Poll

D/Ö/EST 2010 · 139 min. · FSK: ab 12
Regie: Chris Kraus
Drehbuch:
Kamera: Daniela Knapp
Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller u.a.
Der große Bluff

Der Wille zum Willen

Zwischen Herzmasse und Hirn­klopfen: Chris Kraus' Poll ist Krabat für Erwach­sene

Es ist ein unheim­li­cher, böser Ort, dieses Labor des Barons. Wie eine Todes­mühle steht es neben dem auf hohen Stelzen – gegen die Flut – errich­teten präch­tigen Bürger­haus am Ostsee­strand und bildet mit ihm den Schau­platz der Film­hand­lung. Körper­teile liegen hier zu vielen Dutzend in Formalin, heraus­ge­trennte Gehirne sind aufge­reiht in den Regal­wänden, wie ja, auch mensch­liche Miss­ge­burten, ganze Embryonen, deren Körper furchtbar entstellt sind, oder zusam­men­ge­wach­sene Zwillinge, die nicht lebens­fähig waren. Und doch ist diese surreale Wunder­kammer des Mensch­li­chen nicht einfach ein Kabinett des Schre­ckens, sondern ein Ort so seltsam trockener wie verquer enga­gierter Wissen­schaft.

Zeit­le­bens, so beschreibt Oda, die junge Tochter des Barons, Haupt­figur und Off-Erzäh­lerin dieses Films, gleich zu Beginn ihren Vater, zeit­le­bens habe dieser »für den Tod gelebt, für den er eine große Zuneigung empfand,« und ihr klar gemacht, »dass die Erde ein Ort ist, in dem wir eines Tages verschwinden müssen ... es wird sein, als hätte es mich nie gegeben.« Starke, schöne Sätze.

Der Film versucht nie, Vers­tändnis zu wecken für diese schwarzer Kunst, die der Baron hier betreibt, wenn er Leichen zerlegt, und Hirne unter­sucht, und doch spielt auch er mit deren ästhe­ti­scher Erfahrung, der gegen­sätz­li­chen Bewegung aus Faszi­na­tion und Abstoßung, aus Ekel und Gebannt-sein. Immer wieder kehrt dieser Film in jenes Labor zurück, erhascht im Vorüber­gehen noch ein bisschen mehr des hier Ange­sam­melten, und es ist viel­leicht das Geheimnis genau dieses Ortes, das hier eigent­lich im Zentrum steht, das Poll bis zum Schluss antreibt. »Es war wie das Schloß eines Zauberers« schreibt Oda in ihr Tagebuch, »und wie jeder geheime Ort hatte es einen noch gehei­meren.«

»Und hier, in der kleinen Drüse, sitzt das Böse.« »Die Wissen­schaft kann vom Schädel auf das Hirn und vom Hirn auf den ganzen Menschen schließen.« solche Sätze sagt der Herr Papa.
Es ist überhaupt eine ziemlich inter­es­sante Geschichte, die Chris Kraus, der Regisseur von Scher­ben­tanz (2002) und Vier Minuten (2005), in seinem dritten Film erzählt. Nicht gerade spannend im herkömm­li­chen Vers­tändnis zwar, denn dass am Ende irgend­wann der Erste Weltkrieg ausbre­chen muss, das weiß man schon sehr früh, auch weil Chris Kraus den Zuschauer unbedingt mit der Nase drauf­stoßen muss, dass man sich im Früh­sommer 1914 befindet. Und dass es ein schlimmes Ende nehmen wird mit Oda, dem einzigen unschul­digen Wesen an diesem Ort aus Schuld und Sühne, dass ihre reine gute Liebe zu einem verste­cken, verwun­deten, von ihr gesund gepflegten Rebellen nicht gut enden kann, dass weiß jeder, der schon zwei Filme gesehen, oder früher bei den Märchen aufge­passt hat.

Denn ein Märchen aus uralten Zeiten ist Poll schon, eins für Erwach­sene aller­dings – viel­schichtig und facet­ten­reich und nicht so einfach und glatt, wie vieles, was man im deutschen Kino sonst so geboten bekommt. Und erzählt mit dem Mut zu großen filmi­schen Gesten, zu Über­trei­bung und Opulenz, zum Melo­dra­ma­ti­schen, einem Mut den man unbedingt unter­s­tützen muss, auch wenn da, in »Poll« so wie in anderen Filmen, manchmal ein paar Dinge durch­ein­ander geraten.

