Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Deutschland 2022 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Sonja Heiss
Drehbuch: ,
Kamera: Manuel Dacosse
Darsteller: Arsseni Bultmann, Laura Tonke, Devid Striesow, Pola Geiger, Camille Loup Moltzen u.a.
Entsetzlicher als das Leben ist nur noch die Liebe...
(Foto: Warner)

Diese entsetzlichen Lücken

Sonja Heiss‘ Verfilmung von Joachim Meyerhoffs Bestseller verzichtet auf viel, fährt damit aber überraschend gut

»Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar
Dann müsste ich nicht mehr schrei’n
Alles wär‘ so klar«

Eisbär (YoutTube), Grauzone

Wann gibt es das schon mal in diesen entsetz­li­chen Zeiten über­langer Filme ohne Mehrwert, dass man sich einen Film länger wünscht? Wohl nur bei der Verfil­mung eines Buches von Joachim Meyerhoff. Wem Meyerhoff nichts sagt, dem sei nur ganz, ganz kurz erklärt: Meyerhoff ist nicht nur Schrift­steller, sondern vor allem auch Schau­spieler, der von Hamburg über Berlin bis Wien an so ziemlich allen großen Bühnen Deutsch­lands gewirkt hat und heute vor allem an der Berliner Schau­bühne spielt. Vor über 15 Jahren konzi­pierte er am Wiener Burg­theater ein Programm in sechs Teilen, das seine eigene Lebens­linie und die seiner Familie erzählt, eine Perfor­mance, die so großartig war, dass die ersten drei Teile zum Berliner Thea­ter­treffen einge­laden wurden und Meyerhoff sich nach dem letzten Teil entschloss, das Konzept dieses gnaden­losen, selbst­iro­ni­schen, auto­fik­tio­nalen Konvoluts unter dem Übertitel Alle Toten fliegen hoch in fünf Romane zu über­führen, deren letzter vor drei Jahren erschienen ist.

In seinem Bemühen um Ehrlich­keit und pochender, keine Pein­lich­keit auslas­sender Intro­spek­tion erinnern Meyer­hoffs Büchern an Karl Ove Knaus­gards Mein Kampf, weisen aber eine völlig andere, erheblich schril­lere Tonalität, Sprache und dann auch Fokus­sie­rung auf – denn so sehr man bei Meyerhoff und einer grotesker kaum vorstell­baren Drama­turgie des Lebens Tränen lachen kann, so sehr kann man an anderen Stellen über die entsetz­li­chen Lücken, die das Leben reißt, auch weinen.

Meyerhoff erzählt nicht immer linear, nicht nur innerhalb der einzelne Bände. Der erste Band „Alle Toten fliegen hoch: Amerika“ liegt zeitlich nach dem zweiten Band, »Alle Toten fliegen hoch: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war«. Das gibt den Büchern einen faszi­nie­renden Sog, weil damit die Varia­bi­lität, der Zufall in Lebens­ge­schichten, unter­stri­chen wird.

Die Verfil­mung von Sonja Heiss verzichtet darauf. Sie nimmt sich zwar der erwähnten ersten beiden Bände an, bleibt aber im linearen Fluss der Zeit und auch innerhalb des Buches folgt Heiss den von Meyerhoff erzählten Dingen chro­no­lo­gisch. Das macht durchaus Sinn, denn Heiss, die bislang mit ihrem HFF-Abschluss­film Hotel Very Welcome (2007) und ihrer selbst­iro­ni­schen Iden­ti­täts­suche einer Frau in Hedi Schneider steckt fest (2015) auf sich aufmerksam machte, hat mit der Verfil­mung von Meyer­hoffs Erin­ne­rungen einen Fami­li­en­film im Sinn, der trans­ge­ne­ra­tional, das heißt, auch bei älteren Kindern funk­tio­nieren soll, für die eine asyn­chrone Erzähl­weise wohl als zu über­for­dernd einge­schätzt wurde.

Diese Annähe­rung an den Stoff funk­tio­niert jedoch über­ra­schend gut. Zwar ist es immer wieder entsetz­lich, was Heiss an inhalt­lich wichtigen Lücken reißt – der fast ein ganzes Buch einneh­mende Amerika-Teil nimmt gerade mal zehn Minuten ein – doch letzt­end­lich kann es bei einer zeitlich derartig begrenzten Verfil­mung tatsäch­lich nur ein „Best-Off“ sein, ein „Medley“, das durch die Vorlieben und Inter­pre­ta­tionen der Dreh­buch­au­toren Sonja Heiss und Lars Hubrich austa­riert werden musste. Und wie schon gesagt, funk­tio­niert gerade das über­ra­schend gut. Vor allem auch, weil Heiss und Hubrich nicht den Fehler begehen, den so viele deutsche Kinder- und Fami­li­en­filme begehen, in denen nur allzu gern die erodie­renden Bezie­hungen von Eltern und ihr Leben als Trot­tel­pa­rade darge­stellt werden.

Heiss bleibt statt­dessen bei Meyerhoff und konzen­triert sich auf zwei parallel erzählte Geschichten, die natür­li­cher­weise eng mitein­ander verzahnt sind: der langsame Nieder­gang der Ehe von Joachims Eltern und das Coming-of-Age von Joachim bzw. Josse, dessen frühe Kindheit, Pubertät und frühes Erwach­sen­werden. Heiss lässt hier wenig aus, um die entsetz­liche Einsam­keit von Josses Mutter Iris, die von Laura Tonke großartig verkör­pert wird, eindrück­lich zu bebildern. Sie zeigt die auch schon im Roman starke Symbolik der Ehebetten, deren Abstand zuein­ander sich abhängig vom Zustand der Ehe verändert, deutet die langsame Eman­zi­pa­tion an, die aber genauso subtil erzählt wird, wie Josses (Arsseni Bultmann) große Liebe zu Marlen (Pola Geiger), für die Heiss von der ersten Begegnung bis zum Wieder­treffen bei Bifi-Wurst und Eisbär-Lied wunder­bare, konzen­triert und schön heraus­ge­spielte Dialoge und Bilder entwi­ckelt.

Und dann ist da natürlich noch Josses Vater Richard (Devid Striesow), dem Heiss etwas von seiner natür­li­chen Autorität und seiner Rolle als souver­änem Akteur eines Doppel­le­bens nimmt, die er bei Meyerhoff als Direktor einer psych­ia­tri­schen Klinik im länd­li­chen Schleswig-Holstein noch hat. Aber im Grunde fügt sich dieser Vater gut in die kurz­ge­bün­delte Zusam­men­fas­sung von Meyer­hoffs Erzählung ein, weil er deutlich macht, dass die bürger­liche Fassade, die Richard versucht aufrecht zu erhalten, weitaus „wahn­sin­niger“ ist, als es die Patienten sind, die den Alltag von Josse bis ins Wohnhaus begleiten und ihn nicht nur vor seinen sich frag­men­tie­renden Eltern, sondern auch vor seinen domi­nanten, älteren Brüdern schützen, sondern ihm über die Jahre auch den Trost geben, seine Defizite und Verluste besser zu ertragen.

Es sind Verluste und eine Einsam­keit, die auch in Caroline Links Verfil­mung von Harpe Kerke­lings Erin­ne­rungen, Der Junge muss an die frische Luft (2018), eine Rolle spielen, die ja ebenfalls eine immer wieder auch poetische Suche nach der verlo­renen Zeit der 1970er und 1980er Jahren und einer ganzen Kindheit war. Und ähnlich behutsam, fast schon vorsichtig wie Link, erzählt auch Heiss ihre Geschichte zu einem insgesamt runden und schlüs­sigen Film über den Ernst und die Hürden der Selbst­fin­dung im Leben aus.

Das bedeutet dann aller­dings auch, dass die fast schon slapstick-artigen, den Ernst des Lebens konter­ka­rie­renden Szenen, wie jene mit dem damaligen Minis­ter­prä­si­denten von Schleswig-Holstein, Gerhard Stol­ten­berg (Axel Milberg) oder die fast schon ikonische Hundeszene bei weitem nicht die Radi­ka­lität der lite­ra­ri­schen Vorlage besitzen bzw. ganz wegfallen und die Trau­rig­keit über einen Segeltörn oder einen Suizid in ihrer Tragweite zwar vers­tänd­lich gemacht werden, aber nicht verstören, wir lachen und leiden, doch ohne zu weinen.