Sherlock Holmes

USA 2009 · 128 min. · FSK: ab 12
Regie: Guy Ritchie
Drehbuch: , ,
Kamera: Philippe Rousselot
Darsteller: Robert Downey jr., Jude Law, Rachel McAdams, Mark Strong, Eddie Marsan u.a.
Ein Blick hinter die Masken und Widersprüche der Gesellschaft

»The little details are the far most interesting.«

Der anti­prag­ma­ti­sche Ratio­na­list: Ein James Bond des 19. Jahr­hun­derts

Rauchen verboten! Das gilt auch für Sherlock Holmes, der hier alles darf, sich aber den Ritualen der Körper­po­litik des 21. Jahr­hun­derts doch skla­vi­scher als erwartet zu fügen hat: Koksen geht schon, rauchen nicht, und regel­mäßiger Sport ist im Zweifel auch wichtiger als tägliche Lektüre. Dies ist der Sherlock Holmes für die post­mo­derne Block­buster-Ära, ein Film, der lärmend ist und berechnet, immer etwas zu aufge­blasen, und der aus lauter Einzel­teilen besteht, die nicht ganz zusam­men­passen. Wenn man dies alles aber mal außer Acht lässt, dann ist der Film keines­wegs doof und macht über­ra­schend viel Spaß.

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»My life is spent in one long effort to escape from the common­places of existence. These little problems help me to do so.«
Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyle: The Red-Headed League

Man hat ihn mögli­cher­weise einfach ganz lange miss­ver­standen: In Wahrheit ist Sherlock Holmes ein Decadent, drogen­süchtig, gelang­weilt, verspielt; ein Großbürger, der sich abge­stoßen fühlt von der Durch­schnitt­lich­keit seiner Zeit, die er fliehen will; er hat auch psycho­ti­sche Züge, und bei aller Begabung wäre er ohne Watson im vikto­ria­ni­schen London des hoch­mo­dernen Zeit­al­ters der Massen nahezu lebens­un­fähig – ein Anti­prag­ma­tist jeden­falls, ein Eskapist und Aben­teurer.
All diesen Elementen der Vorlage bleibt Guy Ritchie ganz treu, und der Regisseur von so ansehn­li­chen, aber doch bei allem Charme ästhe­tisch wie intel­lek­tuell eher dürftigen Werken wie Lock, Stock & Two Smoking Barrels hat sich hier selbst über­troffen.

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Zu spät kommen darf man nicht, denn rasant, mit einer Art Film im Film, geht es los: Eine Kutsche wird verfolgt, in atemloser Hatz, mit berau­schendem, den Betrachter dezen­trie­renden und bewusst täuschendem Schnitt, mit wech­selndem Film-Tempo, zu dem auch Zeit­lu­pen­ein­lagen gehören – durch eine Londoner Nacht, die sich aus Düsternis, Nebel, Regen, Trottoir und gesichts­losen Zylin­der­trä­gern zusam­men­setzt. Es fehlte einzig noch, dass gleich um die Ecke auch Jack the Ripper auftauchte.

Ein anderer Serial-Killer ist es dann, der hier alle in Atem hält. Lord Blackwood heißt er und will gerade seinen sechsten Ritu­al­mord begehen – nackte Jung­frauen in einer Abtei, mit Kerzen, Blut und was sonst zum Schwarze-Messe-Rundum­paket gehört –, als ihm Holmes und Watson zuvor­kommen: Zwei durch­trai­nierte, gutaus­se­hende Männer, Kampf­spor­ter­probt, wie sie schon in den ersten Szenen unter Beweis stellen, wenn sie Black­woods Schergen außer Gefecht setzen.

Guy Ritchies Sherlock Holmes ist fraglos eine moder­ni­sierte – manche würden sagen: post­mo­der­ni­sierte – Version des Stoffes. Inspi­riert wurde sie nicht allein von der Story-Vorlage von Arthur Conan Doyle, sondern auch von den Comi­cbüchern, den Graphic Novels von Lionel Wigram. Trotzdem bleibt sie auch ihrer Original-Vorlage durchaus treu, die zu den meist­ver­filmten der Kino­ge­schichte gehört, wenn sie auch selbst mit Basil Rathbone, der in den 1940er-Jahren nicht weniger als 14-Mail als Sherlock Holmes auf der Leinwand stand, sogar gegen Nazis kämpfte und bald Teil der Sherlock-Holmes-Ikono­gra­phie wurde, nie so erfolg­reich war, wie zum Beispiel James Bond oder Graf Dracula, die ja beide auch aus London stammen. Früh schon gab es Parodien und Umde­fi­ni­tionen, die das Original zum Spiel­ma­te­rial machten, ob die Nazi-Schmon­zette Der Mann, der Sherlock Holmes war – man darf diese Feier zweier Underdog-Betrüger und ihr Lied »Jawoll meine Herren« als Metapher aufs Nazi-Regime lesen –, oder Billy Wilders The Private Life of Sherlock Holmes, der Homes als Koka­in­süch­tigen und Schwulen karikiert. Hier rückt der schwule Subtext noch starker in den Vorder­grund.

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Einfluss­reich ist Sherlock Holmes eher indirekt: Als Archetyp des Detektivs, des Priva­ter­mitt­lers in Krimi­nal­ge­schichten. Vorbild für zahllose Detektive der Popkultur von Hercule Poirot bis Nick Knat­terton. Denn während der karierte Tweed-Regen­mantel und die Kappe eher spätere Uten­si­lien sind, die in den Geschichten von Holmes-Erfinder Sir Arthur Conan Doyle allen­falls verein­zelt und nur am Rande vorkommen, kommt keine Sherlock-Holmes-Geschichte ohne mindes­tens zwei Aspekte aus, auf die auch dieser Film sehr viel Gewicht legt: Zum einen ist Holmes ein Priva­ter­mittler. Das heißt, er wahrt immer eine sehr gesunde Distanz zur Obrigkeit, bleibt skeptisch gegenüber ihrer Tendenz zur Über­wa­chung. Für ihn gibt es keinen Zweifel: Geht es um Polizei und Staat, ist Miss­trauen angesagt, aus Erfahrung und aus Gerech­tig­keits­sinn. Holmes arbeitet statt­dessen als Detektiv, den jedermann mieten kann.
Zum anderen sein Blick auf die Welt: Der Detektiv a la Conan Doyle ist nämlich ein Philosoph, seine Methode ist die arche­ty­pi­sche Erkennt­nis­weise der Moderne. Er ist ein Flaneur, der Empi­rismus und Beob­ach­tungs­gabe mit Ratio­na­lität verbindet – ein klas­si­scher Aufklärer.

Und es ist ja kein Zufall, dass das Wort Aufklä­rung für das Projekt der Moderne seit dem 18. Jahr­hun­dert genauso gilt, wie für die Tätigkeit von Krimi­na­ler­mitt­lern. Die Vor- und Gegen­mo­derne ist das eigent­liche Verbre­chen und die Scham der Mensch­heit, die der drin­genden Aufklä­rung bedarf. Und darum ist der Blick des Verbre­cher­ja­genden auch immer ein – fast sozio­lo­gi­scher – Blick auf die Gesell­schaft, ein Blick hinter ihre Masken und auf ihre Wider­sprüche, in ihre Abgründe.

Modern ausge­drückt bedient sich Holmes der Methode der Profiler: »The little details are the far most inte­res­ting.« Er sammelt Indizien. Er beob­achtet. Dabei ist Holmes aber eben gerade nicht so prag­ma­tisch wie CSI und andere fernseh-poli­zei­liche Leichen­fled­derer, der Unter­schied zwischen seiner Analyse und dem DNA-Beweis ist wie derjenige zwischen kriti­scher und tradi­tio­neller Theorie. Mit nichts kann man ihn so wenig iden­ti­fi­zieren, wie mit dem Bieder­sinn des »gesunden Menschen­ver­standes«, der allen­falls Watsons Attribut ist. Vielmehr ist er ein Hyper-Sensua­list, und Ritchies Stil ist für diese Inter­pre­ta­tion eines produktiv-über­emp­find­li­chen Holmes genau der richtige Regisseur: Die Welt ist hier alles, was CGI ist, folglich kann man in ihr herum­wan­dern, an sie heran­zoomen, sie aufblasen oder einschrumpfen, hinter sie treten oder von oben auf sie herab­schauen. So wie der Regisseur mit der Multi­per­spek­ti­vität – »ein Houdini der Orien­tie­rung im Raum« lautet die so schöne wie wahn­sinnig treffende Formu­lie­rung Bert Rebhandls in der FAS – expe­ri­men­tiert, spielt auch Holmes, und entfes­selt selbst die Wirk­lich­keit. Er ist dynamisch, schnell gelang­weilt, sein Verstand hält Nichtstun nicht aus: »I want problems. I want work.« Und seine Beob­ach­tung ist aktiv, subjektiv… »How did you see that?« fragt ihn Watson einmal: »Because I was looking for it.« Genie und Wahn. Aber ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode. Sherlock Holmes ist das Portrait eines Ratio­na­listen.

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Das alles verbindet nun den klas­si­schen Sherlock Holmes mit Guy Ritchies Holmes für das 21.Jahr­hun­dert. Denn der kämpft mit dem Verstand gegen den Funda­men­ta­lismus, er klärt auf. Und so legt er dem Mabuse-haften Magier und Geis­ter­be­schwörer Blackwood und seinen faschis­to­iden Allmacht­sträumen – »I will create an empire which will stay for millennia.« – das Handwerk. Diese Konfron­ta­tion ist ganz inter­es­sant: Welcher Gegensatz wird in ihr verhan­delt? Was ist die tatsäch­liche Antithese? Aufklä­rung vs. Funda­men­ta­lismus? Nein, dies nur an der Ober­fläche. Auch unter der Maske der Esoterik und der evan­ge­lis­ti­schen Erlöser-Massen­be­we­gung, des elitären Kults, den Blackwood kreiert, um sich seiner dann zu bedienen, verbirgt sich der »gesunde Menschen­ver­stand« einer tech­ni­schen Intel­li­genz, die Religion als »Opium fürs Volk« gebraucht, mit der sich notfalls sogar Panik entfes­seln lässt. Ob das nun auch als eine Analyse der Taliban taugt, wie zumindest im Film mitschwingt, ist die Frage. Eine These ist es immerhin: Der religiös Beseelte ist ein Trickser, der alles vermeint­lich Irra­tio­nale dann doch technisch rational mittels Maschinen, Geld und psycho­lo­gi­scher Mani­pu­la­tion produ­ziert. Der Religion ist ihm Zita­ten­schatz, Einschüch­te­rungs­mittel und Zeichen: Als Holmes und er sich im Todes­trakt treffen, zitiert dieser zunächst einmal die »Offen­ba­rung« des Johannes:

»And I stood upon the sand of the sea, and saw a beast rise up out of the sea, having seven heads and ten horns, and upon his horns ten crowns, and upon his heads the name of blasphemy./ And the beast which I saw was like unto a leopard, and his feet were as the feet of a bear, and his mouth as the mouth of a lion: and the dragon gave him his power, and his seat, and great authority./ And I saw one of his heads as it were wounded to death; and his deadly wound was healed: and all the world wondered after the beast./ And they worshipped the dragon which gave power unto the beast: and they worshipped the beast, saying, Who is like unto the beast? who is able to make war with him?«

Dann sagt dieser zu Holmes: »Wir nehmen einen langen Weg zusammen. … drei weitere Menschen werden sterben. Du hast das alles möglich gemacht.« Und bei der Hinrich­tung: »Death is only the beginning.« Er wird recht behalten. Der wahre Schurke bleibt hier ganz im Hinter­grund: Nur Unin­for­mierte können fragen, was denn wohl bloß »dieser komische Professor Macchiato oder so« soll, der alles unüber­sicht­lich macht. Auch hier ist der Film ganz bei seiner Vorlage: Professor Moriarty ist der große Gegen­spieler von Holmes.

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Der Film verbindet also ähnlich wie die letzten Batman-Folgen Elemente des hyper­mo­dernen Action­kinos – Martial-Arts, Coolness, Kinetik, dazu Schnitt­ge­witter und und eine Fülle digital herge­stellter Effekte – mit dem Reiz des Vikto­ria­ni­schen, zu dem London-Acces­soires wie die gerade im Bau befind­liche »Tower Bridge« (fertig­ge­stellt 1894 also muss die zeitlich nicht exakt verortete Handlung des Films vor diesem Datum spielen), wie Matsch, Schmutz, Elend, Bobbys und Scotland Yard, die Lebens­weisen der damaligen Zeit, ebenso gehören, wie gewisse Manie­rismen, mit denen man noch im deutschen »Edgar-Wallace-Film« das »typisch englische« garniert. Im Grunde, das ist der eine Wermuts­tropfen, hätte man daraus noch viel viel mehr machen können. Dieser Film gehört – wie manches von Tim Burton (z.B.: Sweeney Todd, Corpse Bride, Sleepy Hollow); wie V for Vendetta, wie From Hell – von seinem Aroma her ins Zeitalter der Massen, in die Hoch­mo­derne zwischen 1880 und 1930.

Der zweite Wermuts­tropfen ist der, dass dieser Holmes zwar sehr sehr unter­haltsam und spannend ist, aber irgendwie auch wirkt, wie ein James Bond des 19. Jahr­hun­derts. Immerhin darf Robert Downey Jr. den jetzt auf diese Weise spielen und ist hier stre­cken­weise fast zu gut für den ganzen Film. Gründe also sich auf diesen Holmes zu freuen und auf seine bereits sicheren Fort­set­zungen. Koksen darf Holmes übrigens immer noch, nur rauchen leider nicht mehr.