USA/Mexiko 2023 · 104 min. · FSK: ab 18 Regie: John Woo Drehbuch: Robert Archer Lynn Kamera: Sharone Meir Darsteller: Joel Kinnaman, Kid Cudi, Harold Torres, Catalina Sandino Moreno, Vinny O'Brien u.a. |
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Stille Trauer, laute Rache... | ||
(Foto: Leonine) |
Lebt wohl, Güte, Menschenfreundlichkeit, Dankbarkeit… lebt wohl, ihr sämtlichen Gefühle, die das Herz aufgehen lassen! Ich habe mich an die Stelle der Vorsehung gesetzt, um die Guten zu belohnen… Jetzt möge der Gott der Rache mir sein Amt abtreten, um die Bösen zu bestrafen!
– Alexandre Dumas d.Ä., Der Graf von Monte Christo
Wenn bei all dem Weihnachtsschmalz und überbordenden Erwartungshaltungen an Harmonie und Glück die Aggressionen unausweichlich eskalieren, ist es Zeit ins Kino gehen. Das gilt natürlich auch für die übrigen Tage im Jahr, die gescheiterte Tage sind, weil unselige Mitmenschen einen mal wieder reingelegt haben. Also Zeit fürs Kino, Zeit für Selbstjustizfilme, Zeit für die beste aller Therapien. Und das noch einmal mehr, wenn ein Altmeister seines Faches wie John Woo nach jahrelanger Hollywood-Abstinenz endlich wieder nach Hollywood zurückkehrt.
Denn wir erinnern uns: nach seinen durch Bruce Lee inspirierten Lehrjahren in Hongkong schuf Woo ikonische Meisterwerke wie A Better Tomorrow (1986), The Killer (1989) oder Hard Boiled (1992), sein letzter Film, bevor Woo in die USA migrierte und mit Filmen wie Broken Arrow (1996), Face/Off (1997) und schließlich Mission: Impossible II auch in Hollywood große Erfolge feierte. Doch Flops wie Windtalkers (2002) und Paycheck (2003) und ein indifferenter Ausflug ins Gaming-Metier ließen Woo 2008 nach Asien zurückkehren, wo er mit chinesischen Großproduktionen wie Red Cliff (2008) und The Crossing (2014) mal mehr und mal weniger erfolgreich war.
Mit 77 Jahren nun also Hollywood Take 2 und Filme machen, so wie die anderen alten Großmeister, wie Martin Scorsese mit Killers of the Flower Moon oder Ridley Scott mit seiner ganz besonderen Auslegung der Geschichte von Napoleon. Auch wenn einige Kritiker unken, dass die Altmeister altersmüde Filme machen, stimmt das natürlich nicht, ist es vielleicht eher das Unverständnis über die neuen Freiheiten, die sich die alte Garde nimmt, und damit etliche Film- und Geschichtsliebhaber vor den Kopf stößt.
Auch bei John Woo ist das nicht anders. Denn warum da weitermachen, wo man aufgehört hat, warum nicht auch im Alter Risiken eingehen und mal etwas Neues ausprobieren? Das bedeutet in Silent Night natürlich nicht nur, dem Weihnachtsfilm seine Besinnlichkeit zu nehmen, so wie Bob Dylan das vor ein paar Jahren mit seinen Weihnachtsliedern gemacht hat. Woo erzählt von einem Heiligabend im Jahr 2021, als der siebenjährige Sohn des Familienvaters Brian Godlock (Joel Kinnaman) ins Kreuzfeuer rivalisierender Banden gerät und stirbt. Brian wird während der Verfolgung der Täter verwundet und verliert wegen einer Schussverletzung im Hals seine Stimme und kann mit seiner Frau Saya (Catalina Sandino Moreno) nicht nur nicht wirklich trauern, sondern auch nicht mehr reden. Zeit für ruhige Momente, Zeit wie sie der Graf von Monte Christo schon hatte, der Urvater und Meister der fiktiven Selbstjustiz, Zeit, um sich genau ein Jahr Zeit zu lassen und blutige Rache an allen Beteiligten zu nehmen.
Woo unterlegt diese Zeit eisernen Schweigens natürlich mit allen Geräuschen, die Alltag in einer amerikanischen Stadt nahe der mexikanischen Grenze so bietet. Geschrei, Polizeifunk, oder das gurgelnde Blut während der OP an Brians klaffender Wunde an Hals und Rücken. Doch bei all dem Tempo, das Woo seinem Film gibt, denn Brian muss ja wie so viele Selbstjustizler erst einmal zu einem neuen Menschen werden, der kämpfen und schießen und grundsätzlich töten kann, ohne dass ihm dabei schlecht wird, nimmt sich Woo immer wieder Zeit für poetische Pausen, die sein Action-Kino immer auch charakterisiert und besonders gemacht haben. Ein über die Stadt ein Jagdszenario begleitender roter Luftballon, ein Papageivogel vor dem Aufwachen, ein Weihnachtsbaum mit ungeöffneten Geschenken, und einem Geschenk, das erst ganz am Ende ausgepackt werden wird. Woo verschneidet die Tränen von Saya mit den fallenden Patronenhülsen von Brian und überführt seinen Helden ironisch und mit einem wilden Augenzwinkern in einen Neo-Western, indem er ihm als neue Heimat einen roten Ford Mustang anvertraut, mit dem er durch die Stadt rast und die Arbeit der Sheriffs erledigt und langsam die Übermacht der mexikanischen Bandenkartelle ins Wanken bringt
Wie Woo das ohne Dialoge und große Worte, aber mit einer markanten, konzentrierten und dann wieder wilden Kamera (Sharone Meir) erzählt, ist so erfrischend wie andere gelungene Selbstjustiz- und Rachedramen der letzten Jahre, wie etwa Ilja Naischullers Nobody oder Xavier Gens’ Farang. Woo integriert charakterlich aber auch Elemente aus Breaking Bad, schauen wir einem normalen Mann doch bei seiner Transformation zu etwas ganz Neuem zu, der Hinwendung zum Bösen. Dass das nicht so einfach und stereotyp funktioniert, zeigt Woo über einen weiteren lyrischen Moment, über eine Spieluhr des toten Sohnes von Brian, die Brian vor jeder neuen gewalttätigen Eskalation aufziehen und abspielen muss, um sich in »Stimmung« zu bringen. Das ist, anders als in Breaking Bad, zutiefst rassistisch und trumpistisch, doch Woo macht diese Tabubrüche am Ende natürlich wieder gut.
Denn auf wunderbare Weise zollt Woo dann doch noch Weihnachten den Tribut und einen Moment aus Schmalz und Kitsch, den sich dann ja doch jeder irgendwie, irgendwann insgeheim wünscht, wie sehr er Weihnachten auch hassen mag, begegnen wir nicht nur einem mexikanischen Weihnachtsmann und der mit Heroin vollgepumpten Mutter Maria, sondern sehen in Weihnachtskugeln die Welt denn endlich so, wie sie eigentlich hätte sein müssen, nein, mehr noch: wie sie sein sollte.