Poor Things

USA/IRL/GB 2023 · 141 min. · FSK: ab 16
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch:
Kamera: Robbie Ryan
Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jerrod Carmichael u.a.
Spieglein, Spieglein an der Wand...
(Foto: Disney)

Frankensteins Tochter

Yorgos Lanthimos' Poor Things erzählt von viktorianischem Wissenschaftsglauben, weiblichem Empowerment und feministischer Befreiung

Zu Tisch geht es in dem neuen Werk Poor Things (Goldener Löwe von Venedig) des grie­chi­schen Ausnah­me­re­gis­seur Yorgos Lanthimos ziemlich grotesk zu: Dr. Godwin Baxter, von seinen Vertrauten viel­sa­gend »God« genannt, schiebt Essen in seinen Mund, nach getä­tigter Magen­saft­at­tacke rülpst er Seifen­blasen. Eine ausge­la­gerte Verdau­ungs­ap­pa­ratur aus blub­bernden Reagenz­kolben und Schläu­chen macht ihn zum Maschi­nen­men­schen, und auch sonst ist der Wissen­schaftler ein Kompo­situm: Sein Gesicht ist eine ziemlich zusam­men­ge­schus­terte Patchwork-Arbeit aus nicht passenden Haut­lappen – eine Para­de­vi­sage für Willem Dafoe, der ihn spielt. Ihm am langen Tisch gegenüber sitzt Bella, mit zartem Puppen­ge­sicht und außer­or­dent­li­chem oralen Vergnügen bei der Nahrungs­auf­nahme. Bella ist das Produkt von Dr. Baxter, der sie wie sein berühmter Vorfahre Dr. Fran­ken­stein aus dem Körper einer Toten geschaffen hat. Er hat die hoch­schwan­gere Selbst­mör­derin aus der Themse gefischt – das Gehirn des Unge­bo­renen treibt nun den Körper der wieder zum Leben erweckten erwach­senen Frau an. Bella ist seine Kreatur, die er geschaffen hat, ein Hybrid aus Frau und Baby.

Anders als im berühmten Monster-Mythos von Mary Shelley – eine geborene Godwin – kann die von Dr. G. Baxter geschaf­fene Kreatur einen Ausweg aus ihrer fremd­ver­schul­deten Monströ­sität finden. Am Ende wird sie die Mündig­keit ihres Geistes erlangen und die Selbst­be­stim­mung als Frau. Das ist nicht weniger als femi­nis­ti­sches Empower­ment.

Zu Beginn des Films sitzt sie, einge­schlossen vom Fisheye-Blick von Robbie Ryans Kamera, im grotesken Schwarz­weiß-Universum von Dr. Baxter. Es ist das Vikto­ria­ni­sche Zeitalter, die Kleider umrahmen das grimas­sie­rende Schnee­witt­chen­ge­sicht von Bella mit gigan­ti­schen Puffär­meln. Emma Stone performt das Kleinkind im Körper einer Erwach­senen durch eine bravouröse physische Wider­sprüchlickeit, ihr neugierig gestreckter Ober­körper balan­ciert gefähr­lich auf einer Wespen­taille, unter der staksig zwei nackte Beine die Welt erkunden. Dr. Baxter hat sich auf die Animation toter Körper kapri­ziert, die er durch die Trans­plan­ta­tion intakter Fremd-Gehirne belebt. Das Gothic-Anwesen des Wissen­schaft­lers ist von den fabulösen Beweisen seiner gelun­genen Tier­ver­suche bevölkert, da gibt es Gänse mit vier Beinen und Hühner, die bellen. Es ist ein Panop­tikum des vikto­ria­ni­schen Wissen­schafts- und Fort­schritts­glau­bens, und es macht irren Spaß, sich auf dieses schräge Wonder­land einzu­lassen. Kaum kommt man mit dem Schauen und Entdecken in dem über­bor­denden Szenen­bild hinterher, während sich die Augen doch eigent­lich auf der faszi­nie­renden Perfor­mance von Emma Stone fest­saugen und sich vor Willem Dafoe ein wenig fürchten wollen.

