New Order – Die neue Weltordnung

Nuevo orden

Mexiko/F 2020 · 86 min. · FSK: ab 16
Regie: Michel Franco
Drehbuch:
Kamera: Yves Cape
Darsteller: Naian González Norvind, Diego Boneta, Mónica Del Carmen, Roberto Medina, Lisa Owen u.a.
Anschlag in Komplementärfarben
(Foto: 24 Bilder)

Die Braut trägt Rot, die Revolte Grün

Nuevo orden (New Order) des Mexikaners Michel Franco oszilliert zwischen Zynismus und Subversion

Im Mittel­punkt steht die Braut im roten Hosen­anzug: Zeichen der Extra­va­ganz, der Eigen­wil­lig­keit, des Luxus, aber natürlich auch ein filmi­sches Signal der Farb­dra­ma­turgie.

Die Braut in Rot ist Marianne Novilo, die Feier findet statt in El Pedregal, dem Viertel der Super­rei­chen in Mexico City, im ultra-modernen Anwesen der Familie Novilo, einer Gated-Community-artigen Anlage. An den Eingängen regelt Personal den Einlass. Auf der Straße, vor dem Haus, sind die Autos der Gäste geparkt, die Chauf­feure stehen draußen herum, an die Motor­haube gelehnt, oder vertreten sich die Beine, rauchen, warten, während drinnen die Familie und die Verwandten, Freunde und Geschäfts­partner in Luxus schwelgen, trinken, tanzen, koksen.

Ein Sitten­bild der Dekadenz der Schönen und Reichen also, bei dem sich zunächst allen­falls ein zwischen­mensch­li­ches Melodram zwischen Reich und Arm anzu­bahnen scheint. Ausge­rechnet zu diesen Feier­lich­keiten taucht nach acht Jahren der ehemalige Haus­an­ge­stellte Rolando unein­ge­laden auf, er hatte sich mit einem Restau­rant selbständig zu machen versucht, kommt aber nun als Bitt­steller, um sich von der Familie eine höhere Summe Geld zu erbetteln, damit er die Kosten für die Herz­ope­ra­tion seiner Frau Elisa aufbringen kann.

Ähnlich wie die Chauf­feure steht er demütig am Rande der feiernden Gesell­schaft, an der Schwelle zum Anwesen, und wartet, bis ihm viel­leicht doch noch mehr als ein Almosen zuge­steckt wird, während die Mutter der Braut die dicken Kuverts der Gäste mit den Geld­ge­schenken für das Hoch­zeits­paar entge­gen­nimmt und unver­zü­g­lich im Safe wegsperrt.

Scheinbar haben die groß­zü­gigen Super-Wide­s­creen-Bilder (im Format 2.39:1) von Kame­ra­mann Yves Cape (er arbeitete unter anderem für Bruno Dumont, Claire Denis, Bertrand Bonello und Leos Carax) und die fluid-eleganten Kame­ra­be­we­gungen Platz für alle, auch für die am Rand – auch wenn auffällig immer wieder die Braut in Rot dekorativ in die Mitte der Einstel­lungen gerückt wird und das luxuriöse Dekor maßgeb­lich den glossy Look prägt. Das popmo­derne Diptychon an der Wand im Wohn­zimmer jedoch, eines der jüngsten Gemälde des 1978 geborenen mexi­ka­ni­schen Star­ma­lers Omar Rodríguez-Graham, das im Vorspann schon in einer eigenen Einstel­lung zu sehen war und dessen Format von den Propor­tionen her dem Wide­s­creen-Bild entspricht, weist in der Mitte eine harte vertikale Trenn­linie auf.

