München – Im Angesicht des Krieges

Großbritannien 2021 · 130 min. · FSK: ab 12
Regie: Christian Schwochow
Drehbuch:
Kamera: Frank Lamm
Darsteller: Jeremy Irons, George MacKay, Jannis Niewöhner, Robert Bathurst, Jessica Brown Findlay u.a.
Das Publikum als Augenzeuge eines weltgeschichtlichen Augenblicks
(Foto: Netflix)

Staatskunst und Filmhandwerk

Der Netflix-Politthriller München – Im Angesicht des Krieges von Christian Schwochow zeigt gutes Timing, alte Thesen und neue deutsche Arbeit am Hitler-Mythos

»Es war absurd. In den nächsten Sekunden würde er verhaftet werden – trotzdem war er nicht fähig zu handeln. Und wenn schon eher nicht handeln konnte, wer dann? In der Sekunde, einem Augen­blick der Klarheit, er kann der ja, dass niemand, nicht er, nicht das her, nicht ein einzelner Atten­täter, dass kein Deutscher ihr gemein­sames Schicksal aufhalten konnte, bevor es sich erfüllt hatte.«
- Robert Harris in »Munich« über Paul von Hartmann

»Man kann sich heute den Geis­tes­zu­stand nicht einmal vorstellen, der solches Handeln bewirken konnte.«
- Winston Churchill rück­bli­ckend über Cham­ber­lains Politik im Jahr 1938

»München 1938« – wofür steht das? Für naive oder gefähr­liche Beschwich­ti­gungs­po­litik, »Appease­ment«. Also für genau das, was gerade die neuerwachten, frische Morgen­luft witternden Atlan­tiker der Bundes­re­gie­rung, insbe­son­dere den Sozi­al­de­mo­kraten vorwerfen.
Nun dieser Film über eben »München 1938«. Eine Ehren­ret­tung für den Oberap­peaser, den briti­schen Premier Neville Cham­ber­lain.
Wie man es auch wendet: München – Im Angesicht des Krieges ist zwar ein konven­tio­neller Histo­ri­en­schinken, aber der Tag und die Stunde machen es zu zeit­genös­si­schem Stoff.

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Ein Deutscher benimmt sich daneben. »I want to feel something real!!!« schreit er in die Nacht hinaus. Betrunken sind die anderen auch, aber sie wissen sich zu benehmen. Der Deutsche dagegen macht aus seinen fehlenden Manieren und seinem Suff die Tugend der Ehrlich­keit: Nur frei heraus, wie’s der Deutschen Art ist. Ich bin sicher, Adam von Trott zu Solz, der das Vorbild für diese Figur ist, Diplomat wurde und später zum Wider­stands­kämpfer gegen die Nazis, und noch später, am 20. August 1944 von ihnen hinge­richtet, dieser anglo­phile Aris­to­krat war nicht so.

Die Filmfigur, die Paul von Hartmann heißt, markiert von Anfang an den harten Mann, sabbelt etwas über seine Verzweif­lung über diese Genera­tion, und urteilt über seine Gastgeber: Was er in Oxford gelernt habe sei das Haupt­merkmal der Engländer: Ihre Distanz zu Gefühlen. Die Deutschen dagegen: »We are nothing but feelings!«

Es ist das klas­si­sche, sattsam bekannte Klischee der Deutschen von den Briten. Und ein charak­te­ris­ti­scher Unter­schied zum Roman, der dem Film zugrunde liegt. Dort fällt die Bemerkung auch, aber mit anderer Stoß­rich­tung: Im Buch bemerkt von Hartmann, ihm fehle »das eine großar­tige Charak­ter­merkmal der Engländer, nämlich die Distanz nicht nur unter­ein­ander, sondern auch gegenüber aller Erfahrung – ich glaube, das ist das Geheimnis der engli­schen Lebensart.«

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All das wäre gar nicht nötig gewesen. Denn es hat mit all dem, was folgt, nichts zu tun. Diese Rück­blende in die frühen 1930er Jahre ist nur das, was man in manchen Kreisen für »einen guten Einstieg« hält, und hat für den Film die Funktion, die Freund­schaft zwischen den zwei Haupt­fi­guren, den ehema­ligen Studi­en­freunden Hugh Legat (George MacKay) und Paul von Hartmann (Jannis Niewöhner), einem briti­schen und einem deutschen Diplo­maten, zu etablieren.
Zugleich darf sie das Publikum ein bisserl irre­führen: Denn die Kostüme könnten auch aus den 20er Jahren stammen, die Leute sind nicht nur fröhlich, sondern ausge­lassen, trinken Cham­pa­gner und rauchen. Das soll »Jugend« symbo­li­sieren, Aufbruch und Zukunft; weckt aber auch den Eindruck: Da hat irgendwer ein bisschen zu viel Babylon Berlin geguckt, und The Great Gatsby obendrauf...