Das Drehbuch zu diesem wahn­wit­zigen Universum stammt vom Austra­lier Tony McNamara, eine Adaption des 1992 erschie­nenen Romans von Alasdair Gray, lesbar als schot­ti­sche Unab­hän­gig­keits­al­le­gorie. Deren poli­ti­sche Dimension wird bei Lanthimos univer­sell: Seine anar­chi­sche Figur Bella ist eine zunächst sehr unkor­rekte, dann entfes­selnd wirkende Anstif­tung zur Freiheit.

Die kindliche Neugier lässt Bella alsbald entdecken, dass sie Gemüse nicht nur in ihren Mund schieben kann, auch andere Körperöff­nungen eignen sich bestens dafür. Mit dem Entdecken ihrer Sexua­lität beginnt auch schon ihr Bildungs­roman, der sie auf einem jetzt farben­frohen Railmovie durch Europa und darüber hinaus führen wird. Bald kommt auch noch der Assistent von Baxter ins Spiel (Ramy Youssef), nachdem ihm Baxter das Bekenntnis zu »God« abge­nommen hat – schließ­lich könnten die Versuche mit den toten Lebewesen blas­phe­misch ausge­deutet werden. Max McCandles soll die rasanten Fort­schritte von Bella wissen­schaft­lich begleiten. Da er in dem verschro­benen Wesen aber auch die Frau erkennt, verliebt er sich in sie. Eine Heirat wird anberaumt, vor der Bella jedoch, ange­trieben von ihrer naiven Libido, flieht – die aben­teu­er­liche Fahrt von Bella in die Freiheit beginnt.

Lanthimos’ Poor Things erzählt Fran­ken­steins Monster, das Film­ge­schichte geschrieben hat, zum ersten Mal als femi­nis­ti­sche Version, und kreuzt ihn mit Tod Brownings berühmten Freaks. Hier stellen sich Fragen nach Moral und der grund­sätz­li­chen Unge­heu­er­lich­keit des Menschen, immer auch dekon­stru­ie­rend, was oder wer denn nun das eigent­lich Monströse sei. Die Befreiung von der Monströ­sität findet bei Lanthimos in einer Reihe lustvoll ausagierter System­spren­gungen statt. Bella ist das anar­chi­sche Kind von Louis Malles Zazie und die Tageshure von Luis Buñuels Belle de Jour. Immer wieder entzieht sie sich dem männ­li­chen Zugriff, am Ende des Films wird sich in einer ekla­tanten Ehe-Szene der Kreis zur Selbst­mör­derin, aus der sie geschaffen wurde, in einer ankla­genden Patri­ar­chats­kritik schließen.

Bella ist die Licht­ge­stalt in Lanthimos’ Werk, das mit ihr zu einem fantas­ti­schen Höhepunkt gefunden hat. Auch seine anderen, teils noch in der Grie­chi­schen Nouvelle Vague entstan­denen Filme – Dogtooth, Alpen, dann The Lobster, The Killing of a Sacred Deer und The Favourite – waren bereits angefüllt von außer­ge­wöhn­li­chen Alle­go­rien und grotesken mora­li­schen Anfor­de­rungen an die in der Humanity einge­sperrten Menschen. Einmal mehr sprengt er hier alle Konven­tionen, um auch dem Kino die fantas­ti­sche Naivität seiner Anfänge zurück­zu­geben – Poor Things ist ein radikales Bekenntnis für ein befreites Kino.

Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen

Yorgos Lanthimos’ Coming-of-Age Märchen ist eine so wilde wie kongeniale Literaturverfilmung, die alten Ideen zu neuem Glanz verhilft und Spaß und Erkenntnis ohne Ende verspricht

»Wir müssen, fern allem Idea­lismus, der uns nur über­for­derte, zuerst die eigene Person mit allen Unzu­läng­lich­keiten akzep­tieren, Geduld auch mit uns selbst erlernen. Dann könnten wir darauf vertrauen, dass den Einsichten in die Mecha­nismen der Verlo­gen­heit eine neue Aufrich­tig­keit nachreift.«
– Arno Plack, Ohne Lüge leben. Zur Situation des Einzelnen in der Gesell­schaft (1976)

