Der Mann ohne Vergangenheit

Mies vailla menneisyyttä

Finnland/D/F 2002 · 97 min. · FSK: ab 12
Regie: Aki Kaurismäki
Drehbuch:
Kamera: Timo Salminen
Darsteller: Markku Peltola, Kati Outinen, Annikki Tähti, Juhani Niemelä u.a.
Marku Peltola

Drei Männer hocken in einem schäbigen Container, löffeln stumm ihre dünne Suppe, und aus der eben vom Sperrmüll geret­teten Jukebox singt Blind Lemon Jefferson den Blues.
Sowas sollte nach allen Natur­ge­setzen eigent­lich ein Nichts an Szene sein, noch dazu, wenn man es filmt in einer einzigen Totalen, ohne Netz, ohne Tricks, ohne doppelter Boden. Und doch sind allein diese Sekunden aus Der Mann ohne Vergan­gen­heit so gut, wahr und schön – und obendrein so gemein­ge­fähr­lich, gott­ver­dammt, authen­tisch cool – dass man dagegen das Gesamt­werk etlicher anderer Regis­seure getrost in die Tonne kloppen kann.

Es müssen irgend­wann die Götter des Kinos einen betrübten Blick auf dieses Kinojahr geworfen haben, müssen allübe­rall abge­schmacktes Studio­buch­halter-Kommerz­kalkül und hirn­ver­wichsten Bildungs­bürger-Quas gesehen und gewusst haben, es ist an der Zeit, IHN wieder zur Pflicht zu rufen: Aki Kauris­mäki, der eigent­lich dem Filme­ma­chen abge­schworen hatte und nur noch saufen wollte. Und Kauris­mäki, der im Stande ist und auch zu Göttern sagt, wo sie ihn lecken können, muss einen guten Tag und ein Einsehen gehabt haben, dass die Welt ihn braucht. Und er stieg herab von seinem Berg aus Wodka­fla­schen und schenkte uns diesen Film. (Und gleich dazu sein nicht minder gött­li­ches Segment aus dem Kompi­la­ti­ons­film Ten Minutes Older – The Trumpet.)

Diese Geschichte vom Mann, der nach einem Überfall in Helsinki sein Gedächtnis verliert und mit Hilfe einer Kolonie von Außen­sei­tern sich eine neue Existenz aufbaut und in einer Heils­armee-Soldatin Irma (stets vereh­rens­wert: Kati Outinen) die große Liebe findet – sie ist eine Art Summa der bishe­rigen Kauris­mäki-Werke: Es finden sich die film noir-Anklänge aus I hired a Contract Killer, der Opti­mismus, die Buntheit aus Wolken ziehen vorüber, die Rock'n'Roll-Lehr­stunden aus Leningrad Cowboys Go America, das mißglückte Klein­ver­bre­chertum aus Ariel, die Sozi­al­kritik des Mädchens aus der Streich­holz­fa­brik.
Aber was heißt bei Kauris­mäki schon »Sozi­al­kritik«?
Gewiss, es ist ein Film über Leute, die nicht mitkommen mit einer Welt, in der die Kräfte eines hungrigen Markts immer mehr und mehr Wachstum, Effizienz diktieren. Ein Film über eine Welt, in der es nicht viel braucht, damit aus einem kleinen Strau­cheln der komplette Absturz wird. In der die wirk­li­chen Gewinner des Systems schon längst unsichtbar geworden sind: Selbst Bank­fi­lialen sind hier triste Orte des Versagens, und der martia­lisch auftre­tende, am Elend verdie­nende Chef der Contai­ner­sied­lung Anttila ist letztlich auch ein ziemlich kleiner Fisch, ein halbarmes Würstchen.
Auch ist es ein Film über die Soli­da­rität der Ausge­grenzten und darüber, wie sie es schaffen, sich ihre Würde zu bewahren. Man duscht sich und zieht den guten Anzug an, wenn man Freitags zum Essen geht – auch wenn es nur die Suppen­aus­gabe der Heils­armee ist.
Das alles aber hat überhaupt nichts von der klas­sen­kämp­fe­ri­schen Verbis­sen­heit und Verbit­te­rung beispiels­weise eines Ken Loach. Ist nie Lehrhaft oder Besser­wis­se­risch, und vor allem gibt das nie auch nur ansatz­weise das Gefühl, dass sich hier jemand »einsetzte« für irgend­eine »Rand­gruppe«, sich zum Sprach­rohr machte für irgend­eine »wichtige Sache«. Es fehlen all jene Zeichen, mit denen für gewöhn­lich »Relevanz« gehubert wird, »Kritik« und was der Studi­enrat sonst so braucht, damit er’s für »wert­volles« Kino hält.
Die Licht­spiel­bühne ist keine mora­li­sche Besse­rungs­an­stalt bei Kauris­mäki, der sowieso viel zu rotzig wäre um Filme zu machen, von denen er glaubt, andere würden ihrer bedürfen, anstatt welcher, die ihm selbst Freude bereiten. Sein schärfstes Argument gegen die turbo­glo­ba­li­sierte consumer culture ist, dass er es in seiner frechen, meis­ter­haften Schlicht­heit, seinem stoischen Glauben an die Würde schafft, so viel anrüh­render, unter­halt­samer, über­zeu­gender zu sein als all deren durch­de­signter Kram.

