Man on Wire – Der Drahtseilakt

Man on Wire

Großbritannien/USA 2008 · 97 min. · FSK: ab 6
Regie: James Marsh
Kamera: Igor Martinovic
Schnitt: Jinx Godfrey
Darsteller: Philippe Petit, Jean-Louis Blondeau, Annie Allix, Jim Moore, Mark Lewis u.a.
Traumtänzer Philippe Petit

Liebesakt mit dem Hochseil

Im August 1974 nahm der damals jungen­hafte Franzose Philippe Petit seinen irrwit­zigen Traumtanz in Angriff, zwischen den über 400 Meter hohen Brüs­tungen der beiden Türme des World Trade Center in New York zu wandeln. Natürlich war dies schon zu damaliger Zeit – das WTC war zudem noch nicht eröffnet – ein verbo­tenes Spiel. Aber es sollte kein heim­li­ches bleiben, hätte auch ein Kitzel bleiben können, der noch nicht einmal zur Voll­en­dung gelangen musste: allein der Versuch war ein langes aufre­gendes Vorspiel. Schon als Petit zum ersten Mal 1968 in Paris von den Plänen zum Bau der riesigen Türme erfuhr, war ihm das Bild vor Augen und seine Bestim­mung klar geworden. Diese Vorbe­rei­tungen und den finalen waghal­sigen Akt zeigt nun der Doku­men­tar­film Man on Wire, der jetzt eine Oscar-Nomi­nie­rung erhalten hat.

Petit ist kein profes­sio­neller Artist im Stile der Familie Treiber, die aus Tradition für das Spektakel unter dem Aspekt »mehr geht nicht« immer neue Sensa­tionen auf Jahr­märkten schafft. Er ist vielmehr ein Gaukler, der schon früh mit dem Einrad und dabei jonglie­rend, auf die Gesichter der Menschen in den Fußgän­ger­zonen den Hauch von Beglü­ckung zaubern wollte. Er ist der sympa­thi­sche Freak, der einem auch unver­hofft in der U-Bahn begegnen könnte.
Weniger also der Seiltanz, sondern die Erfüllung eines Lebens­traumes bewegten Petit in seinem Unter­nehmen, den Abgrund des WTC zu über­schreiten, und die Schaffung eines Kunst­werkes, bei dessen Auffüh­rung die Menschen von einer Welle der Schönheit betört werden sollten. Eine Verfüh­rung der Massen, wenn nicht ein gar ein sinn­li­cher Liebesakt mit den Voyeuren, ohne die es eben nur ein einsamer Jungen­streich wäre .

Regisseur James Marsh gelingt es auf perfekte Weise, diese Spannung in Momenten ahnen und fühlbar werden zu lassen. Zeitweise wähnt man sich in seinem Film wie in einer Doku­men­ta­tion über einen Jahr­hun­der­traub, wie in einem Spiel mit dem Coup. Mit wenig Origi­nal­fo­to­ma­te­rial, dazu Spiel­szenen und Erläu­te­rungen durch den immer noch leiden­schaft­lich wirkenden Philippe Petit und seiner Mitstreiter, erzählt der Film 94 Minuten lang das Unge­heu­er­liche der Eroberung und die schein­bare Unmög­lich­keit ihrer Durch­füh­rung. Auch wenn Man on Wire dabei die Schranken des Doku­men­tar­films über­schreitet und zuletzt im Genre verpönte Elemente wie insze­nierte Szenen und drama­tur­gi­sche Musik (von Michael Nyman und Satie) einsetzt, sie sind in diesem Fall schlüssig. Außerdem bringen sie Humor und Leich­tig­keit mit, manchmal auch die Spannung eines Krimi­nal­falls. Der Film wird dadurch zwar auch TV-geeignet, aber die Dramatik, das Himmel­schwe­bende kommen nur auf einer Leinwand richtig zur Geltung.
So passiert es, dass man im dunklen Kinosaal plötzlich das Verlangen spürt, nun selber mit dem Fuß vorsichtig den ersten Schritt zu tasten, sich dabei etwas vorzu­beugen und einen Blick in den hölli­schen Abgrund wagen – oder in den Himmel zu heben.

Natürlich brauchte Petit »Komplizen« die er mit dem Fieber der Waghal­sig­keit ansteckte und die ebenso einigen Mut zusammen nahmen, um ihm bei seinem WTC-Abenteuer zu helfen, bei den langen Vorbe­rei­tungen und bis zur geheimen Instal­la­tion des 60m langen Stahl­seils in fast 400 Meter Höhe, und dies mitten in der Nacht. Immer wieder mussten sie sich unter falschen Namen als Bautrupp einschlei­chen, sich unzählige Stunden unter Planen verste­cken. Nicht Alle haben diese Spannung und Verant­wor­tung ausge­halten. Doch die Abbrüche waren für ihn nur weitere Schritte zu seinem Lebens­traum: »O.K., it’s impos­sible, that’s sure. So let’s start working.«

Von den frühen hippiesk verspielten Anfängen, aufge­nommen auf Super-8, über die ersten faszi­nie­renden Versuche wie der Gang über die Türme von Notre Dame in Paris, zeigen die Bilder den langen Weg zum Draht­seilakt, dabei wird die Körper­lich­keit der Prozedur spürbar und die Entspan­nung Petits, wenn ihm sein Vorhaben gelang. Die Bilder doku­men­tieren auch, wie Petit nach seinen Aktionen verhaftet wird, dabei aber immer noch glücklich erscheint. Als der Hoch­seil­ar­tist einmal nach der Festnahme und der üblichen poli­zei­li­chen Aufnahme seiner Perso­na­lien von einer Zuschauerin mit Blumen empfangen wird, landen die beiden im Hotelbett. Ein Mann des freien Lebens eben, das der Film ebenso frei darstellt.

Hätte Petit damals markt­stra­te­gi­scher gedacht, wären sicher auch mehr Bilder von dem Ereignis selbst entstanden. Einge­brannt bleiben sie dennoch, und es wird in den histo­ri­schen Aufnahmen in Momenten ersicht­lich, wie Petit in der damaligen Société de spectacle als Akteur selbst Teil dieser war: Wenn er sich auf das Seil legt und scheinbar schwebend den Himmel betrachtet, genießt er ganz und gar die Situation, die er in diesem intimen Moment allein für sich erschaffen zu haben scheint.

Nach dem Film drängt sich natürlich die Repor­ter­frage auf, die Petit zigfach gestellt wurde und die er selbst nur lapidar beant­wortet hat: »Why ? There is no WHY!«