Music

D/F/GR/SRB 2023 · 109 min. · FSK: ab 12
Regie: Angela Schanelec
Drehbuch:
Kamera: Ivan Markovic
Darsteller: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou, Argyris Xafis, Frida Tarana u.a.
Unschuldiges Schuldigwerden in der neuzeitlichen Antike
(Foto: Grandfilm)

Der befreite Ödipus

Angela Schanelec erzählt in Music in einem hypnotischen Filmfluss von der Wiederkehr des Mythos, vom Rauschen der Natur und von den Körpern der Schauspieler

Eine Wolke zieht durch die grie­chi­schen Berge, einen kargen Felsen hinauf, hüllt das Bild in wattiges Weiß. Ein harter Schnitt, das Bild jetzt dunkel, vehe­mentes Schluchzen im Off. Das Bild klärt sich auf, buchs­täb­lich, ein junger Mann schleppt sich den Berghang hinauf, er ist verletzt. Ein Unter­schlupf aus geschich­tetem Granit, ein Kran­ken­wagen. Der Sanitäter birgt ein Baby aus dem Verschlag, es ist ein Findel­kind, abgelegt in der Bergwelt, damit es keiner findet. Womöglich liegt ein schweres Schicksal über ihm…

Still und sinnlich, frag­men­ta­risch und rätsel­haft, beginnt das neue Meis­ter­stück der deutschen Regis­seurin Angela Schanelec. Music hat sie es genannt, am Anfang und über weite Teile des Films jedoch ertönt nur die erfüllte Stille der Natur. Lose weben sich allmäh­lich Fäden einer tief­ge­henden Handlung. Der verletzte Mann, der Sanitäter, das geborgene Baby sind Elemente eines tieferen mythi­schen Zusam­men­hangs der Menschen. Sie sind Prot­ago­nisten auf einer Zeitreise, die keine Markie­rungen zwischen dem Vergan­genen und der Gegenwart kennt. Alles ist gleich­zeitig da. Für ihre Meis­ter­schaft der Zeitü­ber­lap­pung und der absichts­vollen Achro­no­logie hat Angela Schanelec dieses Jahr auf der Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhalten.

Das, was ist, enthält das, was war. Das, was war, greift voraus auf das, was ist.
Jugend­liche, sie könnten aus den Acht­zi­ger­jahren stammen, auf einem Roadtrip die felsige Meeres­küste Grie­chen­lands entlang. Ein Junge mit deut­li­cher Fußver­let­zung, der Spann ist blutig, aufge­schürft. Während er sich die Füße banda­giert, weht eine Wolke durchs Bild, Wind hebt an. Ein sphä­ri­sches, sehr andeu­tungs­volles und kaum dechif­frier­bares Indiz dafür, dass hier eine Ebene im Spiel ist, die hinter dem Bild, hinter dem Darge­stellten steht. Das ausge­setzte Baby, die Füße mit den Wundmalen, ja, man muss seinen Mythos schon kennen, um zu wissen, dass hier anspie­lungs­reich Ödipus ins Spiel gebracht wird.

Ödipus, wörtlich »der Schwellfuß«, ist so etwas wie der Prototyp des tragi­schen Helden, der vergeb­lich versucht, seinem Schicksal zu entkommen. Zuerst wird er als Baby ausge­setzt, weil die Götter prophe­zeien, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter ehelichen wird (ja, Freud lässt grüßen). Das Baby wird gerettet, seine Füße von den Zieh­el­tern mit Nadeln markiert, Body-Horror der antiken Mythen. Resultat ist das Fußpro­blem.

Der junge Mann mit den banda­gierten Füßen, sie nennen ihn Ion (Aliocha Schneider), ist in Scha­nelecs Film also ein neuzeit­li­cher Wieder­gänger von Ödipus, ihr Film eine Phantasie über den Zeit­rei­senden. Sie entreißt Ödipus jedoch Freud und gibt ihn der Natur und dem Mythisch-diffus-Unheil­vollen zurück. Später wird Ion allmäh­lich sein Augen­licht verlieren, auch dies eine Anspie­lung an den Mythos, wo Ödipus im Moment der Anagno­risis, des Erkennens der eigenen Schuld, sich »blendet«, wie man in mythi­schen Kreisen sagt. Sich die Augen aussticht.

Die Frag­men­tie­rung des Körpers in Füße und Augen treibt Schanelec weiter, lässt den sanft filmenden Ivan Marković seine Kamera auch auf die Hände der Prot­ago­nisten richten, wenn sie einen Krebs am Ufer aus dem Wasser heben, ihn wieder zurück­setzen. Füße, die sich über die Felsen in die Wellen hinein­tasten. Oder Hände, die einander greifen, intensive Blicke, die sich fixieren. Bevor es zwischen zwei Männern zum Kuss kommt, Ion Lucian von sich stößt. – Ein tragi­scher Unfall.

Oft wurden Schanelec die an Bresson erin­nernden Close-ups, die die ganze Handlung im Körper-Fragment zu erzählen wissen, als Manie­rismen vorge­halten. Mit der Ödipus-Sage macht sie sie zum notwen­digen, ästhe­ti­schen Prinzip.

Noch immer spricht kaum einer ein Wort, es ist auch keine Musik zu hören, während sich im Hinter­grund pracht­voll der Horizont über dem Meer auftut. Ein Schrei löst sich aus der Stille. Lose flicht sich ein neuer Hand­lungs­strang in die Textur des Films, Auftitt der wunder­baren Agathe Bonitzer als Gefäng­nis­wär­terin Iro, durch­ge­drückter Rücken, Dutt. Bonitzer, die man in Filmen von Damien Manivel (Isadoras Kinder) gesehen hat, ist auch Tänzerin. Mit ihrer strengen Präsenz akzen­tu­iert sie noch einmal mehr die Tragik des Körper­li­chen dieser Ödipus-Phantasie.

Sie ist es dann auch, die auf dem tragbaren Kasset­ten­re­korder auf »Play« drückt, endlich ist sie da, die Musik. Ihre barocke Playlist: Monte­verdi, Bach, Pergolesi, Vivaldi, Purcell, Scarlatti, Händel. Die Musik legt sich über die Bilder der Körper, der schau­enden Menschen. Eine Maus wird mit bloßen Händen gefangen, wieder frei gelassen. Zum ersten Mal dann auch eine lange Passage mit einer mensch­li­chen Stimme, sie singt grie­chisch vom Mond, der Sonne, dem toten Fluss. Über­la­gert die Szenen der Tisch­tennis spie­lenden Gefäng­nis­wär­te­rinnen, begleitet Iro in den Super­markt, wo sie Wasser kauft. Die Musik leiht Ion die Sprache, er wird sich im Singen arti­ku­lieren. In tragi­scher Weise werden sich Ion und Iro verbinden.

Schanelec erzählt in einem laby­rin­thi­schen und ellip­ti­schen Pfad sehr sinnlich und sehr physisch von der alten Ödipus-Saga als tiefem und rätsel­haftem Bezie­hungs­ge­flecht zwischen den Menschen. Wer sich darauf einlässt, wer sich der Natur und den Körpern der Schau­spieler übergibt, wer sich ganz der Atmo­s­phäre und den Geräu­schen vom Wind und dem Wasser überlässt, wer die Stille aushalten kann, auch die Stille größter Hand­lungs­armut und größter Tragik, der wird einen hypno­ti­schen Filmfluss und tiefes Kino-Glück erfahren.