Genau­so­wenig wie Kauris­mäki mehr als die film­sprach­li­chen Grund­mittel in sparsamer Dosierung für nötig hält, glaubt er ande­rer­seits an ein Kino, das unmit­telbar »Realität« abbilden könnte. Das Wahr­haf­tige findet er in völliger Künst­lich­keit: Seine Schau­spieler läßt er sich kaum bewegen, läßt sie ihre Sätze weniger spielen denn aufsagen – ein sehr thea­ter­hafter Stil, der aber wie alles bei Kauris­mäki die emotio­nale Wirkung genau durch das Ungesagte, an der Ober­fläche nicht Sicht- und Hörbare erreicht. Die Farben in Der Mann ohne Vergan­gen­heit sind kräftig, wenig natu­ra­lis­tisch; die Bild­kom­po­si­tionen genau gestellt; Autos fahren merklich durch eine Studio-Nacht und der Film ist reich an nicht nur melo­dra­ma­ti­schen sondern geradezu surrealen Momenten. Da gibt es eine Aufer­ste­hung von den Toten; den »Kampfhund« Hannibal (Tähti, jüngster Sproß einer Kauris­mäki schon lange verbun­denen kaninen »Schau­spiel­erfa­milie«), der sich als äußerst handzahm erweist; den aller­schönsten gestoh­lenen Kuss der Film­ge­schichte; und eine Tango-singende Heils­armee-Chefin (die finnische Schlager-Legende Annikki Tähti). (Der Mann ohne Vergan­gen­heit ist einer dieser Filme, bei dem man sich verdammt einbremsen muss beim drüber Schreiben, um nicht einfach nur eine Lieb­lings­szene nach der anderen nach­zu­er­zählen...)

In vielem ist Kauris­mäki damit heimlich einer der letzten, die noch das wirklich klas­si­sche Holly­wood­kino fort­schreiben. Es ist kein Zufall, dass es in Der Mann ohne Vergan­gen­heit so viele Anklänge gibt an film noir, Melo und Musical – und die gewohnte Ironie, mit der Kauris­mäki diese serviert, ist wie immer eine komplexe: Kauris­mäki weiß, dass man gewisse Dinge nicht mehr eins-zu-eins bringen kann, ohne als naiv zu gelten, und er weiß auch, wo unsere Kultur große, wahre Dinge zum bloßen Mecha­nismus hat verkommen lassen. Aber er glaubt wohl genauso daran, dass sich auch im Klischee ein Kern der Wahrheit, der echten Sehn­süchte erhalten hat. Deswegen laufen in seinen Filmen so oft wehmütige Schlager im Radio: Er bewahrt eine Ebene der Distanz, läpnicht vergessen, dass das alles technisch vermit­telt, beliebig repro­du­zierbar, an die Massen verkauft ist – aber er spricht ihm nicht die Fähigkeit ab, trotz allem zu berühren, wesent­lich.