Dass die Feier­laune nicht ungetrübt bleiben würde, das ahnte man schon mit den Einstel­lungen des Vorspanns, die irri­tie­rende, traum­ar­tige Einbrüche von Gewalt und Zerstö­rung andeuten. Auch einige Vorzei­chen während der Feier kündeten von sozialen Unruhen in der Stadt, von Anschlägen mit grünen Farb­beu­teln trugen einige der anrei­senden Gäste noch Spuren an der Kleidung, aus dem Wasser­hahn im Bad floss kurz ebenso grünes Wasser. Dass sich dann ein brutaler Riss auftun würde, der nicht mehr melo­dra­ma­tisch eingehegt werden kann, das freilich war so nicht zu erwarten: jeden­falls lassen plötzlich bewaff­nete Eindring­linge unter Mithilfe der gerade noch devoten Dien­er­schaft die Feier jäh in ein Massaker umkippen.

Mit der gesprengten Fami­li­en­feier und der sich in der Stadt ausbrei­tenden Gewalt sowie dem als Reaktion vom Militär ausge­ru­fenen Ausnah­me­zu­stand explo­diert auch der Film in mehrere Erzähl­seg­mente. Die Braut wird Opfer von para­mi­li­tä­ri­schen Geisel­neh­mern, die mit den entführten Angehö­rigen der Ober­schicht Löse­gelder erpressen wollen und mit Sadismus die Gefan­genen in einem Lager foltern, verge­wal­tigen und töten.

Der mexi­ka­ni­sche Regisseur Michel Franco, nach fünf Filmen erstmals auch in Deutsch­land im Kino, entwirft die Dystopie der titel­ge­benden neuen Ordnung als eine Art Synthese latein­ame­ri­ka­ni­scher Mili­tär­dik­ta­turen jenseits ideo­lo­gi­scher Orien­tie­rungen.

Soldaten und Solda­tinnen der Armee und der Aufstän­di­schen, offi­zi­elle Militärs und Para­mi­li­tärs sind kaum mehr zu unter­scheiden, letztere scheinen von der neoli­be­ralen Olig­ar­chie geduldet oder instru­men­ta­li­siert zu werden, um Schrecken aufrecht­zu­er­halten und repres­siven Terror und Kontroll­ge­walt zu legi­ti­mieren.

Víctor, einer der mit Bestechungs­gel­dern geschmierten Geschäfts­partner des Vaters der Braut, der ange­sichts erster Anzeichen die Hoch­zeits­ge­sell­schaft früh­zeitig verlassen hatte, findet sich an der Seite des Generals auf der Komman­do­brücke der hyper­mo­dernen Macht­zen­trale, auf der er vor einem riesigen Mosaik von Über­wa­chungs­bild­schirmen einen panop­ti­schen Überblick hat. (Michel Franco drehte diese Szenen in der 2019 vom mexi­ka­ni­schen Präsi­denten einge­weihten Notruf- und Orga­ni­sa­ti­ons­zen­trale für Rettungs-, Polizei-, und Kata­stro­phen­schutz­dienste C5i in Pachuca im mexi­ka­ni­schen Bundes­staat Hidalgo nordöst­lich von Mexiko-Stadt: das Gebäude ist ein tech­no­kra­ti­sches Muster­bei­spiel neuester Kontroll-, Über­wa­chungs- und Verwal­tungs­ar­chi­tektur und als solches glei­cher­maßen monströs wie elegant.)

Schien am Anfang des Films noch Luis Buñuels hinter­sin­nige und auch komische Art der Entlar­vung des »diskreten Charmes der Bour­geoisie« im Bereich des Möglichen, so zeigt sich bald, dass die Zeiten für Michel Franco definitiv härter sind.

Der Regisseur hatte in seinen bishe­rigen Filmen eher privat-inti­mis­ti­sche Themen behandelt, hier wagt er nun den radikalen Schritt in eine andere Richtung, der ihm den Silbernen Löwen des Großen Preises der Jury bei den Film­fest­spielen von Venedig 2020 eintrug. Er nimmt dabei keine Rück­sichten, weder auf seine Figuren noch auf sein Publikum. Vor allem bei der Schil­de­rung der Gewalt­ex­zesse ist der Film nichts für zarte Gemüter; Kame­ra­mann Yves Cape erzählt in einem Interview, Franco hätte beim Dreh der Gewalt­herr­schaft etwas in der Art von Pasolinis 120 Tage von Sodom vorge­schwebt.

