Mignonnes

Frankreich 2020 · 95 min.
Regie: Maïmouna Doucouré
Drehbuch:
Kamera: Yann Maritaud
Darsteller: Fathia Youssouf, Médina El Aidi-Azouni, Esther Gohourou, Ilanah Cami-Goursolas, Myriam Hamma u.a.
Engagierter Film, ungeschönte Blicke
(Foto: Netflix)

Die Qual der Wahl: Sexistisch? Parodistisch? Oder gar ironisch?

Maïmouna Doucourés dynamisch inszenierter Film über die verzweifelte und konsequente Suche einer Heranwachsenden nach der eigenen Haltung in dieser Welt, wird inzwischen in den USA heftig angefeindet

Mignonnes (»Die Süßen«), ein span­nungs­ge­la­dener, kontro­vers disku­tierter Coming of Age-Film, ist aktuell auf Netflix zu sehen. Nach der Urauf­füh­rung auf dem Sundance-Festival 2020, wo Maïmouna Doucouré den Preis für die beste Regie eines inter­na­tio­nalen Dramas erhielt, war Mignonnes für die Berlinale 2020 / Sektion Genera­tion Kplus ausge­wählt worden. Und allein schon die diversen Alters­emp­feh­lungen machen die unter­schied­liche Rezeption dieses Films deutlich: Während im Genera­tion Kplus-Programm der Film ab 12 Jahren empfohlen wurde, gibt Netflix als Alters­frei­gabe 16 Jahre an, und Film­kri­tiker Rochus Wolff empfiehlt ihn in seinem Kinder­fil­mBlog ab 14.

Doch zunächst zur Geschichte, die mit einem eindrück­li­chen Bild beginnt: Das geschminkte Gesicht eines weinenden Mädchens, das sich als die elfjäh­rige Amy (Fathia Youssouf) entpuppt, um die es in diesem Film geht, und schon – was man dann fest­stellt – auf das Ende verweist, wo das gleiche Bild erscheint, aber mit einer ganz anderen Deutung. Amy ist mit ihrer polygamen Groß­fa­milie aus dem Senegal nach Paris gezogen, erfährt einer­seits die einengende Tradition in ihrer konser­va­tiven Familie, will aber in der neuen Umgebung dazu­gehören. Zum Konflikt mit ihrer Mutter und vor allem mit der streng­gläu­bigen Tante kommt es, als Amy erfährt, dass der Mann ihrer Mutter, Amys Vater, eine zweite Frau aus dem Senegal nach Paris in ihre neue Wohnung bringen und heiraten wird. Die frag­wür­dige Tradition empfindet sie höchst ungerecht. Sie ist empört und rebel­liert auf ihre Art, indem sie sich drei Mitschü­le­rinnen anschließt, die so ganz anders sind, in ihrer knappen Kleidung und in ihren Gesprächen über Sex, ohne darüber noch zu wissen. Die Elfjäh­rigen trai­nieren täglich für einen Tanz­wett­be­werb, um die sieges­si­cheren älteren Mädchen auszu­ste­chen. Amy freundet sich mit der lebhaften Angelica (Médina El Aidi-Azouni) an, die über ihr wohnt und Teil dieser Clique ist, und erkämpft sich auch die Gunst der anderen Tänze­rinnen. Tatsäch­lich gelingt es ihr sogar, selbst in die Gruppe aufge­nommen zu werden und mit ihnen für den Wett­be­werb zu trai­nieren. Nun imitiert sie ebenfalls die Bewe­gungen aus den Musik­vi­deos, trainiert hart und gefällt sich wie die anderen in stereo­typen Posen. Amy verändert ihr Aussehen immer mehr, wird selbst­be­wusst, gibt Kontra – in der Schule und zu Hause. Sie macht auch grenz­wer­tige Erfah­rungen und es ist oft ein verzwei­felter Kampf um Aner­ken­nung auf beiden Seiten.

Die lasziven Tanz­szenen, deren Wirkung »den Süßen« noch kaum bewusst ist, waren aller­dings auch Stoff zur Diskus­sion – nicht nur während der Berlinale, als wir uns fragten: Sind die Posen »sexis­tisch«? Oder sind sie »parodis­tisch« oder »ironisch« gemeint? Darüber disku­tierten wir heftig im kleinen Kolle­gen­kreis nach der Pres­se­vor­füh­rung. Danach inter­es­sierte mich umso mehr, was die jungen Zuschauer*innen zu sagen haben, und sah Mignonnes noch einmal während der Berlinale – die Reak­tionen auf diese Szenen im ausver­kauften großen Saal der Urania machten deutlich, dass sie mehr belustigt haben als peinlich empfunden wurden.

