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18.09.2008
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 17: Der Hochkulturist
     
 
 
 
 

Während die bisher hier beschriebenen Arten das Kino als natürliches Habitat betrachten, ist es für die folgende Spezies eine fremde, wenn nicht gar feindliche Umgebung.
Darin unterscheidet sich der Hochkulturist auch vom Bildungsbürger, mit dem er fälschlicherweise oft verwechselt wird. Zur entsprechenden Abgrenzung sollte man nicht auf Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Auftreten achten (hier gibt es tatsächlich Ähnlichkeiten), sondern auf die grundsätzliche Haltung gegenüber der Filmkunst bzw. der Institution Kino.

Der Bildungsbürger fühlt sich im Kino wohl, betrachtet dieses als typischen Lebensraum und zählt den Film zu einem der Aspekte, die seine namensgebende Bildung ausmachen. Der Hochkulturist dagegen misstraut im besten Fall dem Kino, üblicherweise hat er aber dafür nur Verachtung. Seine Liste der echten Künste endet bei Nummer sechs. Den Film als siebte Kunst zu akzeptieren, erscheint ihm ähnlich absurd, wie ein elftes Gebot oder ein achtes Weltwunder anzuerkennen.

Warum aber begibt sich der Hochkulturist dann überhaupt in die Niederungen des Films, warum steigt er wie Orpheus hinab in die Unterwelt aus bunten Bildern und hektischem Spektakel?
In dem Maß, in dem der Hochkulturist das Kino verachtet, schätzt er die anderen, die wahren Künste, für die er auch bereit ist, persönliche Opfer zu bringen. So reist er um die halbe Welt, um ein bestimmtes Bild zu sehen, reißt große Löcher in seine Finanzen, um kostbare Erstausgaben zu kaufen oder sitzt vier bis sechs Stunden auf unvorstellbar unbequemen Stühlen, um ausschweifenden Opern- und Theateraufführungen zu folgen.
In seinem Streben nach dem Höheren darf man eben nicht zimperlich sein, darum hat Faust einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und geht der Hochkulturist von Zeit zu Zeit ins Kino.

Notwendig wird dies immer dann, wenn er aus dem Feuilleton erfahren muss, dass im Kino ein Film läuft, der z. B. auf Motiven von Schuberts "Winterreise" beruht, oder der das Leben von El Greco behandelt und dabei dessen Ästhetik folgt, oder der die "Strudlhofstiege" von Heimito von Doderer umsetzt, oder der sich dokumentarisch mit dem Schaffen von Robert Wilson beschäftigt.

Wenn er sich dann in die bizarre Welt der bewegten Bilder aufmacht, ist der Hochkulturist meist sehr einfach zu erkennen. Sowie er durch die Tür eines Kinos tritt, umfängt ihn eine Aura aus Unsicherheit, Befremden, Empörung und Abscheu. Diese ganz eigene Mischung lässt ihn sowohl beim Kauf der Eintrittskarte als auch bei der Konfrontation mit der Snack-Bar sowie beim Aussuchen und Belegen des Sitzplatzes aus den anderen Kinobesuchern hervorstechen. Man merkt, dass ihm die Eigenheiten und Rituale des Kinogehens nicht vertraut sind; er sich im Grunde auch nicht damit vertraut machen will.

So erscheint ihm auch die Werbung vor dem Film, die der normale Kinogeher als unvermeidliches Übel gelassen hinnimmt, als persönlicher Affront. Schließlich ist er hier her gekommen und hat teueres Geld gezahlt, um Kunst zu sehen und nicht, um sich mit plärrenden Obszönitäten über Speiseeis, Erfrischungsgetränke oder Schundjournalismus behelligen zu lassen.
Ähnlich angewidert ist er von den hektischen Trailern von kommenden Filmen, die seine Meinung zur Oberflächlichkeit des Mediums Film aufs Beste zu bestätigen scheinen.

Sein Befremden hält an, wenn nach Beginn des Hauptfilms immer noch Zuschauer eingelassen werden, manche bei der Vorführung essen und trinken oder sich unterhalten und besonders Dreiste sogar den Saal verlassen, um die Toilette aufzusuchen.

Als ob das nicht alles schon schlimm genug wäre, bietet auch der dargebotene Film (der ja der eigentlichen Grund war, weshalb der Hochkulturist das alles auf sich genommen hat) selten das, was er erwartet hat.
Zu frei, zu unverständlich, zu lästerlich, zu obszön, zu vulgär, zu profan wird da oft mit der geliebten Kunst umgesprungen. Keine noch so moderne Theaterinszenierung kommt an den Wahnsinn, der sich ihm im Kino bietet, auch nur annähernd heran.
Nein, so wie hier gezeigt, hat er sich etwa die Schlacht bei den Thermopylen wirklich nicht vorgestellt.

Üblicherweise leidet der Hochkulturist leise vor sich hin (seine Disziplin und Selbstbeherrschung wurde in den großen Opernhäusern, Museen und Lesesälen dieser Welt geschult), nur wenn der Anmaßungen zu viele sind, wenn er erkennen muss, dass dieser verfluchte Film darauf besteht, eine originäre Ausdrucksweise und Ästhetik zu haben, dann stößt er kurze aber apodiktische Kommentare zum Geschehen auf der Leinwand (oder im Kinosaal) hervor.

Oft hört man auch nur den an seine Begleitung gerichteten Imperativ "Wir gehen!", worauf er würdevoll, ohne für größere Störung zu sorgen, aufsteht und geht.
Manchmal, wenn die Tür des Kinosaals zu langsam zurück ins Schloss fällt, hallt dann von draußen, als letzter Nachweis seiner Existenz, ein knappes "Frechheit!" oder "Degoutant!" herein.

Michael Haberlander

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