Sehnsucht

Deutschland 2006 · 85 min. · FSK: ab 12
Regie: Valeska Grisebach
Drehbuch:
Kamera: Bernhard Keller
Darsteller: Andreas Müller, Ilka Welz, Anett Dornbusch, Erika Lemke u.a.

Die Fallen des Lebens

Ein Lob des Unbe­ha­gens

Ein einfache Geschichte. Ein Mann und eine Frau in einem bran­den­burger Dorf. Vater, Mutter, Kind, Fami­li­en­glück, fast ein Krip­pen­spiel. Unschuld zwischen Einbauküche und frei­wil­liger Feuerwehr, ein eher enges Klein­bür­ger­da­sein. Dann gibt es noch eine Frau. Ein Blick zuviel, Ehebruch, Schuld­ge­fühle, er kann sich nicht entscheiden, alles kommt raus und er will sich erschießen – so einfach ist das.

So einfach? Die Einfach­heit, die vermeint­liche vor allem, ist in Valeska Grise­bachs zweitem Film (Sie debü­tierte mit Mein Stern) auch ein Versteck. Es gibt gleich mehrere Fallen, in die hinein­zu­tappen einen Sehnsucht verleitet. Die größte ist die Falle der Banalität und des Realismus. Grisebach hat mit Laien gear­beitet, und ihre Figuren sind nach herkömm­li­chen Maßstäben nicht schön und schon gar nicht glamourös. Zudem reden sie daher, wie ihnen auf dem Land der Schnabel gewachsen ist, nicht in ganzen Sätzen, wie sie akade­misch geschulte Dreh­buch­au­toren gern aufschreiben, sondern in kurzen Satz­bruch­s­tü­cken – wenn sie denn überhaupt reden, denn meist sind Grise­bachs Figuren maulfaul und stur und spröde.

Die implizite Behaup­tung, dass das darum aber alles »ganz realis­tisch« sei und dass »normale« oder »einfache« Menschen »so sind«, die großen Gefühle jedermann, nicht nur Schöne und Reiche, berühren können, und ihr Recht auch ohne große Insze­nie­rung brauchen, ist die erste Falle, die der Film bereit­hält. Denn das ist eine Selbst­ver­s­tänd­lich­keit, die, zuende gedacht, nur darüber hinweg täuscht, dass die ober­fläch­liche Schlicht­heit hier auf sehr genau kalku­lierter Reduktion beruht, dass sie von Grisebach mit viel Sorgfalt herge­stellt ist. Manche Dialoge sind so künstlich wie es sich für Kunst gehört. Ihre Laien hat sie gecastet wie andere Regis­seure auch, nur dass sie nicht zwischen 200 Kartei­karten der Schau­spiel­agen­turen entschied, sondern 200 Menschen auf der Straße ansprach.

Ruhig und episch ist auch der Ton der Kamera. Die 1968 geborene Regis­seurin ist spätes­tens, nachdem Sehnsucht im Berlinale-Wett­be­werb lief und zumindest bei der auslän­di­schen Presse gefeiert wurde, einer der Stars der »Berliner Schule«, jener losen Gruppe junger deutscher Filme­ma­cher, die in der Haupt­stadt versuchen, ein Kino mit strengen Kunst­an­spruch jenseits der üblichen Konven­tionen zu machen und die sich nicht den Zwängen des Unter­hal­tungs­kinos oder des Fern­se­hens unter­werfen. Bei allen Unter­schieden im Detail eint diese Regis­seure eine Kamera, die nie forciert, die ganz genau beob­achtet, die in einem Raum, auf einer Figur verharrt und der Verzicht auf ein Erzählen über das Stil­mittel des Film­schnitts.

Daran, dass die Bilder hier einen anderen Platz einnehmen, muss man sich erst wieder gewöhnen. Doch wenn man ein wenig »hinein­ge­kommen« ist, kann man ein ganz anderes Hingucken lernen. Ein wenig aller­dings verrät die Regis­seurin ihren Ansatz am Ende selbst, als ob sie ihrem Film und sich selbst dann doch nicht traut. Da gibt es nämlich eine Szene, in der, nachdem alles Drama­ti­sche geschehen ist, kleine Kinder für die Zuschauer zusam­men­fassen, wie es dann weiter­geht. Das ist schön, lustig, neckisch und ein völliger Bruch mit dem Vorhe­rigen. Wer Sehnsucht einmal im voll­be­setzten Kino gesehen hat, konnte erleben, wie die Anspan­nung der Zuschauer, ihr Unbehagen, sich in diesem Moment auflöst in Wohl­ge­fallen. Nun ist die Welt doch wieder in Ordnung, nun können sie den Film, der mit sämt­li­chen Verläss­lich­keiten ihres Koor­di­na­ten­sys­tems aufräumt, wieder einordnen und den Film vergessen. Aber um die vorherige Anspan­nung und das Unbehagen müsste es gerade gehen. Diese Szene ist ein trauriger Fehler, nichts anderes.

Was Sehnsucht über viele deutsche Filme heraus­hebt, ist nicht, dass er Mut zum Kontem­pla­tiven hat, nicht, dass er ein Melodram ist, dass er »auch« »irgendwie« von der Liebe handelt, »nur anders«, und auch nicht, dass es um Dinge geht, »die jeder kennt«, nicht sein Realismus und seine Alltäg­lich­keit. Im Gegenteil läuft der Film manchmal trotz aller Poesie und aller Insze­nie­rung Gefahr, einen natu­ra­lis­ti­schen Chic zu bedienen und – wider Willen, versteht sich – seine Laien­dar­steller und das Leben seiner Figuren auszu­stellen. Aber Natu­ra­lismus ist im Kino meistens das Schlimmste.

Was Sehnsucht tatsäch­lich über viele deutsche Filme heraus­hebt, ist das, was er beim Zuschauer erzeugt: Unbehagen. Dass er ihm die Mittel des Kinos bewusst macht, indem er auf manche verzichtet und andere, unge­wohnte gerade benutzt. Er verrät uns etwas über das Kino. Um das fest­zu­stellen, braucht man kein Reden über tiefere Bedeutung und reinere Bilder. Es gibt ganz wunder­bare Momente und Bilder in diesem Film, die ganz für sich selbst stehen, etwa die Tänze zu Robbie Williams' Feel und Harpos Movie Star, und das Besäufnis mit den Feuer­wehr­kol­legen: »Prost, prost Kameraden!«

Dass der Film Sehnsucht heißt, erklärt sich auch nur zum Teil durch das unge­stillte Verlangen der Figuren nach irgend­etwas, von dem sie – wie wir alle – wohl selbst nicht ganz genau wissen, was es ist. Valeska Grise­bachs Sehnsucht handelt auch von der Sehnsucht nach einem Kino, das uns etwas entdeckt und zeigt, jenseits dessen, was man schon tausend­fach gesehen hat.