Die Nachbarn von oben

Schweiz 2022 · 92 min. · FSK: ab 12
Regie: Sabine Boss
Drehbuch:
Kamera: Pietro Zuercher
Darsteller: Roeland Wiesnekker, Ursina Lardi, Sarah Spale, Max Simonischek, Uma Thoenen
Dekonstruktion der Liebe...
(Foto: Wild Bunch/Central)

Gemächliches Gemetzel

Sabine Boss’ Generations- und Sex-Clash-Komödie nutzt ein Schweizer Mietshaus, um einen bitteren Befund über die Befindlichkeit der Schweizer Gesellschaft und der Liebe an sich abzugeben

Die wenigen Schweizer Filme, die es in den letzten Jahren in die deutschen Kinos geschafft haben, drücken vor allem eins aus: den unbe­dingten Willen, die starren, gesell­schaft­li­chen Konven­tionen des Schweizer Mitein­an­ders aufzu­bre­chen. Sei es Petra Volpes Die göttliche Ordnung (2017), Pierre Monnards Platz­spitz­baby (2021), Bettina Oberlis Wanda, mein Wunder (2020) oder Barbara Kulcsar Die goldenen Jahre – sie alle erzählen von dem tiefen Wunsch, vor allem die privaten Bezie­hungs­ge­flechte zu refor­mieren, es endlich einmal anders zu machen.

Diese Haltung hat auch der Film von Sabine Boss, deren erster Kinofilm Ernstfall in Havanna (2002) mit mehr als 300.000 Besuchern bis heute einer der 20 erfolg­reichsten Filme des Schweizer Kinos ist. Boss erzählt in ihrer mit deutschen Unter­ti­teln verse­henen Dialekt­komödie die Geschichte zweier Paare, die unter­schied­li­cher nicht sein könnten: Anna (Ursina Lardi) und Thomas (Roeland Wies­nekker), beide um die 50 und vom langen Leben und Lieben gezeichnet, sind auf die jungen Nachbarn von oben nicht ganz so gut zu sprechen, weil die Psycho­login Lisa (Sarah Spale) und Feuer­wehr­haupt­mann Salvi (Max Simo­ni­schek) dann doch zu oft laut Musik und Sex haben. Damit es dann doch zu einem abend­li­chen Mitein­ander kommt, braucht es einiges an Über­zeu­gungs­kraft und Zufällen, während der sich Boss Zeit nimmt, das von ehelichen Graben­kämpfen und beruf­li­cher Desil­lu­sion versehrte Paar prägnant zu zeichnen, ohne dabei zu über­zeichnen oder durch Over­ac­ting aus der als Komödie ange­legten Paar­the­rapie eine boule­var­deske Daddel-Komödie wie Bora Dagtekins Das perfekte Geheimnis zu machen.

Boss nimmt sich also auch des Ernst des Lebens ernst an und bleibt dann auch dabei, als die beiden Paare aufein­an­der­treffen. Zwar gibt es ein paar kalaue­rige Ausrut­scher wie die Fernrohr-Penis-Analogie, aber insgesamt bemüht sich Boss, das zu vermeiden, und bewegt sich mehr auf einem eska­lie­renden, psycho­dra­ma­ti­schen Niveau wie in Polanskis Gott des Gemetzels, der Verfil­mung von Yasmina Rezas Thea­ter­stück.

Auch in Die Nachbarn von oben treten die bildungs­bür­ger­lich gut versteckten Aggres­sionen mehr und mehr an die Ober­fläche, wird vor allem über die Schwie­rig­keiten, einen Orgasmus zu haben, dem Verhun­gern in einer Beziehung, der Über­ra­schungs­lo­sig­keit nach jahre­langem Zusam­men­leben und über das ganze dumme Leben an sich immer mehr Fahrt aufge­nommen. Boss erlaubt sich dabei immer wieder Besin­nungs­pausen, die ein wenig zu abrupt und lang ausfallen, und das Gemetzel einen fast schon gemäch­li­chen Charakter erhält, doch Boss’ starkes Ensemble nutzt diese Pausen dann auch zur schau­spie­le­ri­schen Neufin­dung, um mit verschärfter Dramatik den nächsten Akt einzu­läuten.

Diese schlei­fen­ar­tigen Schar­mützel haben dann selbst etwas von jahrelang eingeübten Eherou­tinen, und Boss und ihr Dreh­buch­autor Alexander Seibt sind dann auch klug genug, anzu­deuten, dass das junge Paar es nicht viel besser machen wird, auch hier eine nicht ausrott­bare, bildungs­bür­ger­liche Spießig­keit erste Keime bildet. Natürlich ist dieser depri­mie­rende Gedanke der ewigen Wieder­kehr etwas zu viel des Bösen für eine Komödie wie diese. Deshalb gibt es am Ende immerhin die klit­ze­kleine Hoff­nungs­dosis mit auf den Weg, dass wir zumindest über das Sprechen und dann und wann ein wenig gnaden­lose Offenheit eine Art System-Neustart durch­führen können. Paar­the­rapie also immer eine gute Idee ist.