Es ist aller­dings eher eine unver­kenn­bare Lust an der Explo­ita­tion, der diesen Film und sein kontras­tives Klas­sen­por­trait als Alptraum vor allem der Ober­schicht in eine schil­lernde Ambi­va­lenz taucht, die zwischen Zynismus und Subver­sion oszil­liert.

In Mexiko war der Film bereits nach dem Trailer heftig umstritten: dem Regisseur wird eine klas­sis­ti­sche und rassis­ti­sche Sicht auf die scharfe soziale Kluft in seinem Land vorge­worfen. Insbe­son­dere wird ihm vorge­halten, legitime Proteste als gewalt­es­ka­lie­rend zu diskre­di­tieren, wenn er deren Codes und Zeichen entwendet und innerhalb der im Film darge­stellten brutalen Exzesse rekon­tex­tua­li­siert: So setzen in Mexiko Frauen im Kampf für eine Lega­li­sie­rung von Abtrei­bung die Farbe Grün als Erken­nungs­merkmal ein, wie sie hier von den Aufstän­di­schen als Signal der blind­wü­tigen Rache benutzt wird.

Ja, Michel Franco zeigt in aller Drastik den Aufstand als hässliche Fratze einer sozial ernied­rigten und gede­mü­tigten Schicht, eine Fratze, der das eiskalte Macht­kalkül einer neoli­be­ralen Olig­ar­chie mit Kontroll­büro­kratie antwortet und dabei gern die Dienste gewalt­be­reiter Militärs und Para­mi­li­tärs in Kauf nimmt: Unter dem repres­siven Terror haben, das macht der Film sehr deutlich, vor allem wieder die in den schlech­teren Vierteln zu leiden. Und dieje­nigen, die mensch­lich zu handeln versuchen, egal welcher Schicht sie angehören, werden zwischen den Fronten zermalmt.

Auffällig ist jeden­falls, dass Franco keiner der Parteien ideo­lo­gisch iden­ti­fi­zier­bare Posi­tionen zuweist, die »Kapi­ta­lis­ten­schweine« der deutschen Synchron­fas­sung sind in der Origi­nal­fas­sung lediglich »cabrones« (deutsch wort­wört­lich »Ziegen­böcke«), ein allge­gen­wär­tiges Schimpf­wort der Verächt­lich­ma­chung und Herab­wür­di­gung ohne klas­sen­kämp­fe­ri­schen Unterton.

Dass die Klänge des ersten Satzes von Schosta­ko­witsch' 1957 urauf­ge­führter 11. Symphonie »Das Jahr 1905« den Auftakt des Films unter­malen, könnte ein inter­es­santer Hinweis darauf sein, dass Michel Franco in den so impulsiv agie­renden Aufstän­di­schen erst den Vorboten von etwas Größerem zeigen will. Schosta­ko­witsch gedachte in seiner Symphonie einer blind­wü­tigen Hunger- und Elends­re­volte gegen das Zaren­re­gime, die 1905 in Sankt Peters­burg brutal nieder­ge­schlagen wurde, ehe dann erst 1917 die Okto­ber­re­vo­lu­tion politisch plan­voller und erfolg­rei­cher vorging. Und gerade Mexiko hat in diesen Dingen einiges an Erfah­rungen vorzu­weisen: die dortige Revo­lu­tion in den Zehner­jahren des 20. Jahr­hun­derts kam schon allen damaligen marxis­ti­schen Prophe­zei­ungen zuvor.

