altersangabe vorgestellt, wobei das Bild jeweils kurz zu einem Film-Still erstarrt. Es folgen Verhaftungen, Spaltungen der Gruppe, das Abtauchen in den Untergrund…

Eine sehr lange Episode erzählt von einem Camp des harten Kerns der RAF und der verbündeten RLF - zusammen nennen sie sich nun "United Red Army" - in den schneebedeckten Bergen, wo eine geheime militärische Ausbildung erfolgt und die Gruppe unter dem Druck dieser Extremsituation ein Zusammenleben mit einer überraschend brutalen Eigendynamik entwickelt. Der Begriff “Selbstkritik” fungiert als Totschlagargument im wahrsten Sinne des Wortes, er bezeichnet eine Strafe, die einzelnen Mitgliedern der Gruppe nach “Fehlverhalten” auferlegt wird. Es geht um brutalste Selbst- oder Fremdverstümmelung unter den Augen der gesamten Gruppe, meist mit Todesfolge. Mitglieder denunzieren sich untereinander, lassen sich gegenseitig beim leisesten Verdacht auf Zweifel an der großen Sache sterben. Je mehr die Schlinge um die Gruppe sich zu zieht, je näher sie vor dem Scheitern steht, desto mehr Mitglieder sterben an der “Selbstkritik”, desto willkürlicher gilt selbst ein Kuss als Fehlverhalten. Gruppendynamische Paranoia mit Todesfolge.

Im letzten Drittel des Films verschanzen sich die verbliebenen Mitglieder der Gruppe in einem Wohnhaus, werden dort bald von der Polizei umstellt und wir beobachten das etwas zu heroisch anmutende Ende der Erzählung. Harte Fassaden beginnen zwar ansatzweise zu bröckeln, dennoch hält die Gruppe eine bemerkenswerte Disziplin und ein irrational anmutender Glaube an ein wundergleiches Gelingen ihrer Mission immer noch aufrecht. Wie Tiere in einem Käfig verschanzen sich die fünf überaus attraktiven Rebellen und laden mit gekonntem Schwung ihre Waffen nach. Bis sie von den feindlichen staatlichen Organen gewaltsam aus ihrem Traum gerissen werden.

In einem quasi dokumentarischen Epilog fasst Wakamatsu Koji durch Archivbilder und Untertitel zusammen, was aus den Überlebenden der RAF wurde, wo sie untergetaucht oder verhaftet wurden. 2001 verliert sich die letzte Spur.

Das Bedürfnis, wenigstens einen der vielen Menschen hinter der Maske ihrer idealistischen Selbstaufgabe ein wenig genauer beobachten zu können, mit einer Figur ein wenig im Moment zu verharren, entsteht durchaus. Figuren werden vielversprechend und ausführlich “anerzählt”, aber dann nie wieder aufgegriffen, bis sie sich beinahe austauschbar verlieren in der unnachvollziehbaren Unregelmäßigkeit von harten Schnitten. Man springt solange ohne erkennbaren Rhythmus von Figur zu Figur, bis einen irgendwann ein Toter mehr oder weniger auch nicht mehr wirklich tangiert. Selbst der Rührfaktor, dass die Sterbenden alle erst Anfang zwanzig sind, nutzt sich mit der Zeit ab. Zuviele davon sieht man in Nahaufnahme sterben. In dem Moment jedoch, in dem man sich schon völlig abgestumpft fragt, wann denn endlich alle tot sind, blendet Wakamatsu wieder mahnend den ein oder anderen Namen mit Datum per Untertitel ein, und man bemüht sich wieder das Gesehene in Bezug auf historische Fakten ernstzunehmen.

Einzige Ausnahme und deswegen die stärkste Szene des Filmes: Eine hübsche junge Frau geht heimlich aus der Skihütte - Gefahr schwebt in der Luft, da mehr als klar ist, auf das was jetzt kommt folgt: die “Selbstkritik”. Ein hübscher junger Mann folgt ihr, sie gesteht ihm ihre Unsicherheit, ihre Zweifel gegenüber dem was sie hier machen. Der junge Mann hört ihr besorgt zu, küsst sie dann ganz plötzlich sehr impulsiv und leidenschaftlich, fast schon verzweifelt. Er will sie mit diesem Kuss zum Schweigen bringen, ihr die Angst nehmen, ihr Kraft geben, gleichzeitig hat er selber Todesangst. In dem Moment wirken die Figuren so wunderschön und zerbrechlich, man will ihnen in diesem Moment länger zusehen. Dann kommt ein harter Schnitt und in der nächsten Einstellung werden die beiden bereits knallhart von der Gruppe “selbstkritisiert”, man sieht schlimme, eitrige, ausgebeulte Wunden in den entstellten Gesichtern der eben noch Küssenden, kurz darauf sind sie tot. Datum, Alter und Namen werden eingeblendet.

Wakamatsu Koji versucht, ein Gesamtbild der Stimmung unter den Extremisten zu schaffen, wobei der Einzelne- ganz kommunistisch- in den Hintergrund gedrängt wird, ganz einfach nicht erzählenswert ist. Vielleicht liegt diese abgehackte Art zu erzählen an Wakamatsus persönlicher Verwurzelung mit der Geschichte der japanischen RAF, er kennt einige der von ihm Portraitierten nach eigenen Angaben persönlich. Vielleicht will er ihnen aus denselben persönlichen Gründen ganz bewusst nicht zu nahe treten, ihre menschliche Seite bewusst verdeckt lassen. Oder er möchte ihnen mit diesem Film in ihrem eigenen Interesse, nämlich dem der japanischen RAF, posthum ein politisches Gesamtdenkmal setzen.

Für Diskussionsstoff sorgt hier die berechtigte Frage, ob die Form der Darstellung einer verklärenden Heldensaga, einer im dokumentarischen Sinne äußerst fragwürdigen Mythologisierung der tatsächlichen Geschehnisse gleicht. Zu schön und sexy wirkt jeder der Darsteller, zu geschmackvoll und optimistisch illustrierend verhält sich die Musik, die unter die Bilder gelegt wurde. Vielleicht hätte ein wenig mehr Stille dem Film gut getan.

Bedenklich ist dem Zusammenhang die hier gezeigte Auslegung des Begriffs “Dokufiction”. Denn man kann den Film dokumentarisch weniger ernst nehmen als fiktional. Inszenierte Episoden mithilfe von Untertiteln zu realen Fakten zu erklären, sind nicht ausreichend für die Teilbezeichnung “doku”. Auf der anderen Seite bleibt es zu fiktiv, unter “echtes” Dokumaterial illustrierende Musik zu legen. Dem Film durch die Teilbezeichnung “Doku” eine historische Allgemeingültigkeit zu bescheinigen, erscheint demnach nicht angemessen. Aufrichtiger wäre es gewesen, den Film vor dem Hintergrund historisch relevanter Fakten trotzdem als ganz klar persönliches - und deswegen fiktives - Dokument des Regisseurs zu gestalten und dementsprechend zu kennzeichnen, ohne ihm dabei seine Wirkung absprechen zu wollen.

Denn trotz oder gerade wegen der eben genannten Unklarheiten lohnt es, sich mit diesem Film auseinanderzusetzen. Zu viele interessante Fragen werden aufgeworfen, zu viele vielschichtige Eindrücke verbleiben, über die man nicht umhin kommt, nachzudenken - und über die man prima streiten kann.

Lina Hauschild

 

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