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Berlinale 2004 26.02.2004
 
 

Genre-Überschreitung, Zerstörung und Verheißung

Bewegungen in den Filmen von "New Hollywood". Zur Wiederholung der Berlinale-Retrospektive der Deutschen Kinemathek im Filmmuseum München

Auf zu neuen Ufern
 
 
 
 

Am Anfang war der leere Raum. Sprachlosigkeit, Unsichtbarkeit. Leere Straßen, vereinsamte Tankstellen, öde Suburbs, Häuserschluchten. Schräge Blicke verstärken diesen Eindruck noch, von oben, von der Seite. Es sind die Orte des Western, der Familienidyllen, der Musicals aus Hollywood. Doch auf einmal wirken sie nicht mehr erhaben, monumental, wie vom Schöpfer seinem auserwählten Volk anvertraut, sondern gottverlassen. Dann kam die Bewegung.

Ein Blick hebt sich aus dem gelben Staub, kreist immer weiter in die Höhe, bis man irgendwann, ganz von oben, die Szenerie überblickt: Ein Auto, aus dieser Entfernung unendlich klein wirkend, fährt eine schnurgrade Straße entlang. Staub wird aufgewirbelt. Sonst ist nichts zu sehen. Doch dann entdeckt man am Bildrand zunächst weit entfernt, zuerst wenige, dann immer näher kommend, immer mehr andere Autos. Wie ein Bienenschwarm hat sich ein riesiger Fahrzeugkordon aus Polizei und Journalisten auf die Spur des Wagens mit seinen drei Insassen geheftet. Und sie wirbeln noch viel mehr Staub auf. In Steven Spielbergs erstem Spielfilm, THE SUGARLAND EXPRESS, einer tiefschürfend-genialen Seelenanalyse seiner Heimat, ist das Auto beides: Die Druckkammer, in der sich innere Konflikte, Ängste, Leidenschaften immer mehr aufladen, aus dem kein Entkommen ist, und der letzte Schutzraum gegen das Außen, ein Mittel zur Flucht aus Not und Zwang, aus der Welt und der Wirklichkeit. Vor allem aber ist es in Bewegung.

Wie in BONNIE AND CLYDE, wo das Gangsterpärchen seinen Traum von einer Freiheit jenseits der Ordnung naturgemäß auch nur in Bewegung - Ordnung ist statisch - ausleben kann, auf den Landstraßen zwischen Texas und Louisiana. Die Straße ist dabei genau der Ort auf der Grenze zwischen Natur und Zivilisation, einer Freiheit, die in diesen Filmen immer als das Andere, als anarchisch, asozial gedacht ist, die aus der Verzweiflung kommt, und das letzte ist, was jenseits der Verzweiflung immer noch möglich ist. Pessimismus und Freiheit (und oft genug Gewalt, als die äußerste Freiheit des Pessimismus) gehen in New Hollywood immer zusammen. Es hebt diesen Film, der ganz am Anfang der Bewegung steht, aber deutlich über viele spätere hinaus, dass er auf psychologische Motivationen seiner Figuren fast ganz verzichtet, dass er - wie die Figuren Godards fast zeitgleich in PIERROT LE FOU - ganz auf Posen setzt. Damit stellt er noch Psychologie und Moral unter Verdacht, und setzt gerade auf das, was nicht nur im konservativen Bürgertum, sondern auch unter dessen ungehörigen, insgeheim aber recht folgsamen Kindern der revoltierenden Linken, am misstrauischsten beäugt wird: der äußere Schein. (Erstaunlich etwa, wie borniert und schnoddrig doch viele Urteile im New Hollywood-Band der renommierten Hanser-Reihe 1976 ausfielen.) Das Auto ist dabei selbst eine Pose, es muss nicht nur schnell sein, sondern auch schön, ein Fetisch der Freiheit. Im Auto kann man, wie sich hier bald herausstellt, dann allerdings auch sterben - wie es Faye Dunaway später noch einmal geschehen wird, in Polanskis CHINATOWN, auch einem Stück New Hollywood Anarchie.

