Wo die wilden Kerle wohnen

Where the Wild Things Are

USA 2009 · 101 min. · FSK: ab 6
Regie: Spike Jonze
Drehbuch: ,
Kamera: Lance Acord
Darsteller: Max Records, Catherine Keener, Mark Ruffalo, James Gandolfini, Forest Whitaker u.a.
Wunderbare Traumwelt

Bis einer heult

Nein, Kinder sind nicht so süß, lustig und weise, wie sie in unserer Kultur gern darge­stellt werden. Kindsein heißt, sich im einen Moment als Quell und Zentrum des Univer­sums zu fühlen – und im nächsten voll­kommen ohnmächtig. Kindsein heißt, zugleich die Welt und das eigene Ich erkunden, defi­nieren zu müssen – und die Grenze, an der beides oft schmerz­haft anein­an­der­rum­pelt. Kinder sind erstmal kleine Wilde – alles andere ist ein Lern­er­folg.
Dies Unzi­vi­li­sierte hat Maurice Sendak in einen Bilder­buch­klas­siker gepackt: Where The Wild Things Are ist die Geschichte von Max, dem Jungen im Wolfs­kostüm, der allzu übermütig tollt und tobt und deshalb ohne Abend­essen ins Bett geschickt wird. Und der sich daraufhin auf eine Insel phan­ta­siert, die von großen, wolper­tin­ger­ar­tigen Monstern bevölkert wird. Statt sich aber von den furcht­er­re­genden, haarigen Gesellen einschüch­tern zu lassen, starrt Max sie nieder und macht sich zu ihrem König.

9 Sätze und 18 Zeich­nungen sind das nur, und wahrlich nicht die offen­sicht­lichste Vorlage für einen abend­fül­lenden Spielfilm. Und erst recht scheint es alles andere als ein nahe­lie­gender Stoff zu sein für Spike Jonze als Regisseur und Dave Eggers als Dreh­buch­autor. Jonze ist als hipper Meister schön nerdig-hand­ge­bas­telter Musik­vi­deos – etwa für Fat Boy Slim oder die Beastie Boys – berühmt geworden, hat sich dann im Kino kauzig-intel­lek­tu­ellen Späßen wie Being John Malkovich und Adap­ta­tion verschrieben. Literat Eggers hingegen machte sich einen Namen durch seine teils fast doku­men­ta­ri­schen, (auto-)biogra­fi­schen Romane. Beides scheinbar nicht die Kandi­daten für Kinder­buch-Phan­ta­sie­welten.
Aber man darf sich von solch ober­fläch­li­chen Einord­nungen nicht täuschen lassen. Sehr schnell wird klar, dass beide exakt die perfekten Leute für dieses Projekt waren. Jonze tut es unendlich gut, dass er seinen Spiel­trieb endlich einmal unge­hin­dert von der zunehmend nervigen, neuro­ti­schen Selbst­re­fle­xi­vität seines bishe­rigen Skript­lie­fe­ranten Charlie Kaufman ausleben kann. Und Eggers kann durchaus zwei seiner bishe­rigen Haupt­in­ter­essen – Kindheit und impro­vi­sierte Familien – weiter verfolgen.
Gemeinsam haben sie die verbor­genen Themen des Buchs heraus­ge­kit­zelt und ausge­sponnen — und sie haben seine Phantasie-Welt geradezu repor­ta­ge­haft real gemacht. Jonze bleibt dem Hand­ge­machten, der Boden­haf­tung, dem Alltags­an­ge­hauchten seiner Ästhetik auch hier treu. Das ist das genaue Gegenteil der eska­pis­ti­schen, körper­fernen Plas­tik­welten, die sonst derzeit im Kino alles beherr­schen, was sich »Phantasie« auf die Fahnen geschrieben hat. Jonze hat den Versu­chungen der Compu­ter­grafik weise wider­standen, hat sie nur da behutsam einge­setzt, wo sie die Mimik der Monster ausdrucks­voller zu machen vermochte. Sonst aber ist es ein ungemein stoff­li­cher, sinn­li­cher Film, bei dem man ständig meint, Fell, Staub, Sonnen­licht regel­recht greifen zu können.
Diese Stoff­lich­keit ist essen­tiell, weil nur so das Ungestüme, der Radau, das Remmi­demmi wirklich körper­liche Wildheit bekommen. Man spürt die glücklich machende Veraus­ga­bung des ausge­las­senen Spiels, aber auch die Gefahr der Verlet­zung, die es mit sich bringt.
Doch nicht nur die Körper, auch die Seelen der Monster sind hier völlig glaub­würdig: Jonze und Eggers haben aus der undif­fe­ren­zierten Horde der Vorlage wirkliche, starke Charak­tere gemacht, von hinreißender Alltäg­lich­keit und mit sehr gut nach­voll­zieh­baren mensch­li­chen Macken. Und das ist der entschei­dende Dreh, wie aus der kurzen, traum­ar­tigen Fabel ein Spielfilm werden konnte. Nein, Wo die wilden Kerle wohnen ist kein »Kinder­film« – es ist ein Film über das Kindsein. Und zwar einer der aller­besten, die es gibt.