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Der Netflix-Film München – Im Angesicht des Krieges ist ein histo­ri­scher Polit­thriller, ein Film über Krisen­di­plo­matie, der, in einer vergan­genen Epoche ange­sie­delt, dieser durchaus gegen­wär­tige Seiten abgewinnt und zugleich einige nicht ganz neue, aber nach wie vor fesselnde revi­sio­nis­ti­sche Thesen entwi­ckelt. Letzteres gilt aller­dings noch mehr für die zugrun­de­lie­gende Buch­vor­lage, den gleich­na­migen Roman des Briten Robert Harris. Schon kurz nach dessen Erscheinen 2017 war von deutschen Produk­ti­ons­firmen die Rede, die sich die Verfil­mungs­rechte gesichert hatten. Lange Zeit war offenbar eine Mini-Serie geplant – was man sich ange­sichts des Stoffs auch viel besser vorstellen kann. Dem hätten mehr Ruhe, kleine Abschwei­fungen und Zeit­ko­lorit gutgetan, zugleich hätte dann die Vorlage an einigen Stellen ausge­schmückt und erweitert werden müssen – am Ende entschied man sich für einen einzigen Spielfilm, eine deutsch-britische Co-Produk­tion, bei der Harris als Produzent mit an Bord ist und die sich weit­ge­hend – wenn auch mit einigen markanten Ände­rungen – an der Vorlage orien­tiert.

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Nach der Eröff­nungs­szene springt der Film in den September 1938: Mitten in London werden Split­ter­gräben ausge­hoben, Denkmäler und wertvolle Gebäude mit Sand­sä­cken geschützt – ein Stück Real­ge­schichte, das in Deutsch­land, wo sich auch die Geschichts­schrei­bung meist auf die innen­po­li­ti­schen Entwick­lungen der NS-Diktatur konzen­triert, und viel­leicht noch auf die Vorbe­rei­tung des Welt­kriegs, oft vergessen wird: Die zweite Hälfte der Dreißiger Jahre waren für ganz Europa eine Zeit unun­ter­bro­chenen Schre­ckens und Kriegs­angst, geprägt von fort­wäh­renden Regel­ver­let­zungen der deutschen Außen­po­litik. Dazu kamen die deutsche Aufrüs­tung und die neoko­lo­nialen Abenteuer des faschis­ti­schen Italien, sowie, vor allem anderen, das uner­mess­liche Grauen des Spani­schen Bürger­kriegs.

Kriegs­dro­hung war am poli­ti­schen Horizont ständig präsent, dem Ziel der Frie­dens­er­hal­tung galten die diplo­ma­ti­schen Bemühungen der Demo­kra­tien Frank­reich und Groß­bri­tan­nien. Aber der mora­li­sche wie poli­ti­sche Preis wurde immer höher. Bis heute streiten die Histo­riker über die Bewertung vor allem der damaligen briti­schen Politik, und über die genauen Absichten des briti­schen Premier­mi­nis­ters Neville Cham­ber­lain, der hier von Jeremy Irons glänzend verkör­pert wird. Vielen gilt Cham­ber­lain bis heute als der Inbegriff eines feigen Beschwich­ti­gers, als Narr, besten­falls großer Naiver im Umgang mit den Dikta­toren. Das entspricht der Bewertung auch der Zeit­ge­nossen seit Kriegs­aus­bruch 1939. Zuvor aber wurde seine Außen­po­litik selbst von der Labour-Oppo­si­tion unter­stützt.

Trotzdem ist das Bild Neville Cham­ber­lains im Rückblick milder und vor allem diffe­ren­zierter. Zum einen arbeiten manche Histo­riker heraus, dass der Premier­mi­nister sich über die Person Hitlers und das Wesen des NS-Regimes keinerlei Illu­sionen machte und keines­wegs eine naive Sicht auf die außen­po­li­ti­sche Lage hatte. Seine Appease­ment-Politik wird stärker unter dem Gesichts­punkt des Aufschubs beurteilt. Das Jahr nach München vor dem 1. September 1939 war gekaufte Zeit, die in Groß­bri­tan­nien vor allem zur Vorbe­rei­tung auf den kommenden Krieg genutzt wurde, zugleich verbunden mit der Hoffnung auf eine stetige Verschlech­te­rung der deutschen Wirt­schafts­lage. Die Briten wussten, dass die deutsche Aufrüs­tung vor allem auf Pump finan­ziert war.