Die Musik spielt überhaupt wieder eine der Haupt­rollen in Der Mann ohne Vergan­gen­heit, der schon fast ein heim­li­ches Musical ist. Der Blues aus der Jukebox, die drama­ti­sche Sinfonik Leevi Madetojas aus dem Koffer­radio, zu der der namenlose Prot­ago­nist anfangs halb tot geprügelt wird, die christ­li­chen Kampf­lieder der Heils­armee, der Rock'n'Roll, von dem sich Irma träumend in den Schlaf singen läßt und den der Gedächt­nis­lose auch der Heils­armee-Kapelle beibringt, die finni­schen Schlager und Tangos, die in den Kneipen aus den Laut­spre­chern säuseln: All das, was die Menschen nicht ausspre­chen können oder wollen in diesem Film, all das, wovon sie träumen, was sie hoffen oder auch fürchten, das findet sich in diesen Stücken.
Musi­ka­lisch aber ist Kauris­mäki noch in ganz anderer Hinsicht: Was eine Szene wie das anfangs geschil­derte Suppen­löf­feln bei ihm so großartig macht, das ist zum einen das genau ausba­lan­ciertes Maß an Distanz, die das Gezeigte leicht ironi­siert, ohne es zu denun­zieren; zum anderen – und damit stets verwoben – jedoch Kauris­mäkis traum­wand­le­ri­sches Gespür für Rhythmus in jeder Form. Ob Bewe­gungen, Dialoge, Schnitte, Szenen­längen: Die Lakonik, die Melan­cholie, die würde­volle Stoik kommt zum Gutteil praktisch immer von Kauris­mäkis bril­lanter Art, Beats zu setzen, mit seiner wursch­tigen, beiläu­figen Punkt­ge­nau­ig­keit. Da steckt viel mehr Handwerk (oder zumindest meis­ter­li­ches Können) dahinter, als die trüge­risch schlichte Ober­fläche und Kauris­mäkis betont rotzigen öffent­li­chen Auftritte verraten wollen.
(Und weil Kauris­mäki so ein genialer Rhyth­miker ist, es so sehr auf jeden einzelnen Ton ankommt, kann das Ganze nie und nimmer in einer Synchron­fas­sung auch nur annähernd funk­tio­nieren. Man muss, auch wenn dies zum Unter­ti­tel­lesen verdammt, das unbedingt auf Finnisch sehen und hören – mit seinen guttural rollenden, nicht enden wollenden Rs, seinem dunklen Klang, seiner behäbigen, lang­ge­zo­genen Melodie und den kurzen Beats am Satzende ist dies die einzig stimmig denkbare Sprache für diesen Film.)

In all dem ist Der Mann ohne Vergan­gen­heit milder, zärt­li­cher geworden als seine Vorgänger. Kauris­mäki treibt die Stili­sie­rung nicht auf die Spitze, traut sich etwas mehr Nähe zu, gibt sich nicht ganz so extrem lakonisch und wortkarg wie in manch früherem Film. Man hat fast das Gefühl, Kauris­mäki bringe es weniger denn je über’s Herz, seinen Figuren das Glück, dass ihnen die Welt zu versagen sucht, nicht wenigs­tens im Film zu geben.
Mit Markku Peltola hat er dazu einen Haupt­dar­steller gefunden, den er in einer Szene guten Gewissens an eine Bar unter ein Bild des großen Matti Pellonpää selig setzen kann. Peltola ist ein perfekter Kauris­mäki-Prot­ago­nist. Er hat ein Gesicht, dem man die Spuren des Lebens ansieht, das aber, wie das Gesicht eines richtigen film noir-Helden im Hollywood der ‘40er, verspricht, dass da einer bereit ist, noch viel einzu­ste­cken und auszu­teilen, bevor er sich geschlagen gibt. Und vor allem kann er die zwei Dinge über­zeu­gend, die ein Mann in einem Kauris­mäki-Film unbedingt lein­wand­fül­lend beherr­schen muss: Schweigen. Und Rauchen.
Nachdem Peltola und sein Gegenüber diese Szene an der Bar verlassen haben, verharrt die Kamera noch ein paar kurze Sekunden auf dem Raum, der nun ganz dem guten Matti gehört. Und man hat das Gefühl: Pellonpää – der, wo immer er ist, bestimmt gerade mit den Göttern des Kinos einen trinkt – sieht herunter aus seinem Bilder­rahmen. Und gibt dem allen seinen, den höchsten Segen.