Nach einer wahren Geschichte

Based on a True Story

Niederlande 2005 · 75 min.
Regie: Walter Stokman
Drehbuch:
Kamera: Jacko van 't Hof
Schnitt: Menno Boerema
Das war nicht Al Pacino

Was war und was ist wahr?

Unscheinbar sind die Worte »Nach einer wahren Bege­ben­heit / Geschichte«, die mitt­ler­weile so vielen Filmen voran­ge­stellt werden und doch könnte man mehr­bän­dige Abhand­lungen darüber schreiben, da sie auf das weit­rei­chende Span­nungs­feld zwischen Fiktion und Realität im Kino hinweisen.

Wie beein­flussen sich Realität und Film? Wie viel Realität im Film wollen bzw. brauchen wir? Wo steckt für die Zuschauer der Reiz, eine wahre Bege­ben­heit hinter einer Handlung zu wissen und wird ein Film dadurch zwangs­läufig »wahr­haf­tiger«? Wie weit kann, soll und darf ein Film von der wahren Geschichte abweichen? Schreibt das Leben wirklich die besten Geschichten und wenn dem so ist, warum erlauben sich dann Dreh­buch­au­toren und Regis­seure zum Teil erheb­liche Ände­rungen bei der Adap­tie­rung? Wie verhalten sich zu all dem die Doku­men­tar­filme, die doku­men­ta­ri­schen Spiel­filme und die insze­nierten Dokus?

Wie relevant dieses Thema ist, zeigt ein Blick ins aktuelle Kino­pro­gramm mit Filmen wie Jarhead oder Kaltes Land, die sich auf wahre Bege­ben­heiten berufen, mit Walk The Line, der den Trend der Bio-Pics fortsetzt und mit Spiel­bergs München, der einen sehr umstrit­tenen Umgang mit der Vergan­gen­heit pflegt und dem die sehens­werte Doku­men­ta­tion Ein Tag im September (die jedem auf DVD empfohlen sei, dem es nicht um einen belie­bigen Agenten-Thriller, sondern um die Vorkomm­nisse von Olympia 1972 geht) als realitäts­nahe Antipode gegenüber steht.

Letztes Jahr schlug der Film Rumor has it... (der mit dem bezeich­nenden Unter­titel »Based on a true rumor« beworben wurde) manch intel­li­gent amüsante Volte, indem er behaup­tete, hinter der Roman­vor­lage zum Film Die Reife­prü­fung stecke eine wahre Bege­ben­heit, die im vorlie­genden Film fort­ge­setzt wurde.

Den selben Ansatz, nur unter komplett umge­kehrten Vorzei­chen, hat nun der Doku­men­tar­film Nach einer wahren Geschichte (Based On A True Story), der die Hinter­gründe eines echten Banküber­falls, dessen spek­ta­ku­läre Umstände den Film Hundstage von Sidney Lumet inspi­rierten, aufzeigt.

Am 22. August 1972 (und somit 14 Tage vor dem Olym­pia­at­tentat von München, weshalb hier ein noch­ma­liger Verweis auf die oben erwähnte Doku Ein Tag im September, diesmal in Hinsicht auf die tragische Ähnlich­keit der Ereig­nisse und zudem als doppeltes zeit­ge­schicht­li­ches Stim­mungs­bild ange­bracht ist) überfällt John Wojtowicz zusammen mit einem ihm kaum bekannten Krimi­nellen in New York eine Bank, um Geld für die Geschlechts­um­wand­lung seines homo­se­xu­ellen Freundes (den er trotz beste­hender Ehe mit Frau und zwei Kinder ebenfalls »gehei­ratet« hat) aufzu­treiben. Der Überfall entwi­ckelt sich zur Geisel­nahme, die unter großer Medi­en­auf­merk­sam­keit nach 14 Stunden blutig beendet wird. Wojtowicz bleibt unver­letzt, muss ins Gefängnis, Hollywood entdeckt die Geschichte und macht schließ­lich 1975 den Film Dog Day Afternoon mit Al Pacino in der Haupt­rolle daraus.

