Mein Leben – Ein Tanz

La Chana

Spanien 2016 · 86 min. · FSK: ab 0
Regie: Lucija Stojevic
Musik: Ernesto Briceño
Kamera: Samuel Navarrete
Schnitt: Domi Parra
Den Tanz, die Musik, La Chanas Passion fühlbar machen...

The Beat is On

Die Hände mit den langen Fingernä­geln rattern über die Tisch­platte, eigent­lich ein bisschen zu schnell für eine mensch­liche Bewegung. Für Lionel Messie und La Chana gelte die normale Geschwin­dig­keit nicht, postu­liert einmal deren Ehemann. Die junge kroa­ti­sche, in Barcelona lebende Regis­seurin Lucija Stojevic versucht in ihrem doku­men­ta­ri­schen Lang­film­debüt La Chana eine Annähe­rung an diese „Natur­ge­walt“.

Als solche beschreibt einmal die Tochter den Eindruck von ihrer Mutter auf der Bühne. „Von außen“, so die Tochter, habe La Chana viel­leicht wie ihre Mutter ausge­sehen, aber da war dieses Ding, dieses Phänomen, das aus ihr heraus kam – »viel­leicht würde sie es töten?« Sieht man La Chana alias Antonia Santiago Amador tanzen, dann findet man diese Beschrei­bung zutref­fend – genau so, wie sich Antonia selbst in ihr wieder­findet.

Leiden­schaft, Tanz, Musik – das ist Flamenco. Der unver­wech­sel­bare Beat, die rasenden Füße, Ekstase: La Chana alias Antonia Santiago Amador inkor­po­riert all das, sie ist Flamenco. In den 1960er und 1970er Jahren war La Chana der Star des Flamenco, Peter Sellers wurde auf die aufmerksam, in Robert Parrishs The Bobo hatte sie einen Auftritt. Doch dann, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, Hollywood war tatsäch­lich in greif­barer Nähe, verschwand sie auf einmal von der Bühne. Über Archiv­ma­te­rial und die mitreißenden Erzäh­lungen der Tänzerin, die zum Dreh­zeit­punkt Ende 60 war, rekon­stru­iert La Chana ein Leben mit Höhen und Tiefen – und gibt, zual­ler­erst, einer unglaub­lich charis­ma­ti­schen Frau die Bühne, die sie verdient.

Grund­sätz­lich würde es bei einer Prot­ago­nistin wie Antonia genügen, sie einfach erzählen zu lassen. Ungeheuer tempe­ra­ment­voll und sichtlich emotional bewegt blickt sie zurück – und, für das beein­dru­ckende Comeback, das Finale des Films, auch nach vorne. Sie spricht viel und schnell – ihr Mann, ein intro­ver­tierter, liebe­voller Charakter mit trockenem Humor sagt einmal, wenn sie fertig sei mit sprechen, dann würde er sich alles aufschreiben: »Merken kann ich mir das sowieso nicht«. Stojevic aber begnügt sich nicht mit der Präsenz ihrer Prot­ago­nistin. Sie will den Tanz, die Musik, La Chanas Passion fühlbar machen. Das gelingt ihr mittels einer musi­ka­li­schen Struktur, insbe­son­dere in den Archiv-Sequenzen, die visuell spie­le­risch und sehr rhyth­misch geschnitten sind. Immer wieder ist auch Zeit für Flamenco, für die Gitar­ren­kas­kaden, das rhyth­mi­sie­rende Klatschen. Gestern wie Heute. Obwohl La Chana inzwi­schen gesund­heit­liche Probleme hat, tanzt sie: Mit Händen, Armen und Füßen, im Sitzen – so dass jungen Tänze­rinnen vor Ehrfurcht der Mund offen stehen­bleibt.

Den Namen La Chana hat Antonia von ihrem Onkel geerbt, auch ein Star des Flamenco, ein Gitarrist. Er hat die Tänzerin früh gefördert, in anderen Diszi­plinen hätte man Antonia Santiago Amador ein Wunder­kind genannt. Aber die Gypsy-Community, in der sie aufwuchs und berühmt wurde, ist eine besonders patri­ar­chale Gesell­schaft. Das bekam Antonia zu Spüren: »Den Neid, die Wut. Eine Frau hatte den Mund zu halten und zu gehorchen.«

Die Gewalt zu Hause, sie sickert ganz langsam in den Film, in Hinweisen, Andeu­tungen. Die Gruppe Freun­dinnen von früher ist sich einig, dass nach einem fröh­li­chen gemein­samen Ausge­ha­bend Prügel daheim an der Tages­ord­nung waren – das wird nebenbei wegge­lacht. Aber nach etwa einer halben Stunde Laufzeit benennt Antonia ganz deutlich, was sie durch­litten hat. Plötzlich sieht man auf den alten Fotos den eisernen Griff ihres damaligen Mannes um ihr Hand­ge­lenk und man liest auch ihren Tanz neu: Plötzlich ist der Schmerz zu sehen im Pathos, in der Leiden­schaft.