Silent Night – Stumme Rache

Silent Night

USA/Mexiko 2023 · 104 min. · FSK: ab 18
Regie: John Woo
Drehbuch:
Kamera: Sharone Meir
Darsteller: Joel Kinnaman, Kid Cudi, Harold Torres, Catalina Sandino Moreno, Vinny O'Brien u.a.
Stille Trauer, laute Rache...
(Foto: Leonine)

Break the Bad

John Woo liefert den besten Weihnachtsbeitrag seit langem – ein Selbstjustizfilm ohne Dialoge, der so befreiend ist wie zehn Stunden Gesprächstherapie

Lebt wohl, Güte, Menschen­freund­lich­keit, Dank­bar­keit… lebt wohl, ihr sämt­li­chen Gefühle, die das Herz aufgehen lassen! Ich habe mich an die Stelle der Vorsehung gesetzt, um die Guten zu belohnen… Jetzt möge der Gott der Rache mir sein Amt abtreten, um die Bösen zu bestrafen!
– Alexandre Dumas d.Ä., Der Graf von Monte Christo

Wenn bei all dem Weih­nachts­schmalz und über­bor­denden Erwar­tungs­hal­tungen an Harmonie und Glück die Aggres­sionen unaus­weich­lich eska­lieren, ist es Zeit ins Kino gehen. Das gilt natürlich auch für die übrigen Tage im Jahr, die geschei­terte Tage sind, weil unselige Mitmen­schen einen mal wieder rein­ge­legt haben. Also Zeit fürs Kino, Zeit für Selbst­jus­tiz­filme, Zeit für die beste aller Therapien. Und das noch einmal mehr, wenn ein Altmeister seines Faches wie John Woo nach jahre­langer Hollywood-Abstinenz endlich wieder nach Hollywood zurück­kehrt.

Denn wir erinnern uns: nach seinen durch Bruce Lee inspi­rierten Lehr­jahren in Hongkong schuf Woo ikonische Meis­ter­werke wie A Better Tomorrow (1986), The Killer (1989) oder Hard Boiled (1992), sein letzter Film, bevor Woo in die USA migrierte und mit Filmen wie Broken Arrow (1996), Face/Off (1997) und schließ­lich Mission: Impos­sible II auch in Hollywood große Erfolge feierte. Doch Flops wie Wind­tal­kers (2002) und Paycheck (2003) und ein indif­fe­renter Ausflug ins Gaming-Metier ließen Woo 2008 nach Asien zurück­kehren, wo er mit chine­si­schen Groß­pro­duk­tionen wie Red Cliff (2008) und The Crossing (2014) mal mehr und mal weniger erfolg­reich war.

Mit 77 Jahren nun also Hollywood Take 2 und Filme machen, so wie die anderen alten Groß­meister, wie Martin Scorsese mit Killers of the Flower Moon oder Ridley Scott mit seiner ganz beson­deren Auslegung der Geschichte von Napoleon. Auch wenn einige Kritiker unken, dass die Altmeister alters­müde Filme machen, stimmt das natürlich nicht, ist es viel­leicht eher das Unver­s­tändnis über die neuen Frei­heiten, die sich die alte Garde nimmt, und damit etliche Film- und Geschichts­lieb­haber vor den Kopf stößt.

Auch bei John Woo ist das nicht anders. Denn warum da weiter­ma­chen, wo man aufgehört hat, warum nicht auch im Alter Risiken eingehen und mal etwas Neues auspro­bieren? Das bedeutet in Silent Night natürlich nicht nur, dem Weih­nachts­film seine Besinn­lich­keit zu nehmen, so wie Bob Dylan das vor ein paar Jahren mit seinen Weih­nachts­lie­dern gemacht hat. Woo erzählt von einem Heilig­abend im Jahr 2021, als der sieben­jäh­rige Sohn des Fami­li­en­va­ters Brian Godlock (Joel Kinnaman) ins Kreuz­feuer riva­li­sie­render Banden gerät und stirbt. Brian wird während der Verfol­gung der Täter verwundet und verliert wegen einer Schuss­ver­let­zung im Hals seine Stimme und kann mit seiner Frau Saya (Catalina Sandino Moreno) nicht nur nicht wirklich trauern, sondern auch nicht mehr reden. Zeit für ruhige Momente, Zeit wie sie der Graf von Monte Christo schon hatte, der Urvater und Meister der fiktiven Selbst­justiz, Zeit, um sich genau ein Jahr Zeit zu lassen und blutige Rache an allen Betei­ligten zu nehmen.

