Manchester by the Sea

USA 2016 · 138 min. · FSK: ab 12
Regie: Kenneth Lonergan
Drehbuch:
Kamera: Jody Lee Lipes
Darsteller: Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Lucas Hedges u.a.
Die Grenzen der Persönlichkeit

Schönheit, wo keine Schönheit ist

»›Ich habe ihn wirklich gern gehabt, Karl Ove. Ich habe ihn geliebt.‹
Das hatte sie noch nie gesagt. Nicht einmal ansatz­weise. Ja, ich konnte mich nicht einmal erinnern, dass sie je zuvor ein Wort wie ›lieben‹ in den Mund genommen hatte.
Es war erschüt­ternd.«
Karl Ove Knausgard, „Lieben“

Wie gut ein Film ist, merke ich meist daran, wie sehr ich für ihn missio­niere, mich nicht zurück­halten kann, über ihn zu schwärmen, gleich­zeitig dabei aber so wenig wie möglich erzählen will, damit mein Gegenüber eine vergleich­bare Erfahrung hat. Ein manchmal kaum zu ertra­gender Wider­spruch und ziemlich pubertär. Kenneth Lonergans Manchester by the Sea war einer der schlimmen Filme. Je länger mein Sehein­druck zurücklag, desto mehr hatte ich das Bedürfnis, ihn wie den wahren Gospel jedem Menschen nahe zu bringen, der mir über den Weg lief und mit mir über Filme sprechen wollte. Als Lonergans Film bei der Golden Globes-Verlei­hung in der Kategorie »Bestes Drama« von Barry Jenkins Moonlight knapp über­rundet wurde, traf mich das wie ein Schlag in den Magen. Im gleichen Moment wurde mir wieder einmal bewusst, wie persön­lich jeder von uns Filme sieht und wie sehr ich selbst ein so genannter »iden­ti­fi­ka­to­ri­scher« Betrachter bin. Moonlight spielt in der afro­ame­ri­ka­ni­schen Unter­schicht und porträ­tiert synchron über drei Zeiträume das Coming-of-Age einer schwulen Persön­lich­keit. Obwohl ich erkenne, dass Moonlight ein Film ist, der nicht nur stilis­tisch aufre­gender und moderner als Manchester by the Sea ist und der einem ähnlichen Film­pro­jekt wie Boyhood in Nichts nachsteht, ist für mich Manchester by the Sea dennoch der bessere Film. Und zwar aus sehr persön­li­chen Grünen: weil er rück­sichtslos ehrlich, mutig und glei­cher­maßen poetisch von mir, meinen Freunden und unserer weißen, west­li­chen Gesell­schaft erzählt. Und weil er eins der schlimmsten Dinge, die uns passieren kann, zu einem fürch­ter­lich schönen Klingen bringt: den Verlust geliebter Menschen und unserer eigenen Persön­lich­keit.

Dabei ist es nicht einmal die bildungs­bür­ger­liche Mittel­schicht, über die Lonergan über zahl­reiche Rück­blenden asychnron seine Geschichte erzählt. Lee (Casey Affleck) arbeitet als Haus­meister in Quincy in Massa­chu­setts, hat einen farbigen Vorge­setzten und muss sich unter anderem von einer schwarzen Mieterin rügen lassen; es ist – verstärkt durch diese USA-spezi­fi­schen Rassen-Anspie­lungen – sichtlich nicht sein Ort. Genauso schnell wird jedoch auch klar, dass Lee dennoch nicht weg will. Denn als Lee in das kleine, unspek­ta­ku­läre Arbei­ter­s­tädt­chen Manchester by the Sea gerufen wird, weil dort sein Bruder Joe (Kyle Chandler) im Sterben liegt, fährt er nur wider­willig und wird noch einmal resi­li­enter, als er erfährt, dass Joe testa­men­ta­risch fest­ge­legt hat, dass Lee sich um seinen Neffen, Joes 15-jährigen Sohn Patrick (Lucas Ledges) kümmern soll.

Was Lonergan dann über sein bis in die kleinsten Neben­rollen fantas­tisch besetztes Ensemble entfaltet, ist eine atem­be­rau­bende Grat­wan­de­rung in Sachen Schuld, fami­liärer Liebe, Trauma, und Alltags­be­wäl­ti­gung. Wir erfahren zwar sehr lange nicht, welches Trauma sich hinter Lees Trauer verbirgt, dafür erfahren wir immer mehr über Lees altes Leben und seine Freunde und sehen, wie Patrick seinen Onkel mit den Waffen eines Teens in dieses alte Leben, seine alte Rolle zurück­zu­holen versucht. Lonergan gelingt hier vor allem mit einer im ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kino raren Gabe, die alles verzeh­rende Trauer, den uner­bitt­li­chen Grimm des Lebens aufzu­fangen: und zwar mit einem subtilen Humor, der in den präzisen, mit den notwen­digen Leer­stellen verse­henen Dialogen manchmal nur eine Ahnung ist, der aber dennoch der Tragik den Stachel nimmt und ein in solchen Fällen leicht evoziertes Pathos bereits im Keim erstickt.

Die Inten­sität dieser schmerz­vollen Rückkehr erinnert gerade in ihrer gesell­schaft­li­chen Verortung und der Tragik männ­li­cher Sprach­lo­sig­keit zwar immer wieder auch an Ray McKinnons Ausnahme-Serie Rectify, doch da Lonergan nicht die Zeit von vier Staffeln hat, um seine Geschichte in ihrem »ganzen« Umfang zu erzählen, bedient er sich neben dem Humor und expli­ziten Leer­stellen einem weiteren Mittel, um Über­ra­schung, Zufäl­lig­keit, Dichte und Komple­xität zu erzeugen – der Musik. Neben Lesley Barber’s Partitur sind es dabei vor allem die Stellen klas­si­scher Musik – sei es aus dem »Messiah«, choraler Momente von Massenet oder einer Sonate für Oboe und Klavier – die Manchester by the Sea zu einem so unge­wöhn­li­chen Film machen. Denn so wie August Stramm in seinen expres­sio­nis­ti­schen Gedichten, so konter­ka­riert auch Lonergan mit wilder Wucht, streicht gegen Handlung und Gefühl und vermit­telt Schönheit, wo keine Schönheit ist.

Und vor allem hört Lonergan dann auch dort auf, wo es nicht mehr weiter­geht, zeigt nicht nur die Grenzen von Trau­ma­be­wäl­ti­gung und Selbst­op­ti­mie­rung auf, sondern legt nahe, dass man dort, an diesen Grenzen, ruhig stehen bleiben kann, auch wenn das Leben weiter­geht.

Ehrlicher, tragi­scher – und schöner geht es kaum.