Nostalgia

Italien/Frankreich 2022 · 118 min. · FSK: ab 12
Regie: Mario Martone
Drehbuch: ,
Kamera: Paolo Carnera
Darsteller: Pierfrancesco Favino, Sofia Essaïdi, Tommaso Ragno, Francesco Di Leva, Aurora Quattrocchi u.a.
Einmal Liebe, Hass und wieder zurück...
(Foto: MFA/Filmagentinnen)

Feindliche Freundschaft

Mario Martones Freundschafts- und Stadtdrama folgt zwar einer vorhersagbaren Dramaturgie, überzeugt aber durch ethnografische Genauigkeit und schauspielerische Großtaten

Die erste Asso­zia­tion zu Mario Martones Nostalgia ist natürlich Nostalghia. Tarkow­skis Nostalghia. Auch dort beginnt die Geschichte mit einem Mann, der aus dem selbst­ge­wählten Exil in seine Heimat zurück­kehrt und offenen Auges in sein Verderben rennt.
Die zweite Asso­zia­tion ist Elena Ferrante und ihre Neapo­li­ta­ni­sche Saga, in der so wie in Martones Verfil­mung des gleich­na­migen Romans von Ermanno Rea die Geschichte einer Freund­schaft aus armen neapo­li­ta­ni­schen Verhält­nissen erzählt wird, eine Freund­schaft der Ungleich­heiten und auch eine, die vom Verschwinden erzählt, vom Verschwinden des Anderen, vom Verschwinden der Freund­schaft und der Träume im Leben.

Der Mann, der in Nostalgia nach 40 Jahren in Ägypten nach Neapel zurück­kehrt, heißt Felice (Pier­fran­cesco Favino). Er ist auf Besuch hier, tele­fo­niert dann und wann mit seiner ägyp­ti­schen Frau, ist zum Islam konver­tiert und will eigent­lich nur noch einmal seine alte Mutter Teresa (Aurora Quat­trocchi) sehen. Doch aus dem Besuch wird ein Bleiben. Er trifft auf Menschen, die sich an ihn erinnern, und er erinnert sich selbst. Vor allem an seinen besten Freund aus Jugend­tagen, Oreste (Tommaso Ragno), der sich vor ihm versteckt hält, der den Weg im verarmten, krimi­nellen Neapo­li­taner Stadtteil Rione Sanità gegangen ist, den auch Felice hätte gehen sollen, den Weg der Gewalt. Doch Felice findet einen neuen Freund, einen Priester, Father Luigi (Francesco Di Leva), der versucht, die ewig gleiche Gewalt­spi­rale durch Jugend­ar­beit zu brechen.

Das ist der Anfang, auf den Martone seine mal epische, dann fast schon doku­men­ta­ri­sche Bild­ge­schichte aufbaut. Und mit der eindring­li­chen Kame­ra­ar­beit von Paolo Carnera zärtlich und lyrisch, dann wieder gnadenlos doku­men­ta­risch diese Geschichte zweier Freunde und einer Stadt erweitert. Die Kamera und die Geschichte entwi­ckeln dabei manchmal fast schon flaneurhafte Züge, denn so melan­cho­lisch, das Alte im Neuen suchend, aber das Neue im Alten findend, flaniert auch Doni Servillo in Paolo Sorren­tinos La grande bellezza durch das alte Rom. Doch Sorren­tinos Blick ist ein Blick nach innen, der von Martone geht nach außen, auf den Zerfall der Gemäuer und die Schönheit der alten Gebäude, auf zerfurchte Gesichter, dysfunk­tio­nale Familien- und Gesell­schafts­ver­hält­nisse, Hier­ar­chien und Freund­schaften und Klein­be­triebe, von denen zu erzählen Martone sich immer wieder, und niemals zu viel Zeit nimmt und die von seinem großar­tigen Ensemble aus Statisten atem­be­rau­bend grundiert werden.

Ein wenig stören dabei zwar die einge­spielten Erin­ne­rungen an Felices Vergan­gen­heit, sie wirken wie Fremd­körper, die mit der Gegenwart nicht mithalten können. Und außerdem liegt diese Vergan­gen­beit, dieser große Verlust im Leben von Felice schon in den großar­tigen Blicken seines Haupt­dar­stel­lers Pier­fran­cesco Favino, der mit seiner Rolle zunehmend verwächst und sie auslebt, der am Anfang immer wieder nach italie­ni­schen Worten suchen muss, weil er des Arabi­schen mächtiger ist als des Italie­ni­schen; dessen suchende, unsichere Körper­sprache sich im Verlauf des Films immer wieder ändert, selbst­be­wusster, anschmieg­samer und dann auch spontaner wird. Es ist fast so, als heile die Stadt Felice von seiner »Nostalgia«, die ja keine »Nostalgie« ist, sondern eine perfide, heim­tü­cki­sche Variante des Heimwehs, so als mache er eine »Stadt­the­rapie« und damit einen anderen Menschen aus sich. Einen Menschen, der deshalb auch gesundet ist, weil Vergan­gen­heit, Gegenwart und Zukunft zu einer Zeitform verschmelzen.

Doch weil es Oreste (Tommaso Ragno), seinen alten Freund gibt, den Felice treffen will, obwohl ihm jeder sagt, dass es aussichtslos sei, wird auch die Erlösung Felices in Frage gestellt. Und an diesem Punkt auch die von Martones Film, der nach zwei Dritteln des knapp zwei Stunden langen Films ein anderes Tempo und eine andere Tonart anschlägt, der für einen Moment noch bei Elena Ferrante und ihrer etwas myste­riösen Auslegung von Freund­schaft ist, dann aber den uner­bitt­li­chen Weg einschlägt, den wir aus Michael Manns Heat (1995) und einer ähnlichen Freund­schafts­kon­stel­la­tion, der von Robert De Niro und Al Pacino darge­stellten Neil und Vincent, kennen.

Das wirkt so vertraut wie vorher­sehbar und nimmt Nostalgia am Ende ein wenig von seiner Inten­sität, gerade weil die Erwar­tungs­hal­tungen an das Drama erfüllt werden, gerade weil Martone sich von seinem Vorsatz entfernt, die alte Geschichte endlich einmal anders zu erzählen. Aber viel­leicht geht das auch gar nicht, ist diese Geschichte einfach zu sehr Teil des menschli­schen Dramas, wenn aus Liebe und Verlassen, Bitter­keit und Hass wird.