Der dynamisch insze­nierte Film stellt die beiden gegen­sätz­li­chen Welten nicht stereotyp gegenüber, sondern überzeugt durch die – auch verzwei­felte, aber konse­quente – Suche einer Heran­wach­senden nach der eigenen Haltung in dieser Welt.

Rochus Wolff (u.a. Autor des Buchs „33 beste Kinder­filme“), sieht es ähnlich und schrieb in seinem Kinder­fil­mBlog zur Berlinale 2020: »Doucouré verstärkt die Gegen­sätze, indem sie Amy zugleich abtauchen lässt in die Bilder­welten von Social Media, in sexua­li­sierte (Selbst-)Darstel­lungen, deren Faszi­na­tion sie sieht, deren Bedeutung und Folgen sie aber ganz und gar nicht einordnen kann – nicht zuletzt, weil sie in ihrer Familie keinerlei Einord­nung und Hilfe dazu findet. Dass der Film ob dieser doch etwas krassen Gegenü­ber­stel­lung nicht in Plati­tüden verflacht, verdankt er seiner Dynamik, seinen Figuren – vor allem Fathia Youssouf ist eine Freude, wie sie ihre Amy mit trotziger Selbst­ver­ständ­lich­keit gegen Konven­tionen aufbe­gehren lässt, wie sie Unsi­cher­heit und Faszi­na­tion zusam­men­bringt. Doucouré sucht mit diesem Film – viel­leicht von den letzten Sekunden abgesehen – nicht danach, die Gegen­sätze versöhnen zu können, sie sucht nicht einmal nach einem Kompro­miss oder einer Verbin­dung. Als Zuschauer*in ist es schwer auszu­halten, wie unmöglich, wie von Außen fest­ge­legt beide Welten sind: Die Erge­ben­heit in der tradi­tio­nellen Ehe, die Sexua­li­sie­rung schon junger Frauen- und Mädchen­körper im modernen Medi­en­ka­pi­ta­lismus.«

Maïmouna Doucouré, die 1985 in Paris geborene Regis­seurin, deren Eltern aus dem Senegal stammen, studierte zunächst Biologie und wandte sich dann der Film­pro­duk­tion zu. Einem ersten Kurzfilm (Cache-cache, 2013) folgte zwei Jahre später ein zweiter mit dem Titel Maman(s) über ein acht­jäh­riges Mädchen, das mit der Mutter in einem Vorort von Paris wohnt. Beide erwarten sehn­süchtig die Rückkehr des Vaters aus dem Senegal, als dieser über­ra­schend mit einer zweiten Ehefrau ankommt. Der Film beruht auf Kind­heits­er­in­ne­rungen der Regis­seurin, die mit fami­liärer Polygamie verbunden waren. Ihren Vater lernte sie – wie im Kurzfilm – erst einige Jahre nach ihrer Geburt kennen, nachdem er seiner Familie nach Frank­reich folgte. Für diesen Kurzfilm erhielt sie mehrere nationale und inter­na­tio­nale Auszeich­nungen. Und 2017 bekam Doucouré auf dem Sundance Film Festival den »Global Filmma­king Award« bereits für das Drehbuch ihres Spielfilm-Debüts Mignonnes.

Nun ist der Film auf Netflix zu sehen und auch gleich in den USA durch die konser­va­tive Kommen­ta­torin Tammy Bruce auf Fox News in die Kritik geraten, wobei die Werbung von Netflix selbst dazu beigetragen hat: Ein Bild vom Auftritt der vier Mädchen beim Tanz­wett­be­werb auf der Bühne, in extrem knappen Outfits und aufrei­zenden Posen, die sie wochen­lang trainiert hatten. Das hat ihnen jedoch keine Aner­ken­nung gebracht, weder bei der irri­tierten Jury noch bei den besorgten Müttern im Publikum, die ihren Kindern die Augen zuhalten. Wie Kathleen Hilde­brand in der »Süddeut­schen Zeitung« vom 15.09.20 schreibt, erwies sich »die Werbung mit diesem Bild als falsch, weil so die Werbung für den Film damit das tat, was der Film kriti­siert. Netflix hat sich entschul­digt, aber da waren die Rechts­kon­ser­va­tiven längst auf Kreuzzug – ohne den Film gesehen zu haben.«

Inzwi­schen sind im großen Stil Peti­tionen im Umlauf. Das ist zwar nicht neu, befeuert aber die Diskus­sion über einen enga­gierten Film, der einen unge­schönten Blick wirft auf das Leben von Migranten aus einer streng tradi­tio­nellen Kultur, die sich in einer rasant verän­derten kapi­ta­lis­ti­schen west­li­chen Gesell­schaft zurecht­finden müssen.