Nachts in Union City

Union City

USA 1980 · 87 Minuten
Regie: Mark Reichert
Produktion: Monty Montgomery
Drehbuch:
Kamera: Edward Lachman
Darsteller: Deborah Harry, Dennis Lipscomb, Irina Maleeva, Everett McGill, Pat Benatar u.a.

Der neurotische Buchhalter

Independent-Neo-noir-Juwel mit David-Lynch-Touch. Zum Wiederentdecken

Der Neo-Noir Nachts in Union City von 1980 ist der einzige Spielfilm von Marcus Reichert aka Mark Reichert. Das Multi­ta­lent ist auch als Dichter, Autor, Fotograf und Maler aktiv. Der Film basiert auf der Kurz­ge­schichte »The Corpse Next Door« von 1937 von Cornell Woolrich. Reichert, der auch das Drehbuch geschrieben hat, bemerkte, dass diese Short Story nur ein begrenztes drama­ti­sches Potenzial besaß, da sie eine psycho­lo­gi­sche Unter­füt­te­rung der Charak­tere vermissen ließ. Und es ist gerade die Psycho­logie, die in Nachts in Union City eine wesent­liche Rolle spielt.

Der Film spielt im März 1953 in der titel­ge­benden Stadt Union City in New Jersey, die nur durch den Hudson-River von Manhattan getrennt ist. In einem kleinen Apartment wohnen der neuro­ti­sche Buch­halter Harlan (Dennis Lipscomb) und seine sexuell frus­trierte Frau Lillian (Deborah Harry). Harlan schimpft über seine Arbeit und darüber, dass irgend­je­mand aus den Milch­fla­schen trinkt, die der Milchmann jeden Morgen vor die Tür des Apart­ments stellt. Die von ihm igno­rierte Lillian hat eine Affäre mit dem Gebäu­de­in­spektor Larry (Everett McGill). Harlan bindet eine Schnur an die Milch­fla­sche, um den Täter zu über­führen. So erwischt er den Schul­digen, einen obdach­losen Kriegs­ve­te­ranen (Sam McMurray). Im Affekt schlägt er den Kopf des Land­strei­chers auf den Boden, wodurch es zu einem Schä­del­bruch kommt. Harlan versteckt die Leiche in einem Klappbett in einer leer stehenden Wohnung gegenüber von seinem eigenen Apartment.

Wie bereits die leicht abstruse Handlung vermuten lässt, ist Nachts in Union City nicht voll­kommen ernst­zu­nehmen. Wenn Harlan nachts auf allen Vieren auf den Flur kriecht, um die Milch­fla­sche zuerst an sich zu nehmen und dann wieder zurück auf den Flur zu stellen, dann ist das zutiefst komisch. Das Gleiche gilt, wenn Harlan später seiner Sekre­tärin aufgeregt verkündet, dass er seinen Kaffee nicht mehr mit Milch trinkt. Selbst als Harlan völlig aufgelöst auf dem Sofa zusam­men­bricht, ist das eher lustig als tragisch. Nachts in Union City zeichnet sich durch einen absurden Humor aus, der irgendwo zwischen der Komik vieler Filme von David Lynch (Blue Velvet, 1986) und dem schwarzen Humor von Alfred Hitchcock (Immer Ärger mit Harry, 1955) liegt. Produ­ziert hat übrigens der spätere Lynch-Produzent Monty Mont­go­mery, der bei Wild at Heart und Twin Peaks mitmischte.

Nachts in Union City zeigt den psychi­schen Verfall von Harlan. Dieser wandelt sich vom anfäng­li­chen Neuro­tiker zu einem totalen Nerven­wrack. Er betrinkt sich und erleidet Zusam­men­brüche. Für seine Frau Lillian ist er überhaupt nicht mehr ansprechbar. So treibt er sie immer tiefer in die Arme von Larry. Es gibt auch eine Mastur­ba­ti­ons­szene mit »Debbie« Harry, bei der sich die »Blondie«-Frontfrau tief in den Schlüpfer greift. Spätes­tens an diesem Detail ist zu erkennen, dass der Film nicht 1953, sondern 1980 gedreht wurde.

Der in das Film­ar­chiv des Museum of Modern Art aufge­nom­mene Film steht in dem Ruf, der erste Neo-Noir überhaupt zu sein. Das ist jedoch nicht richtig. Neo-Noirs wie Point Blank (1967) und Chinatown (1974) kamen bereits um Dekaden früher heraus. Dabei ist letzterer auch ein Beispiel für einen Neo-Noir, der nicht nur die Stilistik der berühmten Filme der Schwarzen Serie aufgreift, sondern auch zu der Zeit spielt, in der die origi­nalen Film noirs heraus­kamen.

Nachts in Union City ist jedoch ein Neo-Noir, der durch seine gelungene Atmo­s­phäre überzeugt. Zu dieser trägt auch der Sound­track von Chris Stein bei. Dieser ist kein Gerin­gerer als der Lebens­ge­fährte von Deborah Harry und Mitbe­gründer von »Blondie«. Sehr gelungen ist auch der visuelle Aspekt des Films. An diesem sieht man deutlich, dass Marcus Reichert insbe­son­dere auch ein Maler ist. Nachts in Union City ist ein Tech­ni­color-Film, der sich durch eine starke Farbig­keit auszeichnet. Dabei konzen­triert sich Reichert immer wieder auf die Primär­farben Blau, Rot und Gelb. Gelb sind die Blüten der Blumen, die sich Lillian in einem ihrer einsamen Momente ansteckt. Leuchtend rot sind die Lampen­schirme im Wohn­zimmer ihres Apart­ments. Rot und blau leuchten auch die Fenster in einer Bar. In der himmel­blau gestri­chenen Küche sitzt Lillian in einem roten Morgen­mantel auf einem knall­gelben Stuhl.

Nachts in Union City ist ein Inde­pen­dent-Film fernab des Hollywood-Main­streams, auf den man sich einlassen muss. Wer dies tut, für den gibt es einiges zu entdecken. Und am Ende wartet Nachts in Union City mit einer tüchtigen Über­ra­schung auf. Es lohnt sich auf jeden Fall, dieses kleine Juwel wieder­zu­ent­de­cken.