Suspiria

USA/I 2018 · 152 min. · FSK: ab 16
Regie: Luca Guadagnino
Drehbuch:
Kamera: Sayombhu Mukdeeprom
Darsteller: Dakota Johnson, Tilda Swinton, Mia Goth, Angela Winkler, Ingrid Caven u.a.
Erin­ne­rung an die Dekade der Ambi­guität

Hexen gegen Nazis, Meinhof gegen Schleyer

»Never be afraid to doubt, if only you have the dispo­si­tion to believe, and doubt in order that you may end in believing the Truth.«
Samuel Taylor Coleridge: 'Aids to Reflec­tions'

Es ist Herbst in Deutsch­land, im geteilten Berlin des Jahres 1977. Es sind die inten­sivsten, erre­gendsten Tage dieser Dekade, denn gerade eskaliert in den Nach­richten die Schleyer-Entfüh­rung mit dem High­jacking der »Landshut«-Maschine... Draußen gibt es bei schlechtem Wetter Demos für die RAF.
Patricia, gespielt von Chloë Grace Moretz betritt die Praxis eines Psycho­ana­ly­ti­kers, der Klemperer heißt (der Name kann nicht zufällig sein), sie summt »Should I stay or should I go?«, und berichtet von Hexen. Der Doktor notiert: »Simu­la­crum«. Also je nach Vers­tändnis des Begriffs eine »Täuschung«, ein Phantom. Oder: »Eine Lüge, die eine Wahrheit ist«. Oder: Aufhebung von Abbild und Realität, also der Unter­schei­dung von Kopie und Original. Das darf man durchaus auch auf diesen Film selbst beziehen, der jene Unter­schei­dung aufbricht.
Auf dem Tisch werden Bücher erkennbar, über die Frei­maurer, und C.G. Jungs »Die Psycho­logie der Über­tra­gung« und Ernest Jones: »Zur Psycho­ana­lyse der christ­li­chen Religion«. Patricia erträgt keine Blicke, keine Bilder mit Augen, flieht die Praxis, wird nicht mehr gesehen. Später heißt es über sie, sie sei labil gewesen, und ein Teil der linken Welt­ver­bes­serer.

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Regie führte der Italiener Luca Guada­gnino, der in der Regel ein sehr unita­lie­ni­sches Kino macht. Zuvor hat er die Filme A Bigger Splash und Call Me by Your Name gedreht. Suspiria ist nun das Remake des gleich­na­migen Horror­films von Guada­gninos Landsmann Dario Argento – obwohl man den Film nicht »Remake« nennen möchte, sondern »Neuin­ter­pre­ta­tion«. Er ist eine halbe Stunde länger als der Vorgänger, und spielt in genau dem Jahr, in dem Argento seinen Film machte.

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Dazu ein Exkurs: In Venedig traf ich vor und nach der Premiere Kollegen, die in den Film nicht hinein­gehen wollten. Einmal hörte ich die Begrün­dung: »Ich gehe da nicht rein. Wenn ich schon lese, dass der Film länger ist als sein Original, kann er nix sein.« So ein Quatsch! Es geht schon damit los, dass es hier kein Original gibt. Und überhaupt im Kino so wenig wie im Theater. Keine »Hamlet«-Insze­nie­rung ist ein Original, sondern die Variation eines Stoffes, in diesem Fall einer Vorlage von Shake­speare, aber oft ganz frei. Ist Heiner Müllers »Hamlet­ma­schine« ein Remake? Natürlich nicht. Sind Michael Alme­reydas Hamlet oder Kauris­mäkis Hamlet goes Business oder Helmut Käutners Der Rest ist Schweigen Remakes von Laurence Oliviers Hamlet, oder von Shake­speare?
Mich haben schon immer, schon früher in München, dieje­nigen unter meinen Kollegen am meisten genervt, die mir, wenn ich begeis­tert aus dem Kino kam, erklären wollten, der Film sei ja nur ein schwacher Abklatsch eines Films, der erst vor gerade mal zwölf Jahren im Film­mu­seum gezeigt wurde. Oder das Remake eines 30 Jahre alten japa­ni­schen Films, der selbst­re­dend viel besser sei. Schon deswegen, weil ihn niemand kannte, außer dem, der jetzt davon anfing. Abgesehen davon, dass derar­tiges pseu­do­ab­ge­klärtes Gerede nur zu schnöden Distink­ti­ons­ge­winnen taugt, glaube ich, dass Origi­na­litäts­fe­ti­schismus sowieso Unsinn ist. Ein Original ist nicht besser, weil es ein Original ist.
In einem gewissen Sinn, und spätes­tens dieser Suspiria-Film sollte uns das lehren, gibt es überhaupt kein Original. Siehe oben: »Simu­la­crum«. Jeder Film, jedes Kunstwerk ist die Kopie von irgend­etwas anderem. Wenn es kein Film ist, dann ein Buch, ein Thea­ter­stück, ein Gemälde, eine Ansamm­lung von Bildungs­schätzen, von Hirn­ge­spinsten. Mindes­tens die Kopie eines bestimmten Hirn­areals des Machers, das dieser selbst nicht wieder­er­kennt. Kunst ist Vernet­zung, ist ein sich selbst steu­erndes System, gerade auch den Machern selbst verschlossen.
Ande­rer­seits: Der derzei­tige Hang, von allem und jedem ein Remake zu machen, ist natürlich ätzend und armselig. Alldem liegt vor allem Gedan­ken­faul­heit und Phan­ta­sie­armut zugrunde, und das Sicher­heits­denken der in den Medi­en­kon­zernen herr­schenden Controller. Und sehr oft ist hier der neuere Versuch tatsäch­lich viel schlechter.