Zum Zweiten sei die öffent­liche Meinung und die britische Öffent­lich­keit im September 1938 nicht bereit für einen Weltkrieg gewesen. Es wäre schwer gewesen, so wird argu­men­tiert, in der briti­schen Öffent­lich­keit eine Unter­stüt­zung dagegen zu finden, dass das Deutsche Reich Gebiete annek­tierte, in denen mehr­heit­lich deutschs­täm­mige Menschen lebten. Dazu sollte man wissen, dass die britische Regierung seiner­zeit sogar mit dem Gedanken spielte, den Deutschen einen Teil der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag verlo­renen ehema­ligen Kolonien wieder­zu­geben, gewis­ser­maßen als Ersatz für unan­ge­mes­sene Gebiets­an­s­prüche in Europa.

Schließ­lich stellt sich die Frage nach den real­po­li­ti­schen Alter­na­tiven: Es gab kaum welche. Sterben fürs Suden­ten­land? Also wirklich nicht!
München war, so wird argu­men­tiert, daher keine mora­li­sche Nieder­lage der West­mächte, sondern eine poli­ti­sche Nieder­lage Hitlers. Er wurde mit kühl geplanten diplo­ma­ti­schen Tricks dazu gezwungen, den schon fest einkal­ku­lierten Angriffs­krieg auf die Tsche­cho­slo­wakei zu unter­lassen.

Bei alldem dürfen wir auch an aktuelle Krisen denken.

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Derlei histo­ri­sches Hinter­grund­wissen ist für diesen Film von großem Nutzen, der manches voraus­setzt, auf vieles anspielt, aber nur weniges wirklich erklärt. Statt­dessen wird das histo­ri­sche Material holz­schnitt­artig zuge­spitzt, notge­drungen wahr­schein­lich, aber doch ein bisschen unter­kom­plex ange­sichts der Tatsache, dass viele Personen und Fakten histo­risch sind, und auch fiktive Charak­tere nach histo­ri­schen Vorbil­dern gezeichnet.
Natürlich ist dies kein Doku­men­tar­film, noch nicht einmal ein Dokudrama. Aber jeder Film, der vor einen realen Hinter­grund und in histo­ri­sche Kulissen gesetzt ist, noch dazu, wenn es um derart bedeu­tende und im kollek­tiven Gedächtnis zumindest rudi­mentär präsente Ereig­nisse geht wie das »Münchner Abkommen«, wird sich dem Abgleich mit der Real­ge­schichte stellen müssen.

Es ist die seltene Begabung von Robert Harris, Geschichts­schrei­bung mit Unter­hal­tungs­li­te­ratur zu verbinden – Harris' in schneller Folge erschei­nende Romane (18 Bücher seit 1992) sind exzellent recher­chiert, zu den Fakten treten rein fiktive Charak­tere als Haupt­fi­guren. Dass histo­ri­sche Charak­tere im Zentrum stehen, ist dagegen eher die Ausnahme. Seit jeher sind Harris' Romane sehr filmaffin: Schon sein Erstling Father­land wurde verfilmt, Enigma zum ersten Welterfolg, es folgten Archangel, Der Ghost­writer und Intrige, dazu kommen weitere (noch) nicht reali­sierte Projekte, wie Roman Polanskis Wunsch, »Pompeji« zu verfilmen. Harris' Helden sind klas­si­sche Figuren: Meist Indi­vi­dua­listen, die ihrem Gewissen folgen. Das gilt auch für Hugh Legat und Paul von Hartmann in dieser Geschichte. Von Hartmann sympa­thi­siert mit dem konser­va­tiven Wider­stand gegen den NS-Staat. Die eigent­liche Haupt­figur ist der Brite Legat, aus dessen Perspek­tive fast alles erzählt ist. Seit kurzem arbeitet er im Büro des Premier­mi­nis­ters als einer von dessen Sekre­tären.