Das erste, was mein Tennis­partner mich fragte, nachdem ich ihm noch vor dem ersten Spiel begeis­tert von Yorgos Lanthimos’ Poor Things erzählte, war eine ernüch­ternde Frage: »Gab es das nicht alles schon? Denk doch nur an den Klassiker des Body-Swap-Films schlechthin, an Tom Hanks besten Film, an Penny Marshalls BIG (1988), ein Kind in einem Erwach­se­nen­körper, das sagt, was es denkt, und falsch macht, was nur geht und dennoch unbe­hel­ligt davon­kommt! Oder geh noch weiter zurück, denk an das alte Grimmsche Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen – ein toller Held, der so wild und furchtlos neugierig wie Emma Stones Bella Baxter in die Welt zieht, um sie zu verstehen.«

Stimmt alles, und natürlich auch, dass die Idee, so richtig mal die Sau raus­zu­lassen und jedem zu sagen, was man denkt, und zu tun, was man will, egal wie groß der Tabubruch auch sei, besonders auf sexueller Ebene, schon die Gegen­kultur der 68er auf dem Schirm hatte, man lese dazu nur die Klassiker des Philo­so­phen Arno Plack, »Die Gesell­schaft und das Böse. Eine Kritik der herr­schenden Moral« (1967) oder »Ohne Lüge leben. Zur Situation des Einzelnen in der Gesell­schaft« (1976).

Und gleich­zeitig stimmt das natürlich auch alles nicht. Denn Yorgos Lanthimos, der seit seinem ersten großen Erfolg mit The Lobster – Hummer sind auch nur Menschen (2015) und dann in The Killing of a Sacred Deer (2017) und The Favourite – Intrigen und Irrsinn (2018) gezeigt hat, wie schwamm­gleich er aus den Bereichen Dystopie, Historie und Körper­kultur Ideen zu extra­hieren versteht, um sie dann kreativ und über­ra­schend in seine Bild­sprache zu trans­for­mieren, zeigt auch in seinem neuen, schon vor den Oscars preis­ge­krönten Film (Venedig, Golden Globes u.a.) genau diese Stärken und viel­leicht sogar noch ein paar mehr.

Denn Lanthimos greift dieses Mal ganz besonders tief in den Zauber­kasten der Inspi­ra­tion. Er nimmt sich Alasdair Grays 1992 erschienen Roman Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCand­less M.D. Scottish Public Health Officer vor, einen wilden, lite­ra­ri­schen Ritt aus Sozi­al­kritik, expe­ri­men­teller Schreib­weise und skurrilem Humor und überführt ihn zu einem wie immer sehr eigenen Stoff. Prolog, Epilog, Glasgow und noch eine ganze Menge mehr fliegt aus Grays Roman raus, doch es bleibt genug, um der Radi­ka­lität der mit Whitbread Award und Guardian Fiction Prize ausge­zeich­neten Vorlage gerecht zu werden.

Und es bleibt nicht nur genug, sondern Lanthimos fügt auch genug hinzu, verändert, trans­for­miert und extra­po­liert mit seinem Dreh­buch­autor Tony Mcnamara Dialoge aus Grays Roman, die so spitz und originell sind, dass selbst ein paar Hänge­par­tien in dem 142 Minuten langen Film damit locker aufge­fangen werden.

Denn so wie Greta Gerwigs Barbie ist auch Poor Things vor allem ein theti­scher Film, der mit Ideen und ihrer Geschichte spielt und jongliert, der alles in die Hand nimmt, und auch wieder fallen lässt, ohne weiter zu bohren; der Spaß am Spiel, aber kein Interesse an einer Wahrheit hat.

Somit ist dieser filmisch gewordene Entwick­lungs­roman auch alles und nichts. Er erzählt eine Fran­ken­stei­niade, die so grotesk wie Tim Burtons Fran­ken­weenie (2012) ist, aber alle Anspie­lungen auf Mary Shelley dann auch sein lässt, als Godwin Baxter (Willem Dafoe) seine Schöpfung Bella (Emma Stone) der Welt anver­traut. Nicht nur seinem Assis­tenten Max McCandles (Ramy Youssef), sondern auch dem Schwe­renöter und Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), der Bella mit auf eine Reise durch die Welt nimmt, auf der sich Bella allen nur möglichen Einflüssen aussetzt, um körper­lich und seelisch und vor allem intel­lek­tuell Erfah­rungen zu sammeln. Und aus einem wilden Kind in einem erwach­senen weib­li­chen Körper ohne Impuls­kon­trolle nach und nach eine selbst­be­stimmte, »kontrol­lie­rende« Frau wird.