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Guada­gninos Suspiria hat »sechs Akte, und einen Epilog« und dreht sich in Form eines pracht­vollen, wohl­de­si­gneten Bilder­tep­pichs und in leuch­tendem tiefen Argento-Rot um eine welt­berühmte Tanz-Compagnie, die von einer Gruppe älterer Frauen im Matri­ar­chat regiert wird. Suzie (Dakota Johnson), eine junge Ameri­ka­nerin, bewirbt sich und entpuppt sich als geniale Tänzerin. Doch alsbald häufen sich die Merk­wür­dig­keiten und manches scheint darauf hinzu­deuten, dass es bei dem Frauen-Bund über­na­tür­lich zugeht. Hexen mögli­cher­weise?

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Tanz im Film lässt mich immer etwas ratlos. Deswegen habe ich zu den Tanz­szenen des Films weiter nichts zu sagen, empfinde das aber als Mangel. Wer mehr übers Tanzen im Film nach­denken und nachlesen will, kann das in der neuesten Ausgabe, No.16, von »Nach dem Film« tun – die ist aber vom Februar 2018, also zu früh für Suspiria. Und über den alten Film steht da leider auch nichts.

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Tilda Swintons Figur weiß: »There are two things, dance can never be again: beautiful and cheerful. Today we need to break the nose of any cheerful thing.« Das mag für Kunst überhaupt gelten.
Swintons Figur lehrt: »To kill our beliefs.« Das Stück heißt »Wiederöffnen«. Wann wurde geschlossen? Tanz sei »poems, prayers, spells«.

»I want to start work on a new piece. A piece about rebirth. But Suzie, you will improvise freely at its heart. I am inte­rested in your instincts here. Allez!«
Suzie soll also impro­vi­sieren. Ihre Instinkte sind von mörde­ri­scher Gewalt. Ein Spie­gel­raum (das Spie­gel­sta­dium??) wird zum Ort der Vernich­tung.

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Es schneit im Oktober und sieht schön aus. Im Hinter­grund von allem, was hier geschieht, begleiten uns konstant Verweise auf den Deutschen Herbst, auf die Schleyer-Entfüh­rung, die Landshut-Entfüh­rung. »Klaus Croissant« steht in der Zeitung. Der »Spiegel« titelt: »Terror«. Verweise streifen Ereig­nisse: 1937, 1943 und 1977. Es wird im Dialog erwähnt, dass der entführte Hanns Martin Schleyer SS-Mitglied war, und Film­fi­guren empören sich darüber, dass ein SS-Mann auch 32 Jahre nach Hitlers Selbst­mord als Chef des deutschen Indus­tri­ellen-Verbandes tätig sein konnte. So wird deutlich: Schleyer war kein gewöhn­li­ches Opfer, und ohne Verbre­chen zu entschul­digen, ist vers­tänd­lich, warum die Wahl der RAF auf Schleyer fiel, nicht auf andere.
Ich mag diese Verweise, und mag es, dass die Eska­la­tion des Films just in jener Nacht sich ereignet, in der Schleyer hinge­richtet wurde. Kein Zufall.

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»What do you wish?« – »To die, I want to die«. Das sind Seventies-Kommen­tare, es geht um innere Grup­pen­dy­na­miken, Abschot­tung, um Bünde: Sekten, Nazis, RAF, die Paral­le­li­sie­rung kann man dumm finden, es ist aber kein Gleich­setzen hier, sondern ein kalei­do­sko­pi­sches Neben­ein­ander.