Woo unterlegt diese Zeit eisernen Schwei­gens natürlich mit allen Geräu­schen, die Alltag in einer ameri­ka­ni­schen Stadt nahe der mexi­ka­ni­schen Grenze so bietet. Geschrei, Poli­zei­funk, oder das gurgelnde Blut während der OP an Brians klaf­fender Wunde an Hals und Rücken. Doch bei all dem Tempo, das Woo seinem Film gibt, denn Brian muss ja wie so viele Selbst­jus­tizler erst einmal zu einem neuen Menschen werden, der kämpfen und schießen und grund­sätz­lich töten kann, ohne dass ihm dabei schlecht wird, nimmt sich Woo immer wieder Zeit für poetische Pausen, die sein Action-Kino immer auch charak­te­ri­siert und besonders gemacht haben. Ein über die Stadt ein Jagd­sze­nario beglei­tender roter Luft­ballon, ein Papa­gei­vogel vor dem Aufwachen, ein Weih­nachts­baum mit ungeöff­neten Geschenken, und einem Geschenk, das erst ganz am Ende ausge­packt werden wird. Woo verschneidet die Tränen von Saya mit den fallenden Patro­nen­hülsen von Brian und überführt seinen Helden ironisch und mit einem wilden Augen­zwin­kern in einen Neo-Western, indem er ihm als neue Heimat einen roten Ford Mustang anver­traut, mit dem er durch die Stadt rast und die Arbeit der Sheriffs erledigt und langsam die Übermacht der mexi­ka­ni­schen Banden­kar­telle ins Wanken bringt

Wie Woo das ohne Dialoge und große Worte, aber mit einer markanten, konzen­trierten und dann wieder wilden Kamera (Sharone Meir) erzählt, ist so erfri­schend wie andere gelungene Selbst­justiz- und Rache­dramen der letzten Jahre, wie etwa Ilja Naischul­lers Nobody oder Xavier Gens’ Farang. Woo inte­griert charak­ter­lich aber auch Elemente aus Breaking Bad, schauen wir einem normalen Mann doch bei seiner Trans­for­ma­tion zu etwas ganz Neuem zu, der Hinwen­dung zum Bösen. Dass das nicht so einfach und stereotyp funk­tio­niert, zeigt Woo über einen weiteren lyrischen Moment, über eine Spieluhr des toten Sohnes von Brian, die Brian vor jeder neuen gewalt­tä­tigen Eska­la­tion aufziehen und abspielen muss, um sich in »Stimmung« zu bringen. Das ist, anders als in Breaking Bad, zutiefst rassis­tisch und trum­pis­tisch, doch Woo macht diese Tabu­brüche am Ende natürlich wieder gut.

Denn auf wunder­bare Weise zollt Woo dann doch noch Weih­nachten den Tribut und einen Moment aus Schmalz und Kitsch, den sich dann ja doch jeder irgendwie, irgend­wann insgeheim wünscht, wie sehr er Weih­nachten auch hassen mag, begegnen wir nicht nur einem mexi­ka­ni­schen Weih­nachts­mann und der mit Heroin voll­ge­pumpten Mutter Maria, sondern sehen in Weih­nachts­ku­geln die Welt denn endlich so, wie sie eigent­lich hätte sein müssen, nein, mehr noch: wie sie sein sollte.