Coole Destruktion

Die Neue Ordnung ist schlimmer als die alte: Michel Francos Paranoia-Thriller New Order

Dies ist ein Film, in dem man das Staunen wieder lernt. Und das Fürchten. New Order (»Neue Ordnung«) vom Mexikaner Michel Franco ist ein mexi­ka­ni­scher Film ohne die Cuteness, die mexi­ka­ni­sche Filme sonst haben.
Ganz im Gegenteil ist das ein Film über das Unan­ge­nehme im Menschen und eine Gesell­schaft der Angst. Endlich mal ein aussichts­loser Film, ein Film ohne Happy End, der trotzdem kein B-Movie ist.

Manche werfen das dem Film vor. Aber warum sollte das Abbilden des Nihi­lismus der Wirk­lich­keit oder der Spaß des Regis­seurs an diesem Abbilden ein Vorwurf sein? Warum darf Kino nicht ohne jeden Hoff­nungs­schimmer sein? Warum sollte es immer »darüber hinaus­füh­rende Ideen« haben?

Die Hoff­nungs­lo­sig­keit dieser Dystopie könnte einen auch glücklich machen: Das Glück des Erkennt­nis­ge­winns.

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Die ersten Bilder sind frag­men­ta­risch, eher ein phan­tas­ti­scher Vorschein des Kommenden als ein Geschehen: Ein Mädchen steht da zwischen modernen Stein­wänden, fast nackt und mit grüner Farbe über­gossen. Ein Kran­ken­haus, in dem das Chaos regiert. Eine Ecke, in der viele Tote über­ein­an­der­ge­sta­pelt liegen. Die Farbe Grün dominiert.

Chaos herrscht in dem Film in gewisser Weise von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie kann man bald denken.

Franco hat den Film vor der Corona-Pandemie geschrieben und gedreht, aber er hat sich von vielen anderen Aspekten unserer Gegenwart inspi­rieren lassen. Er zeigt zwingend den sozialen Zusam­men­bruch einer Welt, in der die Alter­na­tiv­lo­sig­keit regiert, und das »Ende der Geschichte«, in der Utopien unmöglich scheinen, die Zukunft nur als Kata­strophe denkbar ist. Er zitiert die fran­zö­si­schen Gelb­westen, aber auch die Proteste der »Occupy Wall Street«, »Black Lives Matter« und »Extinc­tion Rebellion«.

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New Order ist ein Film über unan­ge­nehme Menschen und über das Unan­ge­nehme im Menschen. Es gibt kaum sympa­thi­sche Charak­tere.

Am ehesten sympa­thisch und auch sonst zur Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur taugt Marianne (gespielt von der Newco­merin Naian Gonzalez Norvind). Sie ist eine Art Haupt­figur, ein Mädchen aus stink­rei­chem Haus, wohl­erzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber eben auch verdorben von Eltern, die eiskalt und reak­ti­onär sind und sich trotzdem noch Illu­sionen machen.

Marianne ist das Mädchen der ersten Bilder, die wir erst später besser verstehen. Man lernt sie auf ihrer eigenen Hoch­zeits­feier kennen, zwischen Verwandten, Freunden, Dienst­boten. Aber was ist das eigent­lich genau für eine Hochzeit? Eine jüdische? Marianne hat jeden­falls kein weißes Braut­kleid an, sondern ein rotes. Das macht es für die Zuschauer leicht, ihr im Durch­ein­ander der Personen zu folgen, und sieht schön aus, im Kontrast zu den braunen Wänden, dem Grün des Gartens. Erst recht, als plötzlich grünes Wasser aus der Leitung läuft. Nur kurz. Aber irgend­etwas ist passiert.

