Das Vorspiel

Deutschland 2019 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Ina Weisse
Drehbuch: ,
Kamera: Judith Kaufmann
Darsteller: Nina Hoss, Simon Abkarian, Serafin Mishiev, Ilja Monti, Jens Albinus u.a.
Nina Hoss als gnadenlose Violonistin (Foto: © Judith Kaufman | Port au Prince)

Die Schönheit der Unperfektion

Es gibt immer wieder Momente in Das Vorspiel, in denen die Bilder regel­recht zu vibrieren scheinen. Etwa als Anna (Nina Hoss) erstmals mit dem Quintett ihres Kollegen Christian (Jens Albinus) probt. Die Violi­nistin spielt fehler­frei und wird schließ­lich auch aufge­nommen. Doch: Hoss' zwischen Verbis­sen­heit und Unsi­cher­heit chan­gie­rendes Gesicht, die Blicke der Mitmu­siker, dieser hoch­pro­fes­sio­nelle Rahmen machen die Szene zum in Film gegos­senen Leis­tungs­druck.

Genau davon erzählt die Schau­spie­lerin Ina Weisse in ihrem zweiten Spielfilm: Davon, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, vom Druck, den sich die Musikerin und Musik­leh­rerin macht und von den Folgen für die unmit­tel­bare Umgebung. Getragen wird das kluge Drehbuch (Daphne Charizani und Ina Weisse) von einer erneut fantas­ti­schen Nina Hoss. Mit Das Vorspiel erweitert die Schau­spie­lerin ihr Portfolio der nach außen starken, aber innerlich brüchigen Frauen um eine weitere Nuance.

Gab Hoss in Christian Petzolds Barbara (2011) eine in der DDR zwangs­ver­setzte Ärztin mit Flucht­am­bi­tionen oder, erst im letzten Jahr, in Katrin Gebbes Pelik­an­blut eine einsame Pfer­de­trai­nerin, die von einem der beiden Adop­tiv­kinder an den Rande des (später auch buchs­täb­li­chen) Wahnsinns getrieben wird, zeigt sie sich in Weisses Film als ambi­va­lente, vom Ehrgeiz getrie­bene Gefühls­ver­un­si­cherte. Mit fein­sin­nigem Spiel voller Melan­cholie und Härte gibt Hoss ihrer Figur unglaub­liche Tiefe.

Ihre Anna unter­richtet an einem Musik­gym­na­sium Geige und steckt ihre gesamte Energie in den neuen Schüler Alexander (Ilja Monti). Der Junge ist eine doppelte Projek­ti­ons­fläche: einer­seits will Anna es ihren Lehrer­kol­legen zeigen, gegen deren Willen sie Alexander nach dem Vorspiel an die Schule geholt hat. Ande­rer­seits erinnert er sie an den eigenen Sohn Jonas (Serafin Mishiev), der ebenfalls in der Insti­tu­tion unter­richtet wird, sein Instru­ment für Annas Geschmack zuhause viel zu selten in die Hand nimmt.

Im Laufe des Films bröckelt die Fassade der gutbür­ger­li­chen Familie zusehends. Die Kommu­ni­ka­tion zwischen Mutter und Sohn reicht von kompli­ziert bis kühl, »Jonas, streich den ganzen Bogen aus, sonst kannst du gleich 'ne Zahn­bürste nehmen«, zischt Anna. Der Ton macht die Musik, ihre gleichsam liebevoll gemeinte Kritik geht nach hinten los. Zwischen Anna und ihrem Mann Philippe (Simon Abkarian), einem Instru­men­ten­bauer, wird es ebenfalls eisiger. Sitzen die beiden zu Beginn noch gemeinsam im Restau­rant, er der Verständ­nis­volle, der, Annas Tick nach­se­hend, mehrfach für sie den Tisch wechselt, kann ihr nicht geben, was sie braucht. »Wärme und Zuneigung kannst du auch einem Hund geben«, sagt sie einmal. Ihr körper­li­ches Verlangen befrie­digt die Musikerin mit ihrem Kollegen Christian.