Im Zentrum steht die 14-jährige Oda, die ihren Vater besucht, der ein deutsch­bal­ti­scher Baron ist, und irgendwo in Estland unter dem letzten Zaren an der Ostsee in einem am Strand malerisch gelegenen Anwesen lebt: Ein vergeis­tigter Forscher mit praktisch veran­lagter zweiter Frau, mit Gesinde, und umgeben von zaris­ti­schen Soldaten, die ihn prak­ti­scher­weise regel­mäßig mit frischen Anar­chis­ten­lei­chen für seine Studien versorgen. Eine Frau sagt: »Männer denken ans Jensei­tige und Frauen ans Dies­sei­tige«. Ansonsten sieht man Menschen beim Picknick am Strand, Mädchen, die in Tage­bücher hinein­schreiben, Jungs die Frösche suchen und auf die Militär­aka­demie gehen, Prügel­strafe und Hausmusik, die gute alte Zeit, die gar nicht so gut war – ach was!

Das ist die Ausgangs­lage: Das überlebte Zaren­reich unter wach­senden Span­nungen, die allmäh­lich verwel­kende »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) in ihrem Abendrot, von dem aber nur wir etwas wissen, die Menschen im Film natur­gemäß nicht, ein im Leben geschei­terter Wissen­schaftler, der vom Tod besessen ist, und ein junges, ebenso kluges wie schönes Mädchen mit künst­le­ri­schen Neigungen, das seine erste Liebe erlebt – dummer­weise mit dem Falschen. Man ahnt früh, dass es sich bei diesem Ort um ein Paradies auf Abruf handelt, dass die überall latente Gewalt brutal zum Ausbruch kommen muss, nicht nur im am Ende jubelnd begrüßten Weltkrieg, sondern im Bezie­hungs­netz dieses Films, das letztlich vom Regisseur, der auch der Dreh­buch­autor ist, als ein Abbild der Gesell­schaft konstru­iert wurde.

Es gibt in diesem Film eine Spannung, die sich bis zum Ende nicht auflöst: Einer­seits möchte Kraus von Subtilem und Fein­sin­nigem erzählen, von Kunst und Lyrik, von einer »education senti­men­tale«, die auch ein geistiges Heran­wachsen ist: Wie aus dem jungen Mädchen Oda eine Dichterin wurde.

Viel­leicht muss man an dieser Stelle erwähnen, dass der Film lose auf den Erin­ne­rungen der ein wenig zu Unrecht verges­senen Dichterin Oda Schaefer (1900-1988) basiert, die auch noch eine Großtante des Regis­seurs war, und tatsäch­lich eine Wieder­ent­de­ckung lohnt: Einige ihrer wunder­baren Verse sind im Film zu hören. Auch eine Neigung zum Kunst­re­li­giösen ist Kraus nicht, fremd, zu dem, was alle, die niemals Nietzsche gelesen haben, gern als Schwulst, als alter­tüm­liche Mytho­logie und opern­haftes (gemeint ist: über­trie­benes) Pathos abtun: Dass man erstmal leiden müsse, um ein Künstler zu werden, dass Außen­sei­tertum Bedingung der Möglich­keit von Krea­ti­vität ist – das ist viel­leicht, Thomas Mann hin, Rilke her, für manchen Zeit­ge­nossen etwas viel.

Kraus erzählt also von kompli­zierten Stoffen, und eine Menge auf einmal. Das ist im zeit­genös­si­schen Kino abseits von wenigen kleinen Nischen gerade nur sehr selten zu finden, und von Finan­ciers nicht gewollt. Ande­rer­seits möchte er offen­sicht­lich das machen, was man hier­zu­lande für »großes Kino« hält. Die immer wieder ausschwei­fenden Kame­ra­fahrten, die Totalen über die pracht­volle Küsten­land­schaft sind ebenso ambi­tio­niert wie die Ausstat­tung – vieles stimmt hier, und auch wenn man viel­leicht Schwie­rig­keiten mit Kraus' Art hat, immer alles eine Spur zu dick aufzu­tragen, kann man das aner­kennen. Mit der bezau­bernden Neuent­de­ckung Paula Beer hat er für seine Haupt­figur zudem eine großar­tige, in ihrer Rätsel­haf­tig­keit intensive Besetzung. Und auch gegen Edgar Selge und Jeanette Hain, gibt es ganz und gar nichts zu sagen.

Man möchte diesen Film also mögen, und sei es nur, weil er die Dichterin Oda Schaefer und ihr Schicksal dem Vergessen entreißt, aber auch, weil sich niemals selbst bescheidet, sondern viel riskiert, und damit unbedingt auf dem richtigen Weg liegt. Poll ist, auch das muss man loben, einer der leider seltenen deutschen Filme, die sich stel­len­weise auf Augenhöhe mit inter­na­tio­nalen Groß­pro­jekten befinden.

Trotzdem geht alles am Ende nicht richtig zusammen: Und das liegt wohl an Kraus selbst, dessen Regie überall Bedeu­tungs­i­gnale und Ausru­fe­zei­chen setzt, auch wo sie keines­falls hingehören, und dem Zuschauer kaum einen Ruhe­mo­ment gönnt. Wenn aber einer jede einzelne Szene so insze­niert, lässt er gerade dadurch den Zuschauer außen vor. Poll ist ein Film unter Überdruck, der in der Figur des Barons mit seinen Schä­del­ver­mes­sungen und Hirn­stu­dien – einer Mode­wis­sen­schaft schon jener Jahre –, wenn auch viel­leicht etwas schlicht, nicht weniger als eine Vorge­schichte der Menschen­ver­suche in den deutschen Vernich­tungs­la­gern und damit der Gewalt des Faschismus erzählt; aber dann auch eine verlorene Zeit in ihren schönen Seiten aufspüren und das Erblühen einer Liebe erzählen will. Dafür bräuchte Kraus einen anderen Atem, vor allem aber den Mut zum sein-lassen, zur Ruhe, zur Leer­stelle, in der das Publikum zu sich finden kann. Ein Visconti ist er nun beim aller­besten Willen nicht – aber es wäre auch über­ra­schend, wäre es anders. Nur zeigt die Erin­ne­rung an Viscontis Leopard wo Poll im Vergleich steht.

Es gibt auch unmit­tel­bare Schwie­rig­keiten: Der Betrachter kapiert manches Zentrale nur schwer: Das Verhältnis von Balten und Russen und was die Soldaten hier machen, versteht hier nur der histo­risch Vorge­bil­dete. Figuren tauchen einmal auf und verschwinden dann aus dem Film, andere, wie Richy Müllers Verwalter, wirkten wie ein Scharnier im Dreh­buch­mo­dell­bau­kasten.

Es gibt auch so ein Wunder­lich­keiten, die einem bei Kraus' Filmen schon immer aufge­fallen sind, und das eher negativ: Frauen vermänn­licht er zum Beispiel gern, umgekehrt steckt er Männer schon mal in Röcke. Beides auch hier: Oda erhält des Kosenamen »Napoleon«, sagt »ich werde keine Frau«, und der Anarchist, der namenlos ist und »Schnaps« heißt – so wie Nadja Uhl in Scher­ben­tanz »Zitrone« –, hat irgend­wann eben einen Rock. Ist ja auch ok. Aber in der Wieder­ho­lung kurios.

Wirklich uner­träg­lich und unver­zeih­lich ist an Poll aber der Einsatz der Musik. Die Kompo­si­tionen von Anette Focks, die vor ein paar Jahren schon Krabat den Rest gegeben haben, triefen bereits für sich genommen vor süßlichem Schmalz. Der Regisseur setzt sie dann auch noch viel zu oft und zu eindeutig funk­tional ein – jedes mögliche Gefühl wird dem Zuschauer daher bereits lange ange­kün­digt, bevor es sich einstellen soll, dann verdop­pelt und verdrei­facht, als gäbe es Grund, dem Betrachter zu miss­trauen. So wird ihm jede Freiheit genommen.

Viel­leicht, denkt man da, hat Kraus ja doch nur den schlech­teren Teil Holly­woods verstanden, die Mani­pu­la­tion der Gefühle, die Verwür­zung des Produkts mit Saccharin und anderen und dabei vergessen, dass das alles in den wirklich guten Holly­wood­filmen am Ende nicht das Entschei­dende ist, dass die nur funk­tio­nieren, weil die Macher auch immer ein bisschen an das glauben, was sie erzählen, sich irgend­wann vergessen. Hier hingegen ist der Wille zum Beson­deren zu sehr spürbar, und das Besondere selbst verschwindet dann dahinter.

Und so hat man am Ende das Gefühl, jenes Geheimnis in der Todes­mühle des Barons, dem Paula, dem wir Zuschauer mit ihr, immer auch auf der Spur waren, sei gar keines – sondern einfach nur großer Bluff. Weil der Regisseur am Ende nicht nur seinem Publikum, sondern auch der selbst­ge­schrie­benen Geschichte nicht über den Weg traut.