So viel Zeit

Deutschland 2018 · 101 min. · FSK: ab 6
Regie: Philipp Kadelbach
Drehbuchvorlage: Frank Goosen
Drehbuch:
Kamera: Thomas Dirnhofer
Darsteller: Jürgen Vogel, Jeanette Hain, Richy Müller, Jan Josef Liefers, Armin Rohde u.a.
Grup­pen­the­rapie unter Freunden

Das Ende vom Lied

Es wäre einfach, Philipp Kadel­bachs Verfil­mung des Frank-Goosen-Romans »So viel Zeit« als klamau­kige Tragi­komödie zu disqua­li­fi­zieren. Denn natürlich gibt es in dieser irgendwie auch roman­ti­schen Ruhrpott-Geschichte genau die Zutaten dafür: weil Rainer (Jan Josef Liefers), der ehemalige Band­leader der Rockband »Bochums Steine«, einen Tumor diagnos­ti­ziert bekommt, will er in seinem Leben noch ein paar Fehler revi­dieren. Dazu gehört nicht nur, die Beziehung zu seinem halb­wüch­sigen Sohn zu repa­rieren, sondern auch die Band­ge­schichte, die er 30 Jahre zuvor nach­haltig zerstört hatte, zu reani­mieren und Freunde zu besuchen, die keine Freunde mehr sind.

Also eine etwas vorher­eh­bare Midlife-Buddy-Krisen-Geschichte, eine herz­zer­reißende Vater-Sohn-Suche und ein wehmü­tiger, selbst­mit­lei­diger Schwa­nen­ge­sang auf das Rockmusik-Milieu der 1980er? So könnte man es sehen und wer sich über die noto­ri­sche Zwang­haf­tig­keit des deutschen Films ärgert, auch noch die trau­rigste Befind­lich­keit mit pein­li­chem Humor zu sedieren, wird auch in So viel Zeit fündig, man denke nur an den völlig unnötigen Slap­stick­ver­such, als Konni (Matthias Bundschuh) bei den ersten Band­proben vom Stuhl kippt. Aber das ist bei Weitem und zum Glück nicht alles.

Denn Kadelbach, der bislang viel und erfolg­reich fürs deutsche Fernsehen (»Unsere Mütter, unsere Väter«, »Auf kurze Distanz«) gear­beitet, aber auch für die BBC eine Serie verant­wortet hat (»SS-GB«), lässt sich auch Zeit für anderes, schert immer wieder wohltuend aus dem erwähnten Kanon aus und zeigt sehr präzise, wie Leben unter der Gürtel­linie über einen langen Zeitraum funk­tio­niert, wie sich Menschen in ihren Ängsten mit einem Still­stand arran­gieren, den die Umwelt durchaus bemerkt und kriti­siert, der für den Betrof­fenen jedoch unsichtbar bleibt. Und genauso wohltuend ist es, diese versehrten Lebens­li­nien mit einem Ensemble besetzt zu sehen (Jan Josef Liefers, Jürgen Vogel, Armin Rohde, Richy Müller und Matthias Bundschuh), das im deutschen Fernsehen oft für weniger diffe­ren­zierte Rollen steht und immer wieder gegen den Strich gebürstet ist.

Vor allem in den Dialogen mit den wenigen Frauen im Film (Alwara Höfels, Laura Tonke und Jeannette Hain) und zwischen den ehema­ligen Freunden, gewis­ser­maßen den Schnitt­stellen der möglichen persön­li­chen Verän­de­rungen, gelingen Kadelbach immer wieder thera­peu­tisch und emotional dichte Momente, in denen auch ratloses Schweigen gestattet ist und ausge­halten wird – und vor allem Brüche als Brüche stehen­ge­lassen werden.

Dass So viel Zeit mit seinem Gespür für diese Brüche und die Versehrt­heiten seiner Prot­ago­nisten auch am Ende nicht alles vom Zaun bricht, sondern bei allen grup­pen­the­ra­peu­tisch durchaus vorher­seh­baren Heil­er­folgen und einem Gast­auf­tritt der legen­dären Scorpions dann doch der Tod weiterhin seine Schatten werfen darf, ist dem Drehbuch von Stefan Kolditz, Malte Welding und Thomas Sieben hoch anzu­rechnen.

Doch So viel Zeit ist nicht nur ein Film, der mit seiner Empathie und seinem Blick auf das Grauen des Alltags berührt: denn neben seinem Porträt einer Gene­ra­tion von geschei­terten Männern gelingt Kadelbach mit ruhigen Einstel­lungen vor Kraft­werken, düsteren Straßen­zügen und nächt­li­cher Industrie- und Stadt­ku­lisse auch das Porträt einer versehrten, geschei­terten Stadt, des auch in anderen Romanen  Goosens immer wieder auftau­chende Bochum. Und wie seinen Prot­ago­nisten ringt Kadelbach auch der Stadt eine Schönheit ab, die mit dem Scheitern versöhnt.