Sicko

USA 2007 · 122 min. · FSK: ab 6
Regie: Michael Moore
Drehbuch:
Kamera: Christoph Vitt
Schnitt: Geoffrey Richman, Christopher Seward, Dan Swietlik
Michael Moore im Krankenhaus

Ungesunder Gewinn

Die Fakten sind so unglaub­lich wie skandalös: »We don’t consider that life­threa­tening«, »Wir halten das nicht für lebens­be­dro­hend.« – so antwor­tete eine US-Kran­ken­kasse einer Patientin mit einem Hirntumor, und lehnte die Behand­lung ab. Und tausenden von Rettern des »11. September 2001«, Feuer­wehr­leuten und Poli­zisten aus New York, verwei­gert die Staats­kassen bis heute die Kostenüber­nahme zur Behand­lung ihrer Verlet­zungen, weil sie ja zum Zeitpunkt der Kata­strophe nicht im Dienst gewesen seien, ihre frei­wil­lige Hilfe also privates Risiko gewesen sei – wer solche Kran­ken­kassen hat, braucht keine Terro­risten mehr.

Sicko handelt vom US-Gesund­heitsystem, bzw. was von ihm noch übrig ist. US-Doku­men­tar­filmer Michael Moore (Fahren­heit 9/11) zeigt ein Horror­ka­bi­nett, in dem das Gesund­heits­wesen sein Handeln nicht mehr auf die Gesund­heit der Menschen, sondern auf die Gewinn­ma­xi­mie­rung der Aktionäre ausge­richtet hat. Hier gibt es Ange­stellte, die offen dazu da sind, Gründe zu erfinden, um eine Behand­lung abzu­lehnen. Moore erzählt auch die Geschichte der Verteu­fe­lung staat­li­cher Gesund­heits­ver­sor­gung in den USA.

Sicko ist eine klas­si­sche Michael-Moore-Doku­en­ta­tion. Hart am Rande des Agitprop bietet Moore wieder ein Stück Gegen­pro­pa­ganda gegen den Main­stream, der mitunter in Gefahr ist, selbst Main­stream zu werden, der in seiner tenden­ziösen, plumpen, offen pamphle­tis­ti­schen Form selbst ein Kind des Zeit­geists der Epoche des »Trash-TV« ist. Vor allem Moores Sendungs­be­wusst­sein macht miss­trau­isch, seine Aufspal­tung der Welt in Gut und Böse, die ihn seinem Intim­feind George W. Bush manchmal erschre­ckend ähnlich werden lassen. Für Europäer ist Sicko zudem mit dem Beige­schmack des »typisch Ameri­ka­ni­schen« behaftet.

Doch diese Mängel und Einsei­tig­keiten sollten nicht ablenken, sie sind oft auch nur ein dankbar ange­nom­mener Grund, um sich nicht mit den Fakten ausein­an­der­setzen zu müssen. Denn aller Einwände zum Trotz besitzt der Film eine Fülle erhel­lender Momente, und enthält auch für Europäer viele Einsichten. Denn man sollte keines­falls glauben, es ginge in Sicko nur um die USA. Der Abbau der west­li­chen Sozi­al­sys­teme und die Ameri­ka­ni­sie­rung des Wohl­fahrts­staats ist auch in Europa tagtäg­lich in vollem Gange – so gesehen ist Sicko ein Blick in unsere eigene Zukunft.