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Der Film hat, wie Marianne, einen nüch­ternen Blick auf die Verhält­nisse. Er verklärt auch die Armen nicht, das wird später noch klarer. »Ist das ein Prozent der Bestechungs­gelder, die er von Papa bekommen hat« – so kommen­tiert die Tochter das Hoch­zeits­ge­schenk eines Geschäfts­part­ners ihres Vaters.
In solchen kurzen Dialogen und Szenen lernen die Zuschauer eine durch und durch moralisch verwor­fene, kulturell dekadente Familie kennen und ihre Freunde. Der Film zeigt ganz gut, wie diese Leute sind, wie sie sich benehmen, auch gegenüber den Dienst­boten. Da ist selbst in den kleinsten Gesten viel Wissen um das exis­tie­rende Klas­sen­system und um die Sprache der Gesten, die feinen Unter­schiede.

Irgend­wann im Laufe des Tages kommt ein lang­jäh­riger Dienst­bote der Familie. Er bittet um Hilfe. Ausge­rechnet jetzt (kein guter Zeitpunkt) bittet er um 200.000 Pesos, die er für eine Operation seiner Frau braucht. Das Geld, nach heutigem (11.08.21) Kurs immerhin 8500 Euro, bekommt er nicht, obwohl die Familie sich das gut leisten könnte. Marianne versucht, ihm das Geld zu geben, aber sie kommt nicht so schnell an Bargeld. Alle anderen sind komplett unver­ant­wort­lich: der Bruder, der zukünf­tige Ehemann, ihre Eltern sowieso. Also fährt Marianne dem Diener hinterher, um ihre Kredit­karte einzu­setzen. Das ist konstru­iert, aber warum nicht?

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Bald danach wird die Villa über­fallen, auch einzelne Dienst­boten schließen sich quasi unmit­telbar den Eindring­lingen an. Nicht wie Menschen, die frei entscheiden und wissen, was sie tun, zugleich unsicher und tastend agieren; sondern wie Tiere, die Instinkten folgen, die auto­ma­ten­gleich, um so ruhiger und konse­quenter agieren. Wie in Trance.
Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet – ein Hauch der Manson-Family, einer voll­kommen sans­cu­lot­ti­schen, primi­tiven, destruk­tiven Willkür kommt spätes­tens dann auf, als sie »Putos Ricos« und »Vera tu Dios« an die Wände schmieren.

Großartig ist, wie explizit hier viele Dinge sind – zwar nicht im Vergleich zu B-Movies und klas­si­schem Horror­film, aber sehr wohl im Vergleich zum protes­tan­ti­schen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig. Hier wird nicht geredet, sondern gezeigt.

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Was dieser Nacht der Abrech­nung folgt, ist das Portrait einer Gesell­schaft der Angst. Ein paar Tage lang kann niemand seines Lebens sicher sein. Es herrscht an der Ober­fläche komplette Anarchie. Tatsäch­lich kommt schnell heraus: Die randa­lie­renden Massen sind von Teilen der Obrigkeit entfes­selt worden. Unter anderem soll die Macht bestimmter riva­li­sie­render Familien – auch die Mariannes – gebrochen werden. Und wer genau hinge­sehen hat, oder sich den Film zweimal ansieht, dem fällt auch auf, dass manch einer die Hochzeit (zu) früh verlässt, und bedacht ist, dass das auch seine Kinder und seine Frau tun.

Marianne, die zunächst bei der Familie eines Ange­stellten Unter­schlupf findet, sich aber ange­sichts der Umstände immer noch komplett naiv verhält, wird von Soldaten entführt, und mit vielen anderen in irgend­einer abge­le­genen, zu einem Konzen­tra­ti­ons­lager umge­bauten Kaserne gefan­gen­ge­halten, um Lösegeld zu erpressen.

Der Film zeigt eine Weile ihr Leben dort und das ihrer Mitin­sassen, sowie parallel die allmäh­liche Beru­hi­gung (Norma­li­sie­rung?) draußen und die Bemühungen, sie zu befreien.

