The Letter

Kenia 2019 · 81 min. · FSK: ab 6
Regie: Maia Lekow, Christopher King
Drehbuch: , ,
Kamera: Christopher King
Eine gefährliche, über die sozialen Medien noch einmal verstärkte Dynamik
(Foto: DOK.fest München 2020 @home)

Hex-hex! und das Problem ist wex

Jeder Kultur­raum hat seine lang tradierten Verhal­tens­muster, wie er mit schwer lösbaren, schwer verständ­li­chen gesell­schaft­li­chen Umwäl­zungen umgeht. In Zentral- und Osteuropa wurde über Jahr­hun­derte und bis heute immer wieder einer jüdischen Welt­ver­schwö­rung der schwarze Peter für alles nur erdenk­liche Unglück zuge­schoben, in Indo­ne­sien waren es in den 1960ern die Kommu­nisten, die mit einem dementspre­chenden Genozid bestraft wurden. In vielen Ländern Afrikas werden in Albinos oft unheil­brin­gende Kräfte vermutet und sie dementspre­chend getötet. Neben den Albinos haben es aller­dings auch alte, allein­ste­hende Menschen in zahl­rei­chen Ländern Afrikas seit Jahr­zehnten nicht leicht, einen ruhigen Lebens­abend zu verbringen. Als Subsahara-Afrika mit dem Ende des Kommu­nismus Anfang der 1990er Jahre plötzlich unter Demo­kra­ti­sie­rungs­druck geriet und NGOs wie auch die Weltbank große Tranchen an Entwick­lungs­gel­dern zurück­hielten, verstanden viele Menschen gerade auf dem Land die Welt nicht mehr. Warum erhielten sie für ihre Produkte kaum oder gar keine Gelder mehr? In ihrer verzwei­felten Suche nach Erklä­rungs­mus­tern schoben sie ihr Unglück auf Hexerei, die es zwar immer gegeben hatte, die aber in modernen Zeiten an Autorität und Ansehen verloren hatte, so dass plötzlich jeder eine Hexe oder ein Hexer sein konnte, der dem Anderen etwas Böses wollte. Tradi­tio­nelle »Mgangas«, natur­kund­liche Heiler, die aller­dings auch »angehexte« Krank­heiten heilen konnten, waren davon ausge­nommen. Eine Anti­he­xe­rei­be­we­gung entstand, die zahl­reiche Lynch­morde zur Folge hatte und schon damals vornehm­lich alte Menschen traf, die allein wohnten, weil ihre Kinder und Enkel in die Städte abge­wan­dert waren.

Seitdem kann man die (wirt­schaft­liche) Uhr nach entspre­chenden Anti­he­xerei-Tätlich­keiten stellen. Die kenia­ni­sche Musikerin und Filme­ma­cherin Maia Lekow und der austra­li­sche, seit 2007 in Nairobi lebende Filme­ma­cher Chris­to­pher King haben sich in ihrem Doku­men­ar­film­re­gie­debüt The Letter, das auf dem DOK.fest München 2020 @home seine Deutsch­land­pre­miere feiert, dieser Entwick­lung ange­nommen und zeigen exem­pla­risch die Motorik dieser gefähr­li­chen, über die sozialen Medien noch einmal verstärkten Dynamik. Als der in Mombasa lebende Karisa Kamango in den sozialen Medien liest, dass seiner geliebten Groß­mutter intra­fa­mi­liäre Hexerei vorge­worfen wird, macht sich Kamango auf den Weg in das Dorf der Familie an Kenias Küste, um den Hinter­gründen dieser Vorwürfe auf die Spur zu kommen.

Lekow und King folgen Kamangos Weg, treffen die Groß­mutter und die Familie, ergründen die wirt­schaft­li­chen Hinter­gründe und begleiten die Familie dann auch bei einem groß insze­nierten christ­li­chen »Reini­gungs­ri­tual«. Die Auser­zäh­lung des Alltags in Kenias von Swahili-Kultur geprägter Küsten­re­gion erhält dabei einen wichtigen Anteil und zeigt, wie schwer es ist, die subtilen wirt­schaft­li­chen Hinter­gründe wie Land­knapp­heit vor den offen­sicht­li­chen Anschul­di­gungen wie der »ange­hexten« Frucht­bar­keit einer Tochter zu erkennen.

Die Einbet­tung christ­li­cher Motivik- und Macht­struk­turen mag vor allem für Europäer schwer zu ertragen sein und eine Lösung dieser korrum­pierten Struk­turen, wie sie in Netflix' südafri­ka­ni­scher Serie QUEEN SONO exem­pla­risch vorge­führt wird, ein Segen sein, doch tut man den durchaus immer wieder modernen Ansätzen evan­ge­li­kaler Kirchen damit auch Unrecht. Denn die psycho­lo­gi­sche Wucht, mit der Krank­heiten wie Depres­sionen in »Teufels­aus­trei­bungs­ri­tualen« ange­gangen werden, hat durchaus auch ihre positiven Wirkungen, wenn auch in diesem Kontext deutlich wird, dass Aber­glaube, wirt­schaft­liche Not und christ­li­cher Exor­zismus ein perfides Bündnis eingehen. Ein »popu­lis­ti­sches« Bündnis, das im Kern gar nicht mal so viel anders funk­tio­niert wie die rechts-popu­lis­ti­schen »Bündnisse« der letzten Jahren in unserem deutschen Kultur­raum.