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Auf das vor allem unter­halt­same Ausmalen des Histo­ri­schen setzt auch Regisseur Christian Schwochow in seiner Verfil­mung von Robert Harris' Roman »München« über das Münchner Abkommen von 1938. Bereits Harris verstand es, die überaus komplexen und klein­tei­ligen Ereig­nisse rund um das Münchner Abkommen ebenso wie die diplo­ma­ti­schen Über­le­gungen und Alter­na­tiven zu einem dichten Ganzen zu bündeln. Schwochow und sein Dreh­buch­autor David Power, der bisher mit der Serie »The Hollow Crown« bekannt wurde, einer Umsetzung von Shake­speares Königs­dramen ins Seri­en­format, und der hier erstmals ein Spiel­film­dreh­buch schrieb, verknappen Harris' Vorlage noch weiter zu einer Erzählung aus einem Guss, die zuneh­mende Dramatik und Spannung entfaltet. Was durchaus erstaun­lich ist – denn genau­ge­nommen passiert gar nicht so viel, außer dass fort­wäh­rend Männer mit Akten­mappen oder im Jackett versteckten Geheim­do­ku­menten von einem Zimmer ins nächste eilen. Und der Ausgang des Münchner Abkommens ist allgemein bekannt. Ebenso die Tatsache, dass 1938 auf Hitler kein erfolg­rei­ches Attentat verübt wurde.

Die Spannung liegt damit para­do­xer­weise in dem, was nicht geschieht; darin, dass man zum einen verstehen möchte, warum bestimmte, in der Handlung angelegte Dinge nicht passieren, und wie dafür das passiert ist, was in den Geschichts­büchern steht. Im Roman nehmen innere Monologe der beiden Haupt­fi­guren breiten Raum ein und erklären auch vieles. Hier ist dies zum Teil in Dialoge verwan­delt, oft aber auch wegge­lassen, was dem Film manchen Reiz nimmt.

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Zudem leidet schon der Roman darunter, dass die Optionen und Ziele der beiden Haupt­fi­guren nie klar auf dem Tisch liegen: Worum geht es ihnen wirklich? Um ein Attentat auf Hitler? Darum, den unmit­telbar drohenden Krieg zu verhin­dern? Oder eher darum, den Briten ein geheimes Schrift­stück aus Hitlers Planungs­stab – es handelt sich um das Hoßbach-Protokoll – zu über­mit­teln, um dadurch den briti­schen und fran­zö­si­schen Poli­ti­kern die wahre Natur Hitlers vor Augen zu führen? Alle drei Möglich­keiten schließen die jeweils beiden anderen aus.

Die Zuschauer sind dafür mitten­drin in der Münchner Konferenz. Und doch zugleich wie meist auch die Prot­ago­nisten nur Beob­achter der »großen Geschichte«, denn viele bekannte histo­ri­sche Figuren, etwa Mussolini und Daladier, der Reichs­außen­mi­nister von Ribben­trop ebenso wie Göring und Himmler, treten kurz auf, bleiben aber sche­men­haft. Die Ausnahmen sind Cham­ber­lain und Hitler. Letzterer sollte zunächst von Martin Wuttke gespielt werden, der den deutschen Diktator bereits in Quentin Taran­tinos Inglou­rious Basterds verkör­perte. Als Wuttke wieder absprang, übernahm Ulrich Matthes kurz­fristig die Rolle. Das Ergebnis ist ein seltsamer, beinahe bizarrer Auftritt: Weil körper­liche Ähnlich­keit kaum vorhanden ist, dominiert die ohnehin schon schreck­liche – womöglich auch als distan­zie­rende Unter­stüt­zung dienende – Maske in diesem Fall stärker denn je und spitzt die Künst­lich­keit und das Groteske, das schon dem histo­ri­schen Hitler aus heutiger Sicht eigen war, aber auch bereits von manchen Zeit­ge­nossen so wahr­ge­nommen wurde, ins Lächer­liche einer Schieß­bu­den­figur zu. Wo man nicht ohnehin dem Schau­spieler bei der konzen­trierten Arbeit zusieht, fällt es einem schwer, diesen entner­venden »Hitler« ernst­zu­nehmen. Über­zeu­gend ist das nicht.