Wer jedoch glaubt, dass in Poor Things irgend­welche femi­nis­ti­schen Dogmen einge­halten werden, liegt hier so falsch wie in Gerwigs Barbie. Zwar wird über das herrliche retro-futu­ris­ti­sche Set-Design, das an die Adele-Reihe von Jacques Tardi mit ganz ähnlichen Wissen­schaft­lern und ihren »Monstern« in einer monströs gestörten, »armen« Gesell­schaft erinnert, ange­deutet, dass in jeder Vergan­gen­heit immer auch ein Stück Gegenwart liegt. Mehr noch in der hier darge­stellten, uns ja so gefähr­lich nahen, vikto­ria­ni­schen Zeit, mit ihren verblas­senden Monar­chien, ihren Suffra­getten und einem moralisch kaum mehr zu bändi­genden Wissen­schafts-Ethos.

Aber auch das ist natürlich Quatsch mit Soße à la Lanthimos, darf sich hier einfach nur unge­zü­gelt feminin selbst­er­mäch­tigt werden und sei es auch mit den Mitteln klas­si­scher patri­ar­chaler Fantasien. Weil ja schon im nächsten Dialog die klas­si­sche Hier­ar­chie von neuem verdreht und verschwur­belt wird: »I am out of ink«, sagt Bella. »Then ink shall you have«, gibt ein inzwi­schen schon arg rampo­nierter und von Mark Ruffelo wunderbar gespielter Duncan Wedderburn zurück.

Und so geht es auch weiter, kreuz und quer, mal moralisch, dann wieder amora­lisch, episo­disch verdichtet, dann auch wieder ein wenig episch, aber stets mit blakendem Humor und grotesk dekon­stru­ie­render Wut – das alles von Emma Stone perfekt umgesetzt wird. Und dies sowohl durch eine im Laufe des Films sich subtil verwan­delnde Körper­sprache als auch eine durch groteske Muta­ti­ons­sprünge getrig­gerte gespro­chene Sprache, die von autis­tisch anmu­tenden Ausset­zern und dementspre­chenden körper­sprach­li­chen Verdre­hungen bis zu feinster Bildungs­sprache alles besitzt, was man auf dieser Welt so entdecken kann.

Doch als ob dieses Paket, diese manische, im gleichen Moment das eigene Menetekel stets wider­ru­fende Robin­so­nade der beson­deren Art, diese narrative Phan­tas­ma­gorie nicht schon reichen würde, setzt Lanthimos über Jerskin Fendrix’ irri­tie­rende Musik und Robbie Ryans immer wieder durch Fisheye-Perspek­tiven vermeint­liche Realität dekon­stru­ie­rende Kamera ein paar weitere, wunder­bare Bausteine auf sein Gebäude und hat bei allem fabri­zierten Irrsinn und logischen Pirou­etten am Ende sogar eine klare Botschaft zur Hand: Wir müssen uns gar nicht so wie in Nicolette Krebitz Wild befreien, indem wir uns zurück zu Kind und Tier bewegen, sondern wir sollten die Welt in all ihren Wider­sprüchen umarmen, halt so wie sie ist: komplex. Mehr Freiheit und Spaß und Erkenntnis geht kaum.

In Referenzgewittern

Arme Dinger: Yorgos Lanthimos' Poor Things ist ein postmoderner Ideenfilm, aber auch ein einfallsreiches, überbordendes Bilderspektakel

Luft­schiffe kreisen am Himmel, die Welt ist bunt und überladen. Dies ist ein Ideenfilm, überladen in jeder Hinsicht, aber auch ein über­bor­dendes visuelles Fest, voller Einfalls­reichtum und voller unge­se­hener Bilder – was will man von Kino mehr erwarten?