Dann kam EASY RIDER. Die Route ist fast die Gleiche wie die von Bonnie und Clyde, sie führt auch heraus aus der Stadt, nicht mehr nach Westen - denn die Frontier als Grenze zwischen Ordnung und Freiheit war da im US-Kino schon längst verschwunden -, sondern nach Süden, weg aus der Zivilisation. Vielleicht, weil die Hauptfiguren hier auf Motorrädern saßen, vielleicht, weil der Rausch der Straße manchmal nicht von dem der Drogen unterscheidbar war, wirkt alles hier noch klarer, noch eindeutiger bewegungsfixiert. Wohin es gehen soll, ist nicht so wichtig, entscheidend ist, dass nichts bleiben soll. Und das Motorrad als Mittel der Fortbewegung ist nur noch Geschoß und Beschleuniger, ohne den Schutz, aber auch ohne das Klaustrophobische des Autos. Reine Freiheit. Aber eine Freiheit, wie sie nur Menschen möglich ist, die nichts zu verlieren haben.

Bewegung in der Krise

Selten war das amerikanische Kino ähnlich in Bewegung, wie in den Jahren von "New Hollywood". Das Kino zwischen Vietnam, Watergate und Ronald Reagan ist ein klares Kino der Krise. Es ist geprägt vom Wandel einer Industrie, die sich ein gutes Jahrzehnt lang völlig umkrempelt, die am Rande des Zusammenbruchs auf all diejenigen setzt, die eigentlich ihre natürlichen Feinde sind, auf die Outsider unter den Regisseuren und Autoren, auf europäisch geprägte Filmemacher und Kameraleute, auf Stoffe, Figuren und Bilder, die nur ein paar Jahre früher noch nicht die Zensurschranken passiert hätten - und auch vom breiten Publikum kaum akzeptiert worden wären.

Die plötzliche unbeschränkte, bald aber wieder zunehmend begrenzte Freiheit spiegelt sich in den Geschichten und Charakteren den Filme, wie in ihrem Stil, in Einstellungen und Schnittfolgen, wie aber auch in der Wahl der Genres. Plötzlich entdeckte man die Straße als Fluchtweg wie als Raum der Befreiung. Ein Road-Movie nach dem anderen entstand: Terence Malicks wunderbarer BADLANDS, der eigentlich noch viel anarchischer ist, als BONNIE AND CLYDE, Monte Hellmanns TWO-LANE BLACKTROP, dann ALICE DOESN'T LIVE HERE ANYMORE von Scorsese. Gerade der frühe Spielberg entwickelt eine eigentümliche Vorliebe für das Genre: In seinem Kurzfilmdebüt AMBLIN' erlebt man noch einen romantischen Traum, der dann in SUGERLAND EXPRESS schon ins pessimistische gedreht, in DUELL endgültig zum Alptraum wird. Auch dieser Film ist ein deutlicher Reflex auf die Krise, die Amerika erlebt, die hier in der Krise des stinknormalen Kleinbürgers gespiegelt wird.

Ein paar Jahre später, als Spielberg mit DER WEISSE HAI nicht nur künstlerisch neue Höhen erreicht, sondern auch in punkto Vermarktung neue Massstäbe setzt, eigentlich den modernen Blockbuster begründet, ist das Bewegungsmittel das Boot. Und ob die drei Jäger auf ihm nicht vielleicht ebenso Gejagte sind, ist schwer zu sagen - auch hier spiegelt der Mikrokosmos ein Allgemeines: Eine Gesellschaft, die ihr Trauma nur durch Bewegung verarbeiten kann, eine Mobilmachung, die in Erschöpfung endet - wie dies dann auch mit "New Hollywood" geschehen sollte.

Amerikanischer Traum/ Amerikanischer Raum

Es gibt zwei unterschiedliche Bewegungen des New Hollywood-Kinos. Neben der erwähnten Neuentdeckung der Räume des amerikanischen Genrefilms, die sich auch aufs Kriminalgenre, auf Western und Horror erstreckt, geht die zweite nach innen, hinein in die durchschnittliche US-Kleinfamilie als Herz des American Dream. Ob in Werken wie REIFEPRÜFUNG von Mike Nicholls, AMERICAN GRAFFITTI von George Lucas, Irvin Kirshners LOVING oder BOB & CAROL & TED & ALICE von Paul Mazursky, oder noch verschärft in den wichtigsten Filmen von Peter Bogdanovich und John Cassavetes am subtilsten und damit stärksten aber Terence Malick in DAYS OF HEAVEN (1978) - sie alle dekonstruieren auf jeweils spezifische Art die Familie als Zentrum kleinbürgerlicher Träume von Seriosität, Karriere und stabiler Werteordnung, einer Moral, die auf Versöhnung mit den Verhältnissen zielt. Diesem Zentrum mit seinen Hoffnungen wird der Spiegel der inherenten Gewalt dieser Verhältnisse vorgehalten. Hier werden die Geschichten die notwendig sich vor allem in den Gefühlen und Beziehungen der Menschen abspielen, durch Kamerabewegungen und die Dynamik der Montage mobilisiert. In fast allen Filmen jener Jahre kann man klare Brüche mit tradierten Erzählkonventionen beobachten: Beliebt ist der Blick von oben, sind Achsensprünge - wie sie zuletzt im Kino der Stummfilmzeit üblich waren, der subjektive Kamerablick der mit dem einer Figur identisch ist. Mitunter brechen die Filmemacher mit der Kontinuität in Zeit und Raum, doch haftet solcher Form immer allzu sehr der Geruch des Experimentellen an, als das sich der Stil langfristig durchsetzen würde. Das Gemeinsame dieser Formsprache ist eine Desorientierung der Leinwandperspektive. Der Blick des Zuschauers soll seinen Halt verlieren, mit der Haltlosigkeit und richtungslosen Mobilität der Figuren verschmelzen.