Die sechs Gesellen verkör­pern unter­schied­liche Aspekte von Max' Persön­lich­keit – in, an und mit ihnen spielt er durch, was ihn in seinem realen Leben bewegt. Aber gott­sei­dank, ohne dass der Film – der alles andere ist als didak­tisch oder pädago­gisch – das je explizit machen, ausspre­chen, breit­walzen würde. Wo die wilden Kerle wohnen behält, bei allem psycho­lo­gi­schen Realismus, die Kraft eines Märchens. Der Film erklärt nie, buch­sta­biert nie aus, lässt vieles wunderbar ange­deutet und halb­be­wusst: Man macht diese Reise mit Max und aus seiner Sicht durch.
Zu Anfang erlebt Max schwere Krän­kungen: Bei einer wilden Schnee­ball­schlacht gegen die Teenie-Freunde seiner älteren Schwester wird er unter seinem selbst­ge­bauten Iglu begraben, ohne dass sie ihm beistehen würde. Er rächt sich, indem er in ihrem Zimmer randa­liert. Und dann legt er sich mit seiner allein­er­zie­henden Mutter an, versucht (im Wolfs­kostüm) sein Terri­to­rium abzu­ste­cken. Was der Film schon in all diesen Szenen wunderbar rüber­bringt ist die ständige Mischung aus Allmacht und Frus­tra­tion, aus totaler Liebe und absolutem Hass, die das Kindsein prägen. Gerade die Szenen mit der Mutter (Catherine Keener – wer würde die nicht gern entweder zur Mutter haben oder machen...) sind im Zärt­li­chen wie im Konflikt von einer komplett klischee­freien, hinge­tupften Genau­ig­keit und Glaub­wür­dig­keit.
Man kann Max' Verwir­rung, Vers­tö­rung darüber nach­emp­finden, dass für die anderen Menschen sich die Welt nicht so allein um ihn dreht, wie sie es aus seiner Sicht tut und tun soll. Wo die wilden Kerle wohnen fängt sehr präzise den Moment ein im Kinder­leben, wo die eigenen Bedürf­nisse noch absolut scheinen, sich aber zunehmend die Ahnung breit macht, dass der Rest der Mensch­heit dies nicht als Verpflich­tung zu deren Befrie­di­gung ansieht.

All dies begegnet Max dann auf der Monster-Insel wieder: Die Freund­schaft, die zugleich stets mit Eifer­sucht vermischt ist. Die Erfahrung von Verletz­lich­keit und Vergäng­lich­keit. Der Hunger (schließ­lich ist Max abend­brotlos), im konkreten wie im über­tra­genen Sinne – das Verlangen, gefüttert zu werden, umsorgt zu werden.
Nur dass Max hier auf einmal quasi in der Rolle des Fami­li­en­ober­haupts ist. Als selbst­er­nannter König ist er für seine Unter­tanen verant­wort­lich. (Spätes­tens, wenn man an Dave Eggers' Roman­debut A Heart­brea­king Work of Stag­ge­ring Genius denkt, wird einem auch voll­kommen klar, warum das hier genau sein Stoff ist: Darin beschrieb er auto­bio­gra­phisch, wie er, früh­ver­waist und heillos über­for­dert, für sich und seinen jüngeren Bruder sorgen musste.)
Max hat den Monstern verspro­chen, dass er alles gut machen wird. Und eine Weile reicht es auch, mit ihnen wie daheim zu Tollen und zu Toben, alle Frus­tra­tion durch pure, ausge­las­sene Wildheit in Energie umzu­wan­deln. Aber plötzlich ist niemand sonst da sich darum zu kümmern, wenn das Spiel ernstere Konse­quenzen hat. Plötzlich muss er erfahren, wie es ist, wenn man es dem einen besonders Recht macht und dadurch den anderen verletzt. Die Monster sind genauso egois­tisch, einge­schnappt, ungerecht wie er daheim selbst, dabei aber eben auch wieder genauso liebens­wert und verstehbar.

Max erlebt auf der Mons­ter­insel eine symbo­li­sche Neugeburt. Und wenn er sich wieder in sein Segelboot setzt und all das große Unbe­nenn­bare, Unsagbare, das ihn nun mit den Monstern verbindet, sich in einem allge­meinen, trau­ernden, feiernden, unzi­vi­li­sierten Wolfs­ge­heul Bahn bricht, dann ist er ein Stück weit ein anderer geworden.
Der endgül­tige Beweis für das Genie von Wo die wilden Kerle wohnen ist dann sein Ende, die Rückkehr nach Hause. Jedes falsche Wort, jede falsche Geste hätte hier alles kaputt machen können. Ein Hauch einer expli­ziten Erklärung, eine auch nur annähernd zu billige Note der Versöhn­lich­keit, und alles hätte platt werden können. Nichts wäre schlimmer gewesen, als wenn der Film hier vernied­licht, gedeckelt, mit Wund­pfläs­ter­chen verklebt hätte, was er zuvor an Rohem, Rauhem aufge­macht hat.
Aber Jonze kann man sich auch hier anver­trauen wie einem idealen Eltern­teil: Am Ende steht nur ein stummer Blick. Max wird mit einem verspä­teten, aber noch immer warmem Abend­essen empfangen. Und während er es verschlingt, fallen seiner über­ar­bei­teten, über­mü­deten, von Sorgen um ihn erst geplagten und nun befreiten Mutter die Augen zu. Es ist ein Zeichen von Schwäche, ist ein Moment, in dem sie nicht die Verant­wor­tung tragen kann, von früh bis spät ständig für ihn da zu sein, in dem sie loslässt.
Aber der neue Max schaut auf sie, und in seinen Augen sieht man, dass er diesen Moment nun akzep­tieren, dass auch er ein bisschen Loslassen kann. Dass er nun ein Stück weit versteht, wie es ihr geht. Und dass er den ersten Schritt gemacht hat, irgend­wann einmal – denn auch von der Vergäng­lich­keit weiß er inzwi­schen etwas – für sich selbst zu sorgen.