Der hollän­di­sche Doku­men­tar­filmer Walter Stokman hat sich 30 Jahre später aufge­macht, die wahre Geschichte hinter Lumets Film zu zeigen, wozu ihm umfang­rei­ches Archiv­ma­te­rial und zahl­reiche Aussagen der damals Betei­ligten bzw. Betrof­fenen dienen. Der wich­tigste Zeuge aber, der mitt­ler­weile frei­ge­las­sene Wojtowicz, unter­gräbt dieses Projekt mit aber­wit­zigen finan­zi­ellen und gestal­te­ri­schen Forde­rungen, was der Sache eine nicht ganz frei­wil­lige, neue Richtung gibt.

Dem fertigen Doku­men­tar­film schadet dies nicht, im Gegenteil. So ist der Regisseur gezwungen, sich eben nicht nur auf die Aussage der zentralen Figur zu verlassen, was der grund­sätz­li­chen Tendenz, einen diffe­ren­zierten, viel­schich­tigen Film zu machen entge­gen­kommt.

Geradezu exem­pla­risch führt Nach einer wahren Geschichte dabei in das Zwischen­reich der Eingangs gestellten Fragen und Probleme. Da geht es um die Schwie­rig­keit, in einer Doku die eine, endgül­tige Wahrheit über die damaligen Ereig­nisse zu finden. Wir erfahren etwas über die Trans­for­ma­tion der tatsäch­li­chen Ereig­nisse in einen Holly­wood­film. Stokman zeigt, welchen Einfluss die Medien­be­richt­er­stat­tung auf den Spielfilm ausübte und welchen Effekt der Spielfilm wiederum auf die Realität hatte. Und dadurch, dass uns der Regisseur Einblicke in den schwie­rigen Entste­hungs­pro­zess seines Werkes gibt, wird klar, dass der vorlie­gende Film die Verschlin­gungen von Wahrheit und Fiktion in die nächste Runde schickt.

Technisch setzt Stokman dies auf sehr hohem Niveau um, wobei besonders die brillante Verwebung von Archiv­ma­te­rial und Szenen des Films Hundstage heraus­sticht.
Auch sonst vermeidet der Film alle möglichen Fehler und Schwächen aktueller Dokus.
Er ist (erkennbar) sinnvoll geglie­dert, er enthält sich sowohl vorder- als auch hinter­gründig jeder mora­li­schen Wertung, ihm fehlt der (vor allem in ameri­ka­ni­schen Dokus oft zu findende) wich­tig­tue­ri­sche »Und dann geschah das, was ihr Leben für immer verändern sollte«-Erzählton und die Inter­view­partner bekommen genau das richtige Maß an Spielraum, um weder unbe­deu­tende Stich­wort­geber noch peinliche Selbst­dar­steller zu sein.

Einen weiteren Pluspunkt erwirbt sich Nach einer wahren Geschichte durch die Leich­tig­keit, mit der er ein ganzes Bündel von Themen mehr oder weniger eingehend behandelt. Das Leben eines sehr unge­wöhn­li­chen Mannes, die Geschichte eines miss­glückten Verbre­chens, New York im Sommer ‘72, die Medien zu dieser Zeit, die Entste­hung eines Spiel­films, die Entste­hung eines Doku­men­tar­films und als zentrales Motiv eben die Verbin­dung von realen Ereig­nissen und deren Verar­bei­tung im Kino.

Nach einer wahren Geschichte liefert wie oben erwähnt einige inter­es­sante Aspekte und Beispiele zu diesem Thema, kann dabei aber (zwangs­läufig) nur einen kleinen Einblick liefern und wirft oft neue Fragen auf, während er andere beant­wortet. Am deut­lichsten zeigt sich dies an den titel­ge­benden Worten »Based on a true story«, die in ihrer Unbe­stimmt­heit unzäh­ligen Filmen voran­ge­stellt werden, um echte Ereig­nisse »unge­straft« im Kino variieren zu können.
Hundstage von Sidney Lumet beginnt aber gar nicht mit dieser Formel, sondern mit den an Eindeu­tig­keit kaum zu über­tref­fenden Worten: »What you are about to see is true – it happened in Brooklyn, New York on August 22, 1972.«

In welchem Sinne ist das Kommende »true«, möchte man fragen und merkt dabei, wie man sich immer mehr in der Suche nach der Kino­rea­lität verfängt.