Angreifbar ist darüber hinaus zumindest ein Aspekt dieser Hitler-Darstel­lung, den Regisseur und Dreh­buch­autor zu verant­worten haben: Einige der wenigen Ände­rungen des Films gegenüber Harris' Roman­vor­lage betreffen nämlich zwei Vier-Augen-Treffen von Hartmanns mit Hitler. »Ich kann Menschen lesen« erklärt der Diktator von Hartmann mehrfach und scheint tatsäch­lich zu spüren, dass er mit seinem poten­ti­ellen Mörder im Raum ist: »Ihre Augen sagen Ja. Aber ihr Inneres sagt Nein.« Und weiter: »Es gibt hier nur Sie und mich. Was denken Sie?« Diese kurzen Dialoge mit Hitler hat der Film hinzu­er­funden. Man möchte schon wissen, warum ausge­rechnet diese Änderung den Machern so sehr am Herzen lag. Hier wird Hitler einmal mehr eine dämo­ni­sche Größe zuge­spro­chen, eine Fähigkeit, durch die Charak­ter­maske hindurch ins Innerste des Menschen zu blicken. Einmal mehr strickt damit ein deutscher Regisseur die Hitler-Mytho­logie weiter, nach der der NS-Führer eine Art »sechsten Sinn« und eine »magische«, die Umgebung lähmende Kraft gehabt habe.
Das deutsche Schicksal muss sich erst erfüllen, wie Harris' Held glaubt (s.o.), und Hitler ist dessen Instru­ment.

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Jeremy Irons gibt seinem Cham­ber­lain viel Würde und Verstand, vom naiven Appeaser bleibt hier nichts übrig. Eher entsteht hier ein neues Bild, das wie im Roman, aber visuell noch viel stärker, auf eine Ehren­ret­tung für den Premier hinaus­läuft: Nach diesem war Cham­ber­lain ein kluger, beschei­dener, sich der Natur seines kriegs­lüs­ternen Gegenü­bers Hitler sehr bewusster Politiker, der seinem Land ein ganzes Jahr Schon­frist heraus­han­delte – Zeit um die Vertei­di­gung der Freiheit vorzu­be­reiten. München war ein letzter Versuch gewesen, den Frieden zu erhalten, und es hatte gezeigt, dass man Hitler nicht trauen konnte.

Die Schlüs­sel­szene dazu ist auch hier das Auftau­chen von Hartmanns: »Adolf Hitler is a monster. A madman«, herrscht er den Premier an.

Der reagiert mit einer Lektion in Real­po­litik:

»I admire your courage, young man, but I have to give you a lesson in political reality: The people of Great Britain will never take out arms over a local border dispute.
For what Hitler may do or will do in the future, we shall have to wait and see. My sole objective here is to advert war in the immediate term, so I can begin to build a lasting peace.«

Es ist verfüh­re­risch, Cham­ber­lain einmal mit ganz anderen Augen zu betrachten. Und doch ist dies schon fast zu viel der Ehre für einen Mann, der ohne Frage eine diffe­ren­zierte Darstel­lung verdient hat, und über den Robert Harris, auf den man auch bei der Betrach­tung dieses Films immer wieder zurück­kommt, bereits 1988 eine BBC-Doku­men­ta­tion drehte (God bless you Mr. Cham­ber­lain).
Womöglich sind bei München – Im Angesicht des Krieges aber die Grenzen solch fikiver, histo­ri­scher Speku­la­tion erreicht.

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Vor dem Hinter­grund aktueller Krisen und der geopo­li­ti­schen Konstel­la­tion unserer Zeit sind die poli­ti­schen Pointen von München aber so faszi­nie­rend wie heraus­for­dernd: Denn auch heute wird das Suchen nach Kompro­missen, das geringste Entge­gen­kommen gegenüber nicht-demo­kra­ti­schen Herr­schern und schon die reine Verhand­lungs­be­reit­schaft von den Schreib­tisch­ge­nerälen der Kommen­tar­spalten gern als »Appease­ment« abgetan, als verach­tens­werte Dekadenz »schwäch­li­cher« Demo­kraten – der Hinweis auf die 30er Jahre und vermeint­liche »Lehren« der Geschichte fehlt hier selten.
 München – Im Angesicht des Krieges zeigt schlüssig, dass die Dinge kompli­zierter liegen. Der Film dreht das Argument des »Realismus« um. Dieser liege gerade im Heraus­schlagen von Zeit und der Arbeit am diplo­ma­ti­schen Kompro­miss. Einen Weltkrieg sei ein »lokaler Grenz­kon­flikt« nicht wert.