Diesmal ist es eine Zeitreise in ein phan­tas­ti­sches 19. Jahr­hun­dert und in dessen so idea­lis­ti­sche wie mate­ria­lis­ti­sche Wissen­schaft, zu der der grie­chi­sche Regisseur Yorgos Lanthimos sein Publikum verführen will. Zu dieser Epoche gehört histo­risch auch die Psycho­ana­lyse, und zu dieser gehört wiederum die Vorstel­lung, dass Frauen Hysterien entwi­ckeln – heute gebraucht man diesen Begriff zwar nicht mehr und würde andere Worte finden, aber das Gleiche meinen: Bewusst­seins­exzesse und anti-soziales Verhalten,

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Wann genau Poor Things, die Verfil­mung eines Romans des hier­zu­lande kaum bekannten Schotten Alasdair Gray, spielen soll, ist nicht so klar. Manchmal glaubt man, es seien die Zwanziger Jahre, manchmal denkt man, es wäre erst 1890. Es wird auch sehr bewusst keine Jahres­zahl genannt. Vielmehr geht es um ein abstraktes idea­li­siertes vikto­ria­ni­sches Zeitalter. Die Welt dieses Films wirkt so, wie sie am ehesten in den Kinder­büchern des 19. Jahr­hun­derts aussah. Wohl­ge­ordnet und überladen, voller Wunder und Fort­schritt.

Der Film strotzt zudem nur so von phan­tas­ti­schen Elementen und wissen­schaft­li­chen Möglich­keiten, die es tatsäch­lich damals nicht gab: allen voran Tier-Chimären, etwa einem Wesen mit Entenkopf auf einem Hundekörper.

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Im Zentrum stehen ein Wissen­schaftler und seine Pfle­ge­tochter: Der Mann, ein Professor, heißt Godwin und nicht umsonst trägt er das Wort Gott in seinem Namen. Godwin ist aber auch der Mädchen­name von Mary Shelley, der engli­schen Autorin, deren wich­tigstes Werk »Fran­ken­stein« ein Mythos der Moderne ist. Und dieser Godwin ist so eine Art genial-verrücktes Update des Doktor Fran­ken­stein, ein typischer Roman-Wissen­schaftler – er ähnelt auch Rotwang, dem verrückten Wissen­schaftler aus Fritz Langs Metro­polis, der in diesem Film an einem Maschinen-Menschen bastelt. Auch Godwin hat eine junge Frau bei sich zu Haus, die er in einem gewissen Sinn gefangen hält, um die er sich aber auch in seiner eigenen Weise sehr liebevoll kümmert – es ist kein sexuelles Verhältnis, eher eine Vater-Tochter-Beziehung.
Denn Godwin hat sie geschaffen: Erzeugt, zusam­men­ge­schnitten aus dem Leib einer hirntoten Mutter und dem Hirn ihres unge­bo­renen Kindes, das in ihr wie das kleinste Bild einer Matroschka-Puppe, als Box in der Box wächst und erwachsen wird. Offenbar musste ihr Godwin, um nach einem Selbst­mord-Versuch ihr Leben zu retten, das Gehirn des Kindes einpflanzen.
Diese Frau heißt Bella, »die Schöne« – eine Projek­tion, die Autonomie gewinnen wird.

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Bella fehlt also die persön­liche Erin­ne­rung, und ihr fehlen die Erziehung und alle anderen Formen der Anpassung an soziale Normen. Dadurch kommt es zu vielen Konflikten und Irri­ta­tionen; mal sind sie lustig, mal sind sie bizarr.

So wie das Kind im Frau­en­körper schnell erwachsen wird, bricht auch Bella, durch Umstände, die jetzt zu weit führen, irgend­wann aus ihrem liebe­vollen aber eben doch Gefängnis aus. Sie reist mit einem Liebhaber durch die damalige europäi­sche Welt, zuerst nach Lissabon, dann nach Alex­an­dria, dann nach Paris. Sex und die Entde­ckung des Sex sind sehr wichtig für diese Figur.

