Die Sirene

La Sirène

F/D/L/B 2023 · 100 min. · FSK: ab 12
Regie: Sepideh Farsi
Drehbuch:
Musik: Erik Truffaz
Schnitt: Isabelle Manquillet, Grégoire Sivan
Gegenwart, Vergangenheit und Träume...
(Foto: Grandfilm)

Mutige Heldenreise in schweren Kriegszeiten

Die Exil-Iranerin Sepideh Farsi erzählt in ihrem farbenstarken ersten langen Animationsfilm eine pralle Heldenreise, die 1980 während des Iran-Irak-Krieges spielt

Anima­ti­ons­filme wie Perse­polis (2007) von Vincent Paronnaud und Marjane Satrapi sowie Teheran Tabu (2017) von Ali Soozandeh haben gezeigt, dass sie Sach­ver­halte und Vorgänge in der Isla­mi­schen Republik Iran zeigen können, die als Live-Action-Film nicht möglich wären. Das gilt auch für den Zeichen­trick­film Die Sirene der 1965 in Teheran geborenen Regis­seurin Sepideh Farsi, die seit 1984 in Frank­reich lebt. Sie hat seitdem etliche Kurz-, Doku­mentar- und Spiel­filme reali­siert. 2009 hat ihr Heimat­land sie wegen ihrer regime­kri­ti­schen Haltung verbannt. Die Geschichte eines Jungen während des ersten Golf­krieges (2000 bis 2008) hätte Farsi live vor Ort nicht drehen können. In ihren ersten langen Trickfilm sind zudem auto­bio­gra­phi­sche Elemente einge­flossen, erlebte sie doch die erste Hälfte des Krieges als Teenager noch im Iran.

In der irani­schen Ölme­tro­pole Abadan spielt Omid gerade mit seinen Freunden Fußball, als die ersten Raketen im Irak-Iran-Krieg vom Himmel fallen. Während sein älterer Bruder Ahmed sich sofort für die Streit­kräfte meldet, verlässt seine Mutter mit seinen beiden jüngeren Geschwis­tern die Hafen­stadt, die eine der größten Ölraf­fi­ne­rien der Welt beher­bergt. Omid bleibt mit seinem Großvater zurück. Weil er zu jung für den Mili­tä­rein­satz ist, macht sich der 14-jährige nützlich, indem er trotz der iraki­schen Artil­le­rie­an­griffe mit dem alten Motorrad seines verschol­lenen Vaters Essens­ra­tionen ausfährt. Während er vergeb­lich nach seinem Bruder sucht, wird die Stadt von feind­li­chen Truppen einge­kes­selt. Wie kann er helfen, die Menschen, die ihm nahe­stehen, zu retten? Als er im Hafen ein verlas­senes Schiff entdeckt, bringt ihn das auf eine wage­mu­tige Idee.

Der Film, der das dies­jäh­rige Panorama-Programm der Berlinale eröffnete, ist in einer merk­wür­digen Zwischen­zeit ange­sie­delt. Die Schah-Diktatur ist 1979 gerade gestürzt, die Revo­lu­ti­onäre um Ayatollah Ruhollah Chomeini haben die Macht über­nommen. Doch der Kriegs­aus­bruch über­la­gert den Wechsel der Dikta­turen fast völlig. Nur Plakate Chomeinis in den Straßen und das Auftritts­verbot für die einst berühmte Sängerin Elaleh, in deren Tochter Pari sich der Prot­ago­nist verliebt, verweisen auf die neue poli­ti­sche Lage mit Zensur und Unter­drü­ckung der Meinungs­frei­heit.

In den Straßen herrscht nun ein laut­starker Patrio­tismus vor, ihm kann sich auch Omid zunächst kaum entziehen. Doch inmitten der Kriegs­wirren lernt er schnell hinzu, kommt ins Nach­denken und übernimmt nach und nach Verant­wor­tung. Parallel dazu wandelt sich die anfäng­liche Coming-of-Age-Story in ein breit ange­legtes Familien- und Kriegs­drama mit einer märchen­haft über­höhten Helden­reise, die auf das biblische Motiv der Arche Noahs zurück­greift. Omid erkennt, dass er nicht alle retten kann, aber er versucht es wenigs­tens.

Leider erschließen sich west­li­chen Augen ohne tiefere Vorkennt­nisse nicht alle Vorgänge des Films, bei manchem Ritual oder Flashback wären etwas mehr Hinter­grund­in­for­ma­tionen hilfreich, ebenso wie zum Ausbruch des ersten Golf­kriegs. Auf der anderen Seite lässt sich die Erzählung manchmal reichlich Zeit, franst an den Rändern in weit­schwei­fige Episoden aus und vernach­läs­sigt darüber konven­tio­nelle, aber wirkungs­volle Span­nungs­bögen.

Den Schrecken des Krieges setzt Farsi ein reich­hal­tiges Arsenal voller exzen­tri­scher Figuren mit Spleens und seltsamen Gewohn­heiten wie einen Ex-Ingenieur mit Katzen­tick oder arme­ni­sche Priester, die noch immer Alkohol beschaffen können, sowie eine gute Portion skurrilen Humors entgegen. Etwa wenn iranische wie irakische Soldaten ihre Kämpfe unter­bre­chen, um im Fernsehen derselben Unter­hal­tungs­show zu frönen. Oder wenn Omid seinen unwil­ligen Kampfhahn trainiert.

Immer wieder lässt die Regis­seurin Gegenwart, Vergan­gen­heit und Träume inein­an­der­fließen. Wenn Omid zum Beispiel in Erin­ne­rungen an das vergleichs­weise liberale Leben mit Kinos, Musik und Frauen ohne Kopf­tüchern auf den Straßen vor der Revo­lu­tion schwelgt, schafft er zuweilen eine nost­al­gisch anmutende Atmo­sphäre, die an den Magischen Realismus denken lässt.

Dazu passen auch der eher einfache Zeichen­stil und die kräftigen Farben der Anima­tionen, bei denen oft Komple­men­tär­farben wie Blau und Rot für drama­ti­sche Effekte sorgen. Mit dieser Ästhe­ti­sie­rung gewinnen selbst Gewalt­mo­tive wie brennende Öltanks und Bomben­ex­plo­sionen in der Ferne eine ebenso irri­tie­rende wie faszi­nie­rende Strahl­kraft. Die Poesie mancher Bild­folgen wird adäquat unter­stri­chen durch die stim­mungs­volle Musik, in der tradi­tio­nelle Klänge mit Jazz­me­lo­dien und Popsongs verschmelzen. Auf dem Anima­ti­ons­film­fes­tival in Annecy gewann Erik Truffaz dafür den Preis für die beste Musik in einem Film des Inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs.