Mutter & Sohn

Pozitia copilului

Rumänien 2012 · 112 min. · FSK: ab 12
Regie: Calin Peter Netzer
Drehbuch: ,
Kamera: Andrei Butica
Darsteller: Bogdan Dumitrache, Luminita Gheorghiu, Natasa Raab, Ilinca Goia, Vlad Ivanov u.a.
Schlimmer geht nimmer

Groß und klein

Es ist eine Situation, die ange­sichts der inter­na­tio­nalen Erfolge rumä­ni­scher Film­pro­duk­tionen bei namhaften Festivals paradoxer kaum sein könnte und bereits seit längerem immer absurdere Formen annimmt, ohne das viel Aufhebens darum gemacht wurde. Aber jeder Witz ist nur so lange lustig, bis die Realität ihn einholt.

Die unga­ri­sche Jour­na­listin Rita Szent­györgyi wusste letzten Monat erschüt­ternd viel über diese Realität zu berichten, nachdem sie mit Vertre­tern der rumä­ni­schen »neuen Welle« gespro­chen hatte, u.a. mit dem Regisseur Cristian Mungiu (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, Goldene Palme und Europäi­scher Filmpreis 2007): »Die Welt spricht seit Jahren über eine neue Welle des rumä­ni­schen Films, aber die Film­pro­duk­tion selbst liegt im Sterben«, sagte Mungui und fuhr fort: »Diese inter­na­tio­nalen Preise haben keinerlei Wirkung auf die Entschei­dungs­träger der rumä­ni­schen Film­branche. Mit sechs bis acht Produk­tionen jährlich, die im Ausland allesamt größere Zuschau­er­zahlen haben als in Rumänien, ist es unsinnig von einer goldenen Zeit des rumä­ni­schen Films zu sprechen.« Den Statis­tiken zufolge exis­tieren in Rumänien nicht mehr als 80 Kinos für 20 Millionen Einwohner. Der Rumäne geht im Durch­schnitt alle 10 Jahre ins Kino. »Unsere Filme werden meistens von Jour­na­listen, Intel­lek­tu­ellen und Film­ver­rückten angesehen, das breite Publikum ist nicht inter­es­siert«, zitierte Szent­györgyi den Regisseur Radu Jude, eine Situation, die laut Szent­györgyi auch für den unga­ri­schen Film gilt. [1]

Sieht man den auf der dies­jäh­rigen Berlinale mit dem goldenen Bären ausgez­eich­neten Mutter & Sohn von Calin Peter Netzer, wundert das kaum. Die von Netzer akribisch in Szene gesetzte Geschichte um eine rumä­ni­sche Mutter, die ihrem erwach­senen Sohn mit ihren zahl­rei­chen sozialen Kontakten unter die Arme greift, nachdem er ein Kind über­fahren hat, setzt hohe Ansprüche selbst an Cineasten. Nicht nur auf der Ober­fläche, wo sich Netzer immer wieder in kaum zu ertra­genden Details post­so­zia­lis­ti­scher Tristesse verliert. Minu­ten­lange Einstel­lungen um die Schä­big­keit früh­ka­pi­ta­lis­ti­scher Veror­tungen lösen lange Einstel­lungen rumä­ni­scher Alltäg­lich­keit ab, etwa eines Alko­hol­tests in einer Klinik, in einem immer wieder fast grotesken Detail­reichtum, der mehr an Video­in­stal­la­tionen auf einer Art-Biennale als einen Spielfilm denken lässt.

Ebenso verbissen wie die äußere Ästhetik geht Netzer in Mutter & Sohn die inneren Welten der Prot­ago­nisten und der Gesell­schaft an, in der sie leben. Eine an den über­kom­menen, aber nichts­des­to­trotz mächtigen Struk­turen rüttelnde Mutter-Sohn-Beziehung, die in ebenso marode, von korrupten Bezie­hungs­ge­flechten durch­setzte Gesell­schafts­struk­turen des gegen­wär­tigen Rumäniens einge­bettet ist. Ein Zerr­spiegel der sozia­lis­ti­schen Zeit und gleichz­eitig die hässliche Fratze des west­li­chen Kapi­ta­lismus, wie er häss­li­cher kaum sein kann. Nepo­tismus und Geld regiert, Bezie­hungen werden zerstört, wenn nötig, auf der persön­li­chen Ebene genauso wie auf der gesell­schaft­li­chen – groß ist klein und klein ist groß, die Mikro­ebene nährt die Makro­ebene und vice versa ohne Ende und völlig ohne Heil­ver­spre­chen. Verstärkt wird diese Haltung durch eine um Authen­ti­zität bemühte und jegliche Ästhetik brechende Hand­ka­mera, die jeden Dialog bei Seegang Stärke 9 zu einem kotzenden Horror­trip für nicht seefeste Kinogeher werden lassen dürfte.

Der Schmerz wird also tatsäch­lich spürbar, aber gleichz­eitig wird auch deutlich, was die rumä­ni­sche Film­för­de­rung umtreibt. Wer diese Art von Alltag nicht nur täglich durch­stehen muss, sondern sie dann auch noch im Kino gespie­gelt bekommt, dem bleiben eigent­lich nur drei Wege: bewaff­neter Wider­stand, Suizid oder Exil.

[1] Quelle: Perlen­tau­cher Maga­zin­rund­schau vom 30.04.2013 und
HVG.HU \ HVG HETILAP \ 2013 \ 16. SZÁM : ÜNNEPELT ROMÁN FILM – Megs­zépítő messzeség