Sterne zum Dessert

À la belle étoile

Frankreich 2023 · 111 min. · FSK: ab 12
Regie: Sébastien Tulard
Drehbuch:
Kamera: Pierre Dejon
Darsteller: Riadh Belaïche, Loubna Abidar, Marwan Amesker, Dycosh, Phénix Brossard u.a.
Toxische Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur auf privater Ebene...
(Foto: 24 Bilder)

Bitterer Nachtisch

Sébastien Tulards Feelgood-Movie ist leider nicht ganz das ansonsten so perfekte »French-Dream-Kino« der letzten Jahre, erinnert aber immerhin pointiert an den Abgrund, an dem Frankreich steht

Der filmische Haupt­ex­port­ar­tikel des fran­zö­si­schen Kinos nach Deutsch­land der letzten Jahre ist sicher­lich das »French-Dream-Kino«. Perfekt insze­nierte Filme wie Ténor, Haute Couture oder Die Küchen­bri­gade erzählen im Kern die Geschichte, die auch das ameri­ka­ni­sche Kino in allen Varianten wieder und wieder vom American Dream erzählt: Den Aufstieg aus sozial prekären Verhält­nissen vom Teller­wä­scher zum Millionär. Was in den USA der Millionär ist, ist in Frank­reich aller­dings eher ein Berufs­seg­ment, das bislang Franzosen der Mittel- und Ober­klasse, vor allem aber ohne migran­ti­schen Hinter­grund vorbe­halten war: so wie der Opern­sänger in Ténor, die Schnei­derin in Haute Couture oder die begna­deten Köche der Küchen­bri­gade.

In die Küche verschlägt es auch irgend­wann den kleinen Yazid (Marwan Amesker), nachdem er es aus seinem prekären, sozialen Umfeld und weg von seiner völlig über­for­derten, allein­er­zie­henden Mutter Samia (Loubna Abidar) über eine Pfle­ge­fa­milie immerhin ins Kinder­heim geschafft hat, wo ein Erzieher seine Patis­serie-Talente nicht nur wahrnimmt, sondern auch anerkennt. Das Drehbuch von Cédric Ido basiert auf dem auto­bio­gra­fi­schen Roman Un rêve d’enfant étoilé von Yazid Ichem­rahen, der als Sohn marok­ka­ni­scher Eltern 1991 in der fran­zö­si­schen Klein­stadt Épernay geboren wurde und es nach einem fast schon plakativ-benach­tei­ligten Leben 2014 im Alter von 23 Jahren zum jüngsten fran­zö­si­schen Welt­meister des Eisdes­serts schaffte und inzwi­schen in Avignon seine eigene Pâtis­serie betreibt, Boutiquen auf Mykonos, in Gstaad und Katar besitzt und in sozialen Netz­werken sieben­stel­lige Follower-Zahlen aufweisen kann.

Tulard erzählt diesen Aufstieg mit allem, was an sozialer Tristesse und Kritik am fran­zö­si­schen Schul- und Ausbil­dungs­system dazu­gehört. Am stärksten gelingen ihm dabei die Beschrei­bung des ange­spannten fran­zö­si­schen Schul- und Erzie­hungs­sys­tems und die Szenen zwischen dem jugend­li­chen Yazid (Riadh Belaïche) und seiner Mutter Samia, das psycho­lo­gisch über­ra­schend akkurat als das toxische Abhän­gig­keits­ver­hältnis geschil­dert wird, das es allzu oft auch in der Wirk­lich­keit ist.

Ab dieser Stelle von Yazids Biografie verhakt sich Tulards Film dann leider auch immer wieder, wird die sinnvolle, gerad­li­nige Erzählung unnötig dekon­stru­iert, wodurch Leer­stellen entstehen, die sich kaum noch nach­voll­ziehen bzw. ergänzen lassen, etwa Yazids Weggang aus Paris und warum und wieso er aus dem Kinder­heim wieder zu den Pfle­ge­el­tern zieht, ohne dass im Vorfeld erklärt wird, warum er überhaupt von den fürsorg­lich geschil­derten Pfle­ge­el­tern ins Kinder­heim gewech­selt ist. Ebenso erratisch setzt Tulard seine musi­ka­li­sche Unter­ma­lung ein, die nur einmal durch betonte Rap-Einlagen auffällt, um dann ins musi­ka­li­sche Nirgendwo abzu­gleiten.

Doch weil sich Tulard mit seinem enthu­si­as­tisch aufspie­lenden Ensemble genug Zeit für die fach­li­chen Details, aber auch gnaden­losen Hier­ar­chien des Patis­serie-Handwerks Zeit lässt und es in schmack­haften Einstel­lungen dementspre­chend abbildet, macht Sterne zum Dessert immer wieder auch Spaß und berührt natürlich sowieso, denn es sind diese Geschichten, die nicht nur in Frank­reich jeder herbei­sehnt, um die düstere Realität einer zerris­senen Gesell­schaft wenigs­tens für einen Kino­be­such lang vergessen zu lassen.