Und so gibt es neben Fran­ken­stein, Pygmalion und Metro­polis und den Werken surrea­lis­ti­scher Filme­ma­cher wie David Lynch noch eine weitere, offene Inspi­ra­ti­ons­quelle für diesen Film: Der Roman »Justine« des Marquis de Sade – die Odyssee eines unschul­digen Mädchens, das zum Basiswerk der Liber­ti­nage wurde.
Schon Lars von Trier ließ sich von diesem Text inspi­rieren. Bellas Geschichte ist nicht weniger monströs: Sie wird einge­sperrt, dann gerät sie in die Gewalt eines zynischen Verfüh­rers, dann in ein Bordell, das für sie zum Ort der Befreiung wird. Bella gelingt es, aus allem eine Lektion zu machen, und aufrich­tige Freude daran zu empfinden, erwachsen zu werden, Erfah­rungen zu machen, klüger zu werden, zu lernen, zu fühlen und zu lieben und Freunde zu finden.

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Dies ist vor allem ein sehr bild­kräf­tiger Film. Gleich­zeitig sind diese Bilder immer auch ein kleines bisschen schräg, ein kleines bisschen pervers – man kann da an The Favourite denken, den letzten Film von Lanthimos: Auch das spielte ja nicht in einem echten 1720, sondern in einem über­stei­gerten. So ist auch dieser Film: Ein Film, der eine Geschichte im Gewand des 19. Jahr­hun­derts erzählt, die auf manche Weise sehr modern ist und nur aus unserer Zeit, dem frühen 21. Jahr­hun­dert oder viel­leicht noch dem späten 20., der Post­mo­derne stammen könnte.

Die Provo­ka­tionen sind überaus brav und entspre­chen dem Zeitgeist. Lanthimos spielt mit Kitsch, dem Absurden, der hallu­zi­nierten Fran­ken­stein-Fabel, dem Steampunk, dem Bildungs­roman, der dada­is­ti­schen Erotik, der Groteske, der schwarzen Komödie und den Buñuel’schen Gesell­schafts­par­odien. Er besinnt sich auf Einflüsse von Peter Greenaway und Michael Haneke, von Alejandro Jodo­rowsky, Terry Gilliam und David Lynch...

Poor Things leidet an den gleichen Problemen wie Wes Andersons letztes Werk Asteroid City, das ebenso frus­trieren konnte, weil es in die Falle eines Forma­lismus ohne viel diskur­sives Leben tappte, abgesehen von einer gewissen Suche nach einem paradoxen Huma­nismus, kombi­niert mit Distanz zu den Figuren und dem Erzählten, und einem orna­men­talen Ästhe­ti­zismus.

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Irgend­etwas überzeugt nicht ganz. Was, das ist schwer zu fassen. Mal möchte man den Film mögen, mal lässt er komplett kalt.

Lanthimos entfaltet ein Menschen­bild, das einer­seits desil­lu­sio­niert ist und zynisch, anti­hu­ma­nis­tisch, also durch und durch post­mo­dern: Menschen sind eigent­lich nur andere Tiere. Und es gibt wenig Hoffnung, wenig Trost und Glücks­mo­mente.
Ande­rer­seits ist dies eine wahn­sinnig fort­schritts­gläu­bige und idea­lis­ti­sche Welt, wie es ja auch die Welt des 19. Jahr­hun­derts tatsäch­lich war. Und gerade die Haupt­figur, die junge Frau Bella ist tatsäch­lich eine wissen­schafts­gläu­bige, idea­lis­ti­sche Frau, die sehr opti­mis­tisch ist. Sie hat die Naivität eines großen Kindes, das viel erwach­sener aussieht, als sie ist, das aber erwachsen wird im Lauf des Films.

Man könnte das alles als eine perverse Coming-of-Age Geschichte bezeichnen.

Wie die fran­ken­stei­ni­sche Mons­ter­figur hat sie einen – manche würden sagen: naiven – Begriff des Menschen. Bella glaubt an das Gute. Sie wird manchmal enttäuscht, aber durchaus nicht immer. Sie kennt auch gar keine Tabus. Sie nimmt gar keine gesell­schaft­liche Rücksicht. Insofern ist dies ein Film, der das Positive will.
Und auch ein sehr aktueller Film, weil Lanthimos in seiner anti­na­tu­ra­lis­ti­schen Versuchs­an­ord­nung natürlich auch eine weibliche Empower­ment-Geschichte erzählt, in der eine Frau sich aus dem Korsett des 19. Jahr­hun­derts in die Frei­heiten befreit, die dann das 20. Jahr­hun­dert den Frauen bot.