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New Order ist viel­leicht über­reiztes, aber auch präzises Beob­ach­tungs­kino, wenn wir an das Mexiko der Drogen­kar­telle denken, die selbst­ver­ständ­lich Bündnisse und Still­stands­ab­kommen mit Politik, Polizei und Militär geschlossen haben.
Korrup­tion und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film. Und nicht nur in Mexiko. Insofern ist dieser Film auch universal, sowohl in seiner Beschrei­bung revol­tie­render, anar­chi­scher, destruk­tiver Massen, als auch eines Ausnah­me­zu­stands, der von den Auto­ri­täten verhängt und mit brachialer Gewalt durch­ge­setzt wird. Vor allem aktuell inter­es­sant und facet­ten­reich in ihrem gedank­li­chen Konse­quenzen ist aber das dialek­ti­sche Inein­an­der­wirken beider Elemente: eines Ausnah­me­zu­stands, der von Massen »erzwungen« wurde, die genau darum entfes­selt wurden, um ihn auslösen zu können, einer auto­ri­tären Reaktion, die genau darum von irgend­wel­chen Volks­tri­bunen und Quer­den­kern provo­ziert wurde, um ihnen selber in die Hände zu spielen. Armee/ Polizei wie Wutbürger/ Regime­kri­tiker sind in beiden Fällen dumme, willige Spiel­masse.

Das innere Prinzip der souver­änen Macht ist, der Gewalt eine Form zu geben, die sie zugleich auf nichts verpflichtet und nicht einschränkt. Der italie­ni­sche Philosoph Giorgio Agamben (»Das nackte Leben«) beschreibt dies treffend: »Der Natur­zu­stand und der Ausnah­me­zu­stand sind nur zwei Gesichter des topo­lo­gi­schen Prozesses, in dem wie beim Möbi­us­band oder bei der Leidener Flasche das, was man als das Äußere (Natur­zu­stand) ange­nommen hat, nun im Inneren (Ausnah­me­zu­stand) erscheint, und die souveräne Macht ist gerade diese Unmö­g­lich­keit des Unter­schei­dens des Äußeren und des Inneren, des Beispiels und der Ausnahme, physis und nomos.« (Agamben, »Homo Sacer«)

Das, was hier »Natur­zu­stand« genannt wird, ist der »spontane« Aufstand gegen das Recht und anar­chi­sche Recht­lo­sig­keit, das, was »Ausnah­me­zu­stand« genannt wird, ist der Aufstand der Insti­tu­tionen gegen das Recht, durch seine Suspen­sion durch den Souverän. (»Souverän ist, wer über den Ausnah­me­zu­stand entscheidet.«; Carl Schmitt).

Michel Franco zeigt in seinem Film Zonen der dyna­mi­schen Unun­ter­scheid­bar­keit von Barbarei und Terror auf beiden Seiten der Ordnung. Die »Neue Ordung« ist die, in der die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung aufgelöst wurde, zwischen Norma­lität und Unnor­ma­lität. Souver­änität und Anarchie stehen in einem korre­la­tiven Verhältnis.

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»Nuevo Orden«, »Neue Ordnung« heißt dann nicht nur die irgend­wann ober­fläch­lich wieder­ge­won­nene Stabi­lität, sondern eine neue Form des Arbeitens und Lebens, sowie dazu­gehörig eine neue Form der Über­wa­chung. Die »Neue Ordnung« meint nicht: mehr Freiheit, mehr Gerech­tig­keit oder mehr sozialer Ausgleich. Sie bedeutet: Diktatur.

Das System zieht das eiserne Gehäuse über die Exis­tenzen der Menschen noch enger zu. Selbst die Mächtigen sind in vieler Hinsicht die Gefan­genen der Struk­turen und Insti­tu­tionen. Und hinter der Rede von dieser »neuen Ordnung« hört und sieht man heute auch: »neue Norma­lität«.

Ein univer­sales Miss­trauen macht sich Platz. Da muss man sich einfach nur verste­cken vor den Insti­tu­tionen und ihren Vertre­tern, vor Polizei und Armee. Man darf ihnen nicht trauen; man kann ihnen nicht trauen. Das Mindeste, was sie tun, ist ihrer Willkür freien Lauf zu lassen – unnötig zu sagen, dass das mit unseren Verhält­nissen in Europa natürlich ganz und gar nichts zu tun hat.

