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24.01.2007
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 16: Der Moraliker
     
 
 
 
 

Die meisten der an dieser Stelle bereits beschriebenen Arten lassen sich verhältnismäßig einfach bestimmen. Das sie auszeichnende Verhalten ist sowohl unverkennbar als auch (oft zum Leidwesen anderer) unüberseh- bzw. -hörbar, die Abgrenzung zu anderen Arten lässt sich meist klar treffen und manchmal geben schon Äußerlichkeiten Hinweise auf eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit.

Schwierig ist es dagegen, einen Moraliker zu erkennen, da er ein Meister der Tarnung und Täuschung ist, sein Erscheinungsbild vom 16jährigen Punk bis zur 75jährigen Seniorin reicht und seine Übereinstimmung mit anderen Arten kein Zufall, sondern perfide Methode ist.

Diese berechnende Scharade beginnt im Kino bereits bei der Werbung, wenn große Boulevard-Zeitungen ihre Wahrheitsliebe, Zigarettenhersteller ein Freiheitsversprechen oder Energiekonzerne ihr Umweltbewusstsein geschäftsträchtig hervorheben.
Sarkastisch bis verächtlich kommentiert der Moraliker solche Oxymora und ähnelt dabei Arten wie dem Bildungsbürger, der ebenfalls über so viel Profanität die Nase rümpft.

Während des eigentlichen Films (mit 95%iger Wahrscheinlichkeit ein Spielfilm mit politischem Hintergrund oder eine kritische Dokumentation; für den Moraliker ist es dabei unerheblich, ob das Gezeigte real oder fiktiv ist) fällt der Moraliker durch sparsame, aber gut hörbare Anmerkungen auf.

Und wieder sucht er die Nähe zu anderen Arten, wenn etwa die Aussagen eines unsympathischen Konzernbosses ironisiert werden (vgl. der Komiker), wenn angesichts himmelschreiender Ungerechtigkeiten oder politischer Gewalt die Bösewichte mit einem spontanen "Solche Schweine!" belegt werden (vgl. die Empathische) oder wenn das Verhalten bestimmter Personengruppen (Politiker, Wissenschaftler, Manager) grundsätzlich als "Verlogen" oder "Mist" abgetan wird (vgl. der Kommentator).

Tatsächlich aber ist keine dieser Äußerungen ein spontaner Ausbruch emotioneller Betroffenheit, geht es hier nicht um den Versuch eines Witzes oder den Ausdruck eines unangenehm gestörten ästhetischen Empfindens. All dies täuscht der Moraliker (sehr glaubhaft) nur vor.
Ziel dieser Maskerade ist einzig und allein die Bestätigung seiner moralischen und (ausschließlich linken) politischen Ansichten gegenüber sich selbst und den anderen Kinogehern. Dass er dabei diesen verdeckten Umweg wählt und seine Meinung nicht direkt äußert, hat wohlgemerkt nichts mit Feigheit zu tun.

Er umgeht damit vielmehr das Problem, dass offenen politischen Bekenntnissen im Kino(publikum) entweder etwas Lächerliches anhaftet (die Aussage: "Die Nazis waren echt böse" ist inhaltlich zweifelsohne korrekt, lässt denjenigen, der sie äußert, trotzdem in keinem besonders geistreichen Licht dastehen) oder bei den Mitmenschen unangenehme Betroffenheit und daraus resultierend Ablehnung hervorrufen.

Da es dem Moraliker im Kino also nicht um (Film)Kunst sondern um Politik geht, entscheidet er sich ausschließlich für eine ganz spezielle Art von Spiel- und Dokumentarfilmen, die man vereinfachend als Moral-Pornos bezeichnen kann.
Diese gleichen einem klassischen Porno in der Unterordnung von Ästhetik, Narration, Logik und Realismus unter ihren einzigen Zweck, der beim erotischen Porno die sexuelle und hier die moralische Erregung des Zuschauers ist.

Wenn sich der Moraliker durch einen solchen Film seine Meinung zum Welthandel, Diktaturen, Politik oder Kapitalismus hat bestätigen lassen, muss er seine derart beglaubigten Ansichten in der oben beschriebenen Weise kenntlich machen.
Dass er seine moralische Erregung nicht im Stillen für sich ausleben kann, dass also der Film zwangsläufig (und vom ihm gewünscht) zu einer körperlichen Reaktion führt, zeigt ebenfalls die Verwandtschaft des beschriebenen Filmgenres zum Porno.

Fühlt man sich durch die Kommentare des Moralikers gestört, sollte man sich entsprechende Gegenmaßnahmen vorab sehr gewissenhaft überlegen.
Wer einen Moraliker etwa während eines Films über das "Dritte Reich" freundlich bittet, seine Ansichten etwas leiser zu äußern (oder gar für sich zu behalten), muss damit rechnen, dass ihm entgegengehalten wird, dass genau solche opportunistisch, spießig, feige Haltung, wie man sie hier gerade an den Tag lege, direkt zu dem auf der Leinwand gezeigten totalitären Regime führe.

Dem Moraliker die Lächerlichkeit, Dreistigkeit und Unsinnigkeit solcher aberwitzigen Vorwürfe aufzeigen zu wollen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Trösten kann man sich in diesem Fall mit der Gewissheit, den Moraliker unzweifelhaft bestimmt zu haben.
So sehr er sich auch die Eigenheiten anderer Arten aneignet, bleibt der Faschismusvorwurf gegenüber unbedarften Filmfreunden doch seine alleinige Domäne.

Michael Haberlander

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