Aktuelle Schlüsse lassen sich hier nicht vermeiden, auch wenn der Roman vor fünf Jahren geschrieben und der Film vor zwei Jahren konzi­piert wurde:
Bis heute werden »München« und »Appease­ment« immer wieder als Schimpf­wort benutzt, wenn Kritiker meinen, dass Politiker zu gutgläubig oder zu nach­giebig sind. Und in deutschen Zeitungen findet man gerade derzeit wieder hyste­ri­sche und gele­gent­lich hetze­ri­sche Kommen­tare, in denen das »Appease­ment«-Wort nie fehlen darf. Deutsch­land sei »das troja­ni­sche Pferd Putins«, heißt es. Und Schlim­meres. Oder man vergleicht die jetzigen ameri­ka­nisch-russi­schen Gespräche mit der Münchner Konferenz. Es ist psycho­lo­gisch durch­schaubar, dass hier deutsche Kommen­ta­toren über 80 Jahre nach »München« immer noch nach­ho­lenden Wider­stand gegen Hitler leisten. Aber es entschul­digt nicht die Dummheit der entspre­chenden Vergleiche.

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Alles Übrige ist ein konven­tio­neller Histo­ri­en­film, schlicht gestrickte Kolpor­tage und ein paar Schmon­zetten am Rand: Zwei, drei Gastro­no­mie­be­suche in Berlin und München sind recht mondän geraten – irgendwie war’s wohl doch auch schön im Dritten Reich. Und die Wider­ständler tragen alle runde Brillen und gucken hinter ihnen derart konspi­rativ in die Gegend, dass sie noch der dümmste GESTAPO-Lehrling zum Verhör einbe­stellt hätte.

Insgesamt verschenkt dieser Film mehr, als er erreicht: In Harris' Roman finden sich großar­tige, gut recher­chierte Details: Er beschreibt die unge­wöhn­liche Hitze dieser Spät-Septem­ber­tage. Das »Kolossale« des Münchner Königs­platzes, den die Nazis in »König­li­cher Platz« umgetauft hatten, und der statt von Rasen von zehn­tau­senden Granit­platten bedeckt wurde (die man erst Ende der 1980er Jahre wieder entfernte), dass es dort statt Bäumen eiserne Fahnen­masten mit Haken­kreuz­flaggen gab und von SS-Männern bewachte Ehren­tempel mit ewigen Flammen.
Er erzählt, dass es in der »Haupt­stadt der Bewegung« wegen des Okto­ber­festes kaum genügend Zimmer für die auslän­di­schen Dele­ga­tionen gab. Dafür gab es viele Blas­ka­pelle. Eine von ihnen spielte zur Begrüßung der briti­schen Dele­ga­tion den damals euro­pa­weit populären Schlager »The Lambeth Walk›. Er erzählt vom starken Körper­ge­ruch Hitlers und den mit kleinen Haken­kreuzen verse­henen Wasser­hähnen im Führerzug.‹«

Nichts von solch spre­chenden Details in Schwo­chows Film. Eben­so­wenig von anderen Aspekten der Story: Die gemein­same Freundin Leny, in deren Rolle Liv Lisa Fries gnadenlos unter­be­setzt ist, ist bei Schwochow nur Erin­ne­rung und dann apathi­sches Opfer. Im Buch ist sie Kommu­nistin und Wider­stands­kämp­ferin. Ihr Jüdisch­sein ist neben­säch­lich.

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Ein richtig guter Film ist München – Im Angesicht des Krieges daher nicht, konnte er viel­leicht auch nicht werden. Eher handelt es sich um guten Durch­schnitt, der auf dem kleineren Heim-Bild­schirm besser aufge­hoben ist als im Kino. Ein inter­es­santer Film ist er aber sehr wohl: In seiner Form, das Publikum zum Augen­zeugen eines welt­ge­schicht­li­chen Augen­blicks zu machen, in dem verschie­dene histo­ri­sche Entwick­lungen und bis heute bekannte Figuren in Raum und Zeit verdichtet und durch eine drama­ti­sche »Countdown«-Situation zusam­men­ge­knüpft werden, erinnert er am ehesten an Roger Donald­sons Thirteen Days über die Kuba-Krise 1962 oder auch an Valkyrie von Bryan Singer über den 20. Juli 1944. Der Ausgang ist jeweils bekannt, der Span­nungs­funke des Moments springt aber auf die Leinwand oder den Bild­schirm über.

Buch­vor­lage:
Robert Harris: München. Roman. Aus dem Engli­schen von Wolfgang Müller. Heyne, München 2017, 22 Euro

Auf Netflix und in ausge­wählten Kinos.