Pola X

»(...) when at last the idea obtruded, that the wiser and the profounder he should grow, the more and more he lessened the chances for bread«.
Herman Melville: Pierre or The Ambi­gui­ties
»We take up novels to be amused – not bewil­dered, – in search of pleasure for the mind – not in pursuit of cloudy meta­phy­sics; and it is no refresh­ment after the daily toils and troubles of life, for a reader to be soused into a torrent rhapsody uttered in defiance of taste and sense.«
Athenaeum, Bespre­chung von Pierre, 1852

Ja, dieser Film ist eine Zumutung. Aber das ist noch lange kein Grund, ihn nicht zu schätzen.
Pola X handelt gewiss nicht umsonst von einem jungen, genia­li­schen Künstler, der auf der Suche ist nach dem großen Tabubruch, der ihn endgültig heraus­schleu­dern wird aus den Grenzen der gemeinen Gesell­schaft – und was Léos Carax schon jetzt offenbar gelungen ist mit diesem Film ist, sich gründlich heraus­zu­schus­sern aus dem Kreis der Günst­linge von Kritik und Publikum (in den ihn Filme wie Les amants du Pont-Neuf so schön gebracht hatten), sich ordent­lich ins Abseits zu stellen.

Pola, das ist das Akronym von »Pierre ou Les ambi­guités«, dem fran­zö­si­schen Titel von Herman Melvilles Roman Pierre or The Ambi­guitie. X, das meint mettre sous rasure, durch­strei­chen, aus-x-en, aber so, dass darunter der alte Text lesbar bleibt.
Es ist ein akkurates Bild dafür, was Léos Carax mit der Buch­vor­lage macht. Der Plot von Pierre ist bis in viele Einzel­heiten noch klar erkennbar – die Geschichte des jungen Mannes, der sich von seiner unschulds­weißen Familie abkehrt und, ge- und verführt von seiner dunklen Halb­schwester, in einer radikalen Künst­ler­kom­mune der Welt mit einem großen Roman die Maske herun­ter­reissen will.
Aber nicht nur ist all das vom Amerika des 19. Jahr­hun­derts verlegt in’s heutige Frank­reich, sondern (auch das mag X bedeuten) wie über Kreuz stehen Melville und Carax zum Geschehen. Je distan­zierter, ironi­scher der Roman­autor im Verlauf des Buches wird, je mehr zu Hause scheint sich der Filme­ma­cher zu fühlen. Wo Melville (spätes­tens seit Moby-Dick ohnehin eher kriti­scher Kommen­tator als schwär­mender Mitbastler des Projekts der – insbe­son­dere ameri­ka­ni­schen – Romantik) anzwei­felt, demon­tiert, parodiert, da greift Carax anschei­nend unge­bro­chen hinein in den vollen Sahnetopf roman­ti­scher Künst­ler­my­then.
Wenn er seinen Pierre schwarz­ge­wandet und hungernd, brabbelnd und mit Irrsinn im Blick die Manu­skript­seiten füllen lässt, dann gibt es keinen Erzähler, der darüber Witze reisst. Dann hat man das Gefühl, dass Carax durchaus sein Selbst­ver­s­tändnis des Künstlers zum Besten gibt. Der Inzest (bei Melville nur ange­deutet) rückt bei Pola X als Hardcore-Szene ausführ­lich und gänzlich unzwei­deutig (obgleich schwach ausge­leuchtet) ins Bild. Und will als Tabubruch (oder zumindest als Metapher für den totalen Tabubruch) ernst genommen werden.

Ich kann nicht behaupten, dass mir Pola X bei dem ersten und bisher einzigen Mal, wo ich ihn gesehen habe, wirklich gefallen hat. Er hat mich während seiner nicht uner­heb­li­chen Laufzeit stel­len­weise sogar arg genervt und geärgert. Aber er hat mich anschließend auch nicht so schnell losge­lassen, ist immer noch erstaun­lich präsent in meinem Kopf. Und insgesamt empfinde ich die Zumutung, das Ärgernis von POLA X aus meiner jetzigen Warte als durchaus produktiv.
Es ist ein Film, der beschäf­tigt; ein Film, mit dem man sich beschäf­tigen kann.
Dass die Post­mo­derne (in der wir uns, je nach Auffas­sung, entweder immer noch befinden oder aber an deren Folgen wir labo­rieren) der Romantik aufs Innigste verwandt ist, ist keine neue Erkenntnis (und kaum ein Roman beweist sie so schön wie Melvilles Moby-Dick) – und allein deshalb kann einem Pola X heute etwas angehen, ist es von Belang zu sehen, was passiert, wenn sich jemand auf komplexe Weise einem der Romantik so verpflich­teten Text wie Pierre in aktua­li­sierter Form annimmt.
Und wie virulent momentan vieler­orts die Sehnsucht ist nach dem Ausbruch aus dem »System«, wie stark die Suche nach Posi­tionen des Aussen, des Wider­stands, das zeigt (um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen) der Blick auf die Demos von Seattle ebenso wie Fight Club. Viel­leicht sind wir tatsäch­lich auf dem Weg, Pierre wieder ernster nehmen zu können und zu müssen, als es Melville noch konnte.

Persön­lich ist mein größtes Problem mit Pola X der Haupt­dar­steller Guillaume Depardieu, der auch aus der Fami­li­en­tra­di­tion seines berühmten Vaters Gérard auszu­bre­chen scheint – indem er mich keinen Moment über­zeugen konnte, nie die Ebene des offen­sicht­li­chen Spiels verließ.
Das zweit­größte Problem war für mich die Optik des Films, die mir – über­ra­schend bei Carax – seltsam glanzlos, banal, manchmal unbe­holfen erschien.
Und wie bereits ange­deutet: Ich bin nicht der Einzige, der mit dem Film Probleme hatte. In einem ist der Regisseur seiner Vorlage absolut treu geblieben – in Sachen kriti­schem und finan­zi­ellem Erfolg ist Pola X (selbst im kultur­be­flis­senen Frank­reich) nicht weniger ein Desaster, als es einst Melvilles Roman war.
Das allein aber sollte wohl beim vorschnellen Urteil schon vorsichtig stimmen, hat man die erheb­liche Aufwer­tung vor Augen, die »Pierre« im Lauf der Zeit erfahren hat.
Mag ja sein, dass Carax Film tatsäch­lich unrettbar mißlungen ist (voraus­ge­setzt, dass es soetwas überhaupt gibt – und dann auch nur, weil er zuviel gewagt hat, was, Scheitern hin oder her, erstmal löblicher ist als auf Nummer Sicher zu gehen). Oft aber macht das hektische Tages­ge­schäft blind für Größe, erfasst die einmalige Lektüre nicht das Wesent­lichste, fördert erst der distan­zier­tere Rückblick die eigent­liche Leistung eines (Film-)Texts zu Tage.
Mag also auch sein, dass Pola X nur verkannt ist – ich möchte nicht drauf wetten, aber für gut möglich halte ich es. Das letzte Wort zu diesem Film ist jeden­falls gewiss noch nicht gespro­chen.

Und auch das steht fest: Mit Pola X gibt Léos Carax schwer zu kauen – und nicht alles muss und sollte man wohl schlucken, was er da auftischt. Manchmal braucht’s halt aber auch mehr als löffel­weise gefüt­terten Babybrei. Nicht immer sind wir da, wo wir uns am wohlsten fühlen, am besten aufge­hoben. Es braucht manchmal gerade die Zumu­tungen, um weiter­zu­kommen.