Epischer, narrativer, insofern auch konventionell "amerikanischer", ist der Stil der erwähnten Filme, in denen das Genrekino sich erneuert, Genrefilme anderer Art, die ihr Genre selbst thematisieren, verändern, insofern auch überschreiten, und ihre Figuren hinaus in einen neu konnotierten und darum wieder unvertrauteren offenen Raum warfen. In einigen der besten Filme jenes Jahrzehnts gehen die beiden Blickrichtungen - hinein in Seelenlagen, hinaus in die Wildnis der Straße und der Landschaft - aber zusammen.

Verheißung des Untergangs

Vor allem zwei Filmemacher sind hier zu nennen: Francis Ford Coppola mit seinen beiden GODFATHER-Teilen und dann APOKALYPSE NOW, und William Friedkin mit FRENCH CONNECTION und THE EXORCIST. Alle diese Filme verbindet: Es sind klare Genrefilme, die aber das jeweilige Genre erneuern, und dafür dessen Grenzen sprengen. Zugleich sind es subtile Analysen des "Mythos Amerika", die nicht plump Ordnung und Unordnung miteinander konfrontieren, und dann Partei ergreifen, sondern deren Verschmelzungen untersuchen. In GODFATHER treffen traditionelle Familienwerte auf Mafiaethos, im EXORCIST zieht die öffentliche Paranoia der Watergate-Zeit in die Privatsphäre der Familie ein, das Böse haust im Vertrautesten, Unschuldigsten - einem jungen Kind. Die vielleicht dichteste Verbindung zwischen Korruption und Engagement, Zwang und Freiheit, Ratio und Wahnsinn, Moral und Unmoral begegnet einem in der von Gene Hackman gespielten Hauptfigur von Friedkins FRENCH CONNECTION. Jimmy "Popeye" Doyle ist der abgebrühtere, ältere aber letztlich auch verzweifeltere Bruder von Captain Willard in APOKALYPSE NOW. Und diesem Film gelingt auch eines der schönsten Beispiele für die spezifische Bewegung des New Hollywood-Kinos: Denn der ruhelose Doyle ist Jäger und Gejagter in einem, er jagt sich selbst, und zerstört sich selbst in dem Moment, indem er sich auch neu erschafft. Der Film zeigt diesen Selbstverlust in der Selbsterhaltung in seinen beiden bahnbrechenden Verfolgungsjagten: Durch die New Yorker U-Bahn, und mit dem Auto unter der Bahntrasse von Brooklyn hindurch. Die Stadt wird abstrakt, zur graphischen Fläche, auf der wir von Doyle (und er von sich) am Ende auch nur noch einzersplittertes Bild übrige behalten. Dass es sich bei dem desillusionierten Doyle um einen Ordnungshüter und Good Guy handelt, sein nur nebenbei bemerkt. Es spielt sowieso keine Rolle mehr.

Ähnliches erlebt man, als Michael Cimino mit HEAVENS GATE dem New Hollywood-Kino 1980 den Grabstein aufsetzt: Die Werte, die Ziele verschwimmen - noch einmal ist dieses Kino eine große Schule des Pessimismus. Nicht nur im Kino gilt: Bewegung ist Verheißung. Doch bedeutet dies eben nicht, dass die Filme New Hollywoods deswegen optimistisch sein müssen. Es kann auch die Verheißung des Untergangs sein. Die Leere am Ende.

Rüdiger Suchsland

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