Lovers

Frankreich 1999 · 96 min. · FSK: ab 6
Regie: Jean-Marc Barr
Drehbuch:
Kamera: Jean-Marc Barr
Darsteller: Elodie Bouchez, Sergej Trifunovic, Irina Decermic, Geneviève Page u.a.

Reine