Das Vorspiel hat keine Szene zu viel, kein Moment ist über­flüssig. Subtil und effizient zeichnet die Regis­seurin das Porträt einer dysfunk­tio­nalen Familie und lässt ihre Figuren durch und durch komplex, ja: mensch­lich erscheinen. Über jeder Szene hängt der Staub des fami­liären Zusam­men­le­bens, einer Fami­li­en­ge­schichte, die, niemals auser­zählt, in den Andeu­tungen aber konkret genug ist, dass wir eine Ahnung bekommen. Etwa von der Erziehung Annas, deren Vater, das zeigt eine Szene mit Jonas, ein Vertreter der harten Hand ist. Oder von Jonas selbst, der mit mili­tantem Vege­ta­rismus aufbe­gehrt und der, das schwelt den ganzen Film über mit und wird am Ende konkret, ein gewisses Gewalt­po­ten­zial in sich trägt. Sie alle haben ihre Geheim­nisse.

Weisses Film wirkt – und das ist unbedingt als Kompli­ment zu verstehen –, als hätte sich Michael Haneke an die Neuin­ter­pre­ta­tion von Damien Chazelles großar­tigem Musiker-Thriller Whiplash gemacht. Neben der Präzision, die man auch vom öster­rei­chi­schen Enfant terrible kennt, lässt Weisses Musikerin an die von Isabelle Huppert gespielte Klavier­leh­rerin aus Hanekes Verfil­mung von Elfriede Jelineks Roman »Die Klavier­spie­lerin« denken.

Trotz dieser Remi­nis­zenzen ist Das Vorspiel ein eigen­s­tän­diges Werk. Weisses Film ist weniger radikal als die der genannten Kollegen, dabei aber ebenso eindrück­lich. Hoss' Getrie­bene wird zur Metapher für die Folgen der Hoch­leis­tungs­ge­sell­schaft samt Selb­st­op­ti­mie­rungs­wahn. Nur in wenigen Augen­bli­cken verliert ihre Anna die ihr so wichtige Haltung, etwa, als sie Schüler Alexander zur Korrektur eines Haltungs­feh­lers aufge­bracht mit seinem Gürtel die Schulter abbindet.

Am Ende wird der wahnhafte Perfek­tio­nismus siegen und verlieren. Hochmut kommt vor dem buchs­täb­li­chen Fall in dieser auf Leistung gebürs­teten Welt. Annas Mann bringt es auf den Punkt, als er seiner Frau eine ihrer alten Konzert­auf­nahmen vorspielt, die sie abwertend mit »klingt irgendwie unfertig« abtut. Philippes Antwort: »Das ist ja das Schöne.« Wer nicht die Schönheit des Unper­fekten zu sehen imstande ist, der wird vom Hams­terrad überrollt.

Facetten der Unsicherheit

»Warum muss man üben? Letztlich ist das Üben dazu da, damit das Stück in deinen Körper kommt.«
aus: Das Vorspiel

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Es gibt Filme, da fragt man sich das: Wo liegen meine Sympa­thien? Meinet­wegen auch: Mit wem iden­ti­fi­ziere ich mich? Ina Weisses Das Vorspiel ist auch darin einer der heraus­ra­genden deutschen Filme der letzten Jahre, dass er uns viele verschie­dene Möglich­keiten eröffnet, uns selbst zu plat­zieren, und damit auch eine Perspek­tive auf ihn zu wählen. Bei mir schwankte die Perspek­tive zwischen zwei Figuren: Mutter Anna und ihrem Sohn Jonas. Sie sind beide nicht sympa­thisch im herkömm­li­chen Sinn; das gerade macht sie inter­es­sant. Aber sie sind sympa­thisch darin, indem sie uns ähneln. Also: Mir sympa­thisch, indem sie mir ähneln. Ich kenne die Situa­tionen, die der Film zeigt.

Kann man so auf Filme blicken?
Ich glaube schon.

Dieser Film vermeidet die Moral-und Charakter-Klischees des deutschen Films. Darum hat er es schwer, darum stam­melten die Kollegen schon aus Toronto und San Sebastian irgend­welche Nettig­keiten, die sie selbst nicht glaubten, und die aus ihren Lippen fielen, »wie modrige Pilze«.

