Multiple Schicksale – Vom Kampf um den eigenen Körper

Schweiz 2015 · 89 min. · FSK: ab 12
Regie: Jann Kessler
Drehbuch:
Kamera: Jann Kessler, Jürg Kessler
Schnitt: Martin Witz, Jann Kessler
Multiperspektivische Kompetenz

Schulen des Scheiterns

Eine Frau, ihr Alter ist schwer zu schätzen, liegt regungslos in einem Pfle­ge­bett. Sie hat Besuch, der sich irgend­wann liebevoll verab­schiedet. Eine Träne läuft über ihr Gesicht. Das ist also Mama, und sie hat Multiple Sklerose.

Schnell und scho­nungslos kommt der junge Schweizer Filme­ma­cher Jann Kessler in Multiple Schick­sale zur Sache. Sein Doku­men­tar­film, einst als Abi-Arbeit einge­reicht und in Koope­ra­tion mit dem Regisseur Martin Witz komplett neu geschnitten, ist eine Ausein­an­der­set­zung mit der Krankheit, der seiner Mutter das Leben raubte – schlei­chend, uner­bitt­lich, immer mehr.

MS – dieser merk­wür­dige Begriff, der Nerven­ent­zün­dungen in Gehirn und Rücken­mark beschreibt. Für den es statt hand­fester Erklä­rungen und Prognosen eine oft nur wenig befrie­di­gende Eintei­lung in diverse Verlaufs­formen gibt. Und der – berech­tig­ter­weise oder nicht – Phar­ma­kon­zernen gute Geschäfte garan­tiert. Nichts von alledem ist Gegen­stand von Multiple Schick­sale. Zum Glück.

Um den »Kampf um den eigenen Körper« (so der Unter­titel) besser verstehen zu können, begibt sich Kessler auf die Reise durch die Deutsch-Schweiz, sucht andere MS-Betrof­fene auf, will wissen, wie sie »damit umgehen«. Nicht die Medizin, die Menschen sind von Belang – seine schnör­kel­lose Frage­stel­lung ermög­licht, dass die Krankheit zwar Thema bleibt, gleich­zeitig aber immer mehr in den Hinter­grund rückt. Kessler besitzt eine Art multi­per­spek­ti­vi­sche Kompetenz: Seine Bilder zeigen, wie das Du-sein aussieht und lassen ein Stück weit ahnen, wie es sich anfühlen mag. Die Inten­sität des Gezeigten ist dann mitunter schwer auszu­halten und dennoch unver­zichtbar. Denn so entlarven sich Formu­lie­rungen wie »Krankheit mit 1000 Gesich­tern« oder »Aufgeben? Keine Option!« und was sonst noch so im Zusam­men­hang mit MS immer wieder gerne bemüht wird, als allzu schnell abge­nickte Plat­titüden, deren Gegenteil viel­leicht erst recht Gültig­keit besitzen kann: Hat MS wirklich 1000 Gesichter oder haben alle Porträ­tierten am Ende doch verschie­dene Krank­heiten, die unter einem Namen zusam­men­ge­fasst werden? Welche Rolle spielt dann überhaupt die Benennung? Wie wirkt es sich auf die Haltung zur MS und zum eigenen Leben aus, wenn man das Aufgeben tatsäch­lich als Option (ein)schätzt? Die letzte Frage drängt sich vor allem bei Rainer auf, der im Streit mit der ihm uner­träg­lich werdenden Krankheit sich das letzte Wort nicht nehmen lassen will. Er und seine Familie dürften bei der Mehrheit der Zuschauer tiefe Spuren hinter­lassen.

So stößt Multiple Schick­sale viele Themen­türen auf, hinter denen das Feuer der Kontro­verse wartet und die gewiss nicht nur für Menschen mit MS von enormer Bedeutung sind. Man darf gespannt sein, wie sich das außer­or­dent­liche Regie­ta­lent Jann Kessler in den kommenden Jahren noch weiter­ent­wi­ckelt.

»Viel­leicht hat man nur eine bestimmte Anzahl an Tränen für eine Geschichte«, kommen­tiert Graziella die Ausein­an­der­set­zung mit »ihrer« MS. Diese Sorte lakonisch hervor­ge­brachter Gedan­ken­schätze sind keine auswendig gelernten Kalen­der­sprüche, die Gesprächs­partner keine belie­bigen Fall­bei­spiele. Und wenn man das Tattoo sieht, das sich die blutjunge Luana glücklich auf ihren Unterarm täto­wieren lässt, liest es sich wie die Quint­es­senz aus diesen Multiplen Schick­salen. »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« Die Schule des Schei­terns – jeder der Betrof­fenen scheint seine auf höchst­per­sön­liche Art gemeis­tert zu haben. Auch Mama Ursula.

Keine Frage, Jann Kesslers Debüt ist mehr als empfeh­lens­wert. Eine kleine Einschrän­kung muss jedoch erlaubt sein: Wer die Diagnose erst erhalten hat, für den mag es mitunter sinn­voller sein, sich diesen Film für einen Zeitpunkt aufzu­heben, in dem das Verhältnis zur eigenen Krankheit geklärt oder zumindest klarer ist. Auf diesem Weg kann beispiels­weise der Doku­men­tar­film Kleine graue Wolke von Sabine Marina hervor­ra­gende Unter­s­tüt­zung leisten, da sie sich mit vielen grund­sätz­li­chen Fragen, die sich vor allem zu Beginn der MS-Diagnose stellen, in teilweise fiktio­nalen Sequenzen inspi­rie­rend ausein­an­der­setzt. Multiple Schick­sale verlangt vom Zuschauer einiges ab – unter anderem, die eigene Geschichte von den vorge­stellten abzu­grenzen. Nur so kann Kesslers Film eine berei­chernde, gar moti­vie­rende Wirkung entfalten.