Wenn man das Genre beschreiben will, dann wohl trifft Paranoia-Polit-Thriller am ehesten. Michel Franco zeigt Mexiko als die Klas­sen­ge­sell­schaft, die es ist. Ein Land, das einen Schritt über den Abgrund hinaus ist. Moral: Trau keinem.

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Das wird nicht allen gefallen. Dieser Film ist herrlich destruktiv und abgründig kritisch. Dass er keinen Trost spendet, ist sein Kapital. Dass man allen und allem zu miss­trauen lernt. Manchmal auch sich selber.

Dies ist wenigs­tens ein Film, kein bebil­dertes Manifest; keine Wohlfühl-Fabrik; kein Film, in dem sich der Bildungs­bürger in uns selber zurück­lehnen und an den Leiden in anderen Konti­nenten und in anderen Schichten ergötzen kann und daran, dass sie selbst über all das erhaben sind. Kein Film, in dem man es sich mit der eigenen Amoral bequem machen kann.

Franco insze­niert den Exzess. Kurz, hart, zynisch – ohne alle Hoffnung. Ohne Über­ra­schungen, ohne Deus ex machina, aber in einer seltsamen Schönheit, die in der Unver­fro­ren­heit und hand­werk­li­chen Souver­änität des Regis­seurs liegt. Aller­dings ohne Poesie, ohne Lust. Der Exzess ist ein negativer, depressiv und nihi­lis­tisch. Franco genießt es auch, Faschismus zu insze­nieren – aber er insze­niert ihn ohne die Ästhetik des Faschismus, ohne die Ästhe­ti­sie­rung der Macht – sondern eher als Inferno, als De Sade-sche Phantasie totaler Willkür.

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Das Ganze ist selbst­ver­ständ­lich auch eine bürger­liche Paranoia, ein Szenario, das unbe­wusste Ängste der herr­schenden Klassen ins Bild setzt. Und wer aus Europa wäre nicht im Welt­maß­stab Teil der herr­schenden Klasse?
Man könnte durchaus argu­men­tieren, dass der Film politisch rechts steht. Denn die Geschichte ließe sich auch so erzählen: Das kommt dabei heraus, wenn man den Armen helfen möchte. Und: Die Willkür des barba­ri­schen Mobs auf der Straße ist noch schlimmer als die Barbarei einer stäh­lernen Ordnung.

Aber das stimmt ja nicht. Das ist ja eine sehr ober­fläch­liche Lesart. denn tatsäch­lich überlebt Marianne den Überfall auf ihr Eltern­haus genau dadurch, dass sie den Armen helfen wollte und deswegen das Haus verließ.

Es gibt kein richtiges Handeln hier, weder moralisch, noch taktisch zur Über­le­bens­si­che­rung. Es gibt nur das Glück und den Zufall. Auch die Familie bietet keinen Trost. In Francos Film gibt es drei Mütter. Die eine wird gleich erschossen. Die zweite gehängt. Die dritte rät ihrem Sohn, als dessen Braut nach vier Wochen Verschwinden noch nicht wieder aufge­taucht ist, sie doch langsam zu vergessen. Dass diese Mutter damit sogar richtig liegt, macht das alles nicht besser.

In seiner Beschrei­bung der Willkür setzt New Order unbe­wusste Ängste ins Bild. Die Härte, die Kälte und die Coolness dieses Filme­ma­chens kann man mit der des Öster­rei­chers Michael Haneke (Das weiße Band) verglei­chen. Aber bei Franco ist – zum Guten wie zum Schlechten – mehr Enga­ge­ment spürbar. Es gefällt ihm weniger als Haneke, das zu zeigen, was er zeigt.

Glänzend insze­niert, seltsam schön. Wunder­bares Kino!