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Suspiria ist ein Horror­thriller, bei dem Dämo­ni­sches und Unheim­li­ches immer ein Spiegel von Tatsachen ist: Ob die Massen­morde der Nazi-Zeit, ob RAF-Terror und gesell­schaft­liche Paranoia, ob das kollek­tive Unbe­wusste der west­li­chen Gesell­schaften, ob die Psycho­ana­lyse des Mütter­li­chen – auf allen Ebenen kommt das Verdrängte zurück und entfaltet seinen Schrecken.
Der hexen­ar­tige Frauen-Bund ist für den Regisseur vor allem eine Folie, auf der er sehr schlau von fehl­ge­lei­teten Grup­pen­dy­na­miken erzählt und von kollek­tivem Wahn. »Mutter Markos, Mutter Meinhof«, sagt Ingrid Caven.

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Alles ist sehr frei, sehr schön. Ich mag, wenn Ingrid Caven singt »Guten Abend, gute Nacht«. Mir gefallen Sätze wie »Why is anyone so ready to think, the worst is over?« Und: »We need guilt and shame.«
Im Showdown in jenem leuch­tenden tiefen Rot heißt es »Death to any other mother.« Nur zu!

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Der Titel bedeutet »Seufzer«, und bezieht sich auf die »Mutter des Seufzens«, die in Argentos Mütter-Trilogie, nicht aber in christ­lich-alteu­ropäi­schem Kulturgut verankert ist.
Was ich an dem Film so großartig finde, ist wie er intel­lek­tuell kompli­zierte Konzepte – das »Simu­la­crum« Baud­ril­lards, die »Über­schrei­tung« Batailles – in sinnliche Gestalt verwan­delt.
Insgesamt ein anre­gender, schöner Film, auf den sich die Argento-Jünger und Puristen der Vergan­gen­heit aber nicht einlassen. Inter­es­santer ist, genau das zu tun.

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Frauen, Mütter, Hexen – diese Hexen sind in Suspiria doppelt und dreifach konno­tiert: Sie stehen für die bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Moderne, für den »Kapi­ta­lis­ti­schen Realismus«, wie er sich in den Werken Gerhard Richters und Sigmar Polkes zeigt. Wenn Ingrid Caven, Angela Winkler, Renée Souten­dijk und Tilda Swinton hier als Hexen auftreten (dazu Fred Kelemen in einem lustigen Kurz­auf­tritt als West-Berliner Polizist), dann nicht nur weil wir diese Darstel­le­rinnen gerne sehen. Sondern weil sie wie Ikonen und wandelnde Zitate für bestimmte Filme von Rainer Werner Fass­binder, Volker Schlön­dorff, Paul Verhoeven und Christoph Schlin­gen­sief stehen.

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Zudem dürfen wir beim Modern Dance zuerst an Pina Bausch denken, also wieder BRD-Moderne, dann auch an Mary Wigman und Martha Graham. Es wird überdies deutlich darauf verwiesen, die Dance-Compagnie habe im Dritten Reich Wider­stand geübt, bzw. ausge­halten und überlebt.

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Also: Frau­en­macht steht hier gegen Männer­macht, Hexen gegen Nazis – in einem ganz prin­zi­pi­ellen Sinn. Die Taten der Hexen werden zu den Taten der RAF, werden zu einem Akt des Wider­standes, auch des symbo­li­schen, gegen das Überleben der Nazi-Macht in Gestalt west­deut­scher Wirt­schafts- und Beam­ten­e­liten. Oder wie es die Kollegin Beatrice Behn in ihrer bemer­kens­werten, sehr lesens­werten Kritik zu Suspiria mutig formu­liert: Die »Taten der RAF und der damit verbun­denen teils radikalen Aufar­bei­tung der Kriegs­ver­bre­chen der Nazis.«
Das was in der Tanz­schule geschieht, ist ein Spiegel der äußeren Verhält­nisse, nicht umgekehrt. So wie die Mütter laut einer Inschrift, die im Film früh zu sehen ist, den Platz aller anderen einnehmen können, aber selbst uner­setz­lich und unaus­tauschbar sind. Ein Simu­la­crum.
Diese Hexen sind vor allem Femi­nis­tinnen. Es geht um das Recht von Frauen, genau das Gleiche tun zu können, wie Männer. Sie dürfen frei sein, sie dürfen töten, sie dürfen lieben.