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Obwohl der Titel natürlich viel mehr meint, beginnt es mit einem Vorspiel im engeren Sinn: Eine Musik­hoch­schule, junge Nachwuchs-Musiker kämpfen darum, zuge­lassen zu werden zu exqui­sitem Unter­richt. Ihre poten­ti­ellen Lehrer sind routi­niert, abgebrüht an der Grenze zum Zynismus. Zugleich ohne Frage auf hohem Niveau.

Nina Hoss spielt Anna, selbst heraus­ra­gende Musikerin und eine der Lehre­rinnen auf dem noblen, elitären, auto­ri­tären Berliner Konser­va­to­rium, das, so ertappt man sich zu denken, mögli­cher­weise der Otto-Falcken­berg-Schule nach­emp­funden ist, jener gleich­falls so noblen wie auto­ri­tären Schau­spiel-Kader­schmiede in München, die auch Regis­seurin und Dreh­buch­au­torin Ina Weisse, selbst ausge­bil­dete Schau­spie­lerin, einst besuchte.

Anna ist als Lehrerin sehr gut, aber auch sehr streng, und entfaltet über ihre Schüler ein subtiles Regiment aus Erziehung und Diszi­pli­nie­rung – und dass es dabei nicht zuletzt auch um Selbst­dis­zi­pli­nie­rung, der Lehrerin wie ihrer Schüler, geht, das wird schnell klar. Denn Annas eigenes Leben ist voller offener Baustellen: Ihre Ehe mit einem Franzosen, der Instru­men­ten­bauer ist, zuhause einen recht passiven Hausmann und um so besseren Beob­achter gibt, ist glücklich, trotzdem hat sie eine Affäre; ihre eigene Musik­kar­riere liegt brach, denn auf der Bühne mutiert Anna regel­mäßig zum Nerven­wrack und zeigt genau jene Schwäche, die sie ihren Schülern mit aller Macht austreiben will. Vor allem aber ist da ihr Sohn Jonas. Der soll auch Geige spielen, geht aber lieber zum 'Männer­sport' Eishockey, und zu ihm ist Anna strenger und härter als zu jedem Schüler. Als sie ihn vom Eishockey abholt, fällt ihr nichts Besseres ein als:»Du ruinierst dir noch die Hände.«
Als er eines Tages sagt: »Ich will 'nen Hund haben«, antwortet sie: »Du hast 'nen Hund. Dein Hund ist deine Geige.«

Nina Hoss spielt diese Frau souverän und ungleich expres­siver, als man es aus den meisten ihrer früheren Rollen – vor allem in den sechs Filmen, die sie gemeinsam mit dem Berliner Christian Petzold drehte – kennt: Auch da, wo bei Hoss jetzt die Gefühle kontrol­liert, zurück­ge­nommen und verin­ner­licht erscheinen, lodert das Feuer. Und immer wieder bricht es aus ihr heraus: Ina Weisse nimmt in ihrem zweiten Spielfilm die neo-bürger­li­chen und möch­te­gern-bürger­li­chen Verhält­nisse unserer Gegenwart – nicht nur jene schwarz­grün grun­dierten von Berlin-Mitte – mit großer Beob­ach­tungs­gabe und subtilem Humor ins Visier. Von feinem Witz sind etwa mehrere familiäre Essens­szenen, wo unter der Obsession für die richtige Diät und die zu vermei­denden Esssünden – Fleisch, Milch­pro­dukte – die Neurosen und fehl­ge­lei­teten Energien einer ganzen Gesell­schaft sichtbar werden.

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»Das Leben ist kaum lang genug, um in einem gut zu sein.«
Anna in Das Vorspiel

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Einmal mehr, wie schon in Jan-Ole Gersters Lara und in Pelik­an­blut von Katrin Gebbe, erzählt ein aktueller deutscher Film von strengen Müttern, und wie in Lara gehört die Haupt­figur, die Mutter, einer mittleren Genera­tion an, die zwischen den Alten und den Jungen steht, zwischen kalt­her­ziger (oder kalt­herzig wirkender) unsen­si­bler Rohr­stock­pä­d­agogik und einer fragilen (oder fragil wirkenden) Empfind­sam­keit, deren Empathie sich über­sen­sibel auf alles Mögliche richtet, und damit zugleich im Konkreten leicht eine indif­fe­rente Note bekommt.

»Du musst nicht spielen, wenn du nicht willst«, sagt Mutter Anna zu Sohn Jonas bei einem Abend­essen – schon Kinder der Siebziger haben diese Gestalt des Auto­ri­tären unter der Maske anti­au­to­ritär gerahmter »Laissez-faire«-Frei­wil­lig­keit kennen­ge­lernt, die zehn Jahre später in den Neoli­be­ra­lismus mündete. Gerade Kultur ist mit dem Zwang verschwis­tert. Heute ist das Ergebnis das, was Das Vorspiel in vielen Szenen portrai­tiert und kriti­siert: Eine gnaden­lose Leis­tungs­ge­sell­schaft, in der jede(r) auf je spezi­fi­sche Weise nur an sich denkt.

Wie in Lara werden die klas­si­sche Musik und der Musik­un­ter­richt hier zugleich Mittel auto­ri­tärster, oft brutaler Unter­drü­ckung, wie umgekehrt zum Reservoir emotio­naler Frei­heits­mo­mente.
Musik als Terror­in­stru­ment. Und: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.

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Sie sagt: »Es geht beim Üben nicht um die Menge, sondern um die Qualität.« Später aber sagt sie: »Manchmal kommt die Tiefe doch nur durch die Menge.«

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Wie werden Jungen erzogen? Wie ist es richtig? Mit Härte, mit Sanftheit? Wann das eine, wann das andere, warum nie das eine, immer das andere?

Ihr Vater ist sehr autoritär. Er hat das wohl auch mit ihr getan, er erzieht den Enkel mit Schmerz, indem er die Hand des Sohnes in den Amei­senbau hinein hält (nachdem dieser die Tiere vorher »gequält« hatte). Sie sagt ihm: »Ich will nicht, dass du so mit meinem Sohn umgehst.« Aber sie geht auf ihre Art genauso mit dem Sohn um. Der Vater antwortet folge­richtig: »Hab dich nicht so. Der Junge lernt so.«

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Im aller­besten Sinn ist Das Vorspiel ein altmo­di­scher Film: Klas­si­sche Musik, die mit sensibler Bild­sprache von Judith Kaufmann einge­fan­genen unter­drückten Gefühle und das Böse unter der Maske bürger­li­cher Disziplin lassen ein ums andere Mal glei­cher­maßen an auf die Musik gemünzte kunst­re­li­giöse Emphasen im Gefolge der Romantik denken, wie an Das weiße Band und andere Haneke-Filme. Das Vorspiel, in dem Thomas Thieme in einem schönen Neben­auf­tritt als Annas Vater zu sehen ist, ist ein kluger, enga­gierter Film über Schuld und Sühne, über auto­ri­täre Tradi­tionen, die sich durch drei Genera­tionen ziehen und vererben, dabei nur ihre Gestalt ändern. Bei den heute Jungen, den jugend­li­chen Söhnen in Weisses Film haben sie das Antlitz jener »neuen Sensi­bi­lität«, die sich vor allem in der Figur des Jonas zeigt: Der sorgt sich um Tiere, rettet Fische im West­ber­liner Liet­zensee vor den Anglern und will plötzlich kein Fleisch mehr essen – aber zu anderen Kindern ist das zart­be­sai­tete Wesen dann plötzlich brutal.

Die geheimen Kompli­zen­schaft zwischen Mutter und Sohn, das gegen­sei­tige Erkennen und Verstehen ihrer Nähe gerade im Abgrün­digen und Amora­li­schen, und dem daraus folgenden schlechten Gewissen, ist das unter­grün­dige Leitmotiv dieses facet­ten­rei­chen, heraus­ra­genden Films. Das Vorspiel bietet keine Lösungen, und das ist gut so. Der Film beharrt darauf, dass das Leben und die Kunst eben kompli­ziert sind, dass zur Kunst Disziplin und Risiko gehören, auch die Angst zu versagen, und ja: auch bestimmte Formen der Gewalt. Das muss nicht gut sein, aber es scheint unver­meid­lich.
Dieser Film ist auch ein Vorspiel düsterer Zeiten. Wenn es hier eine Botschaft gibt, dann lautet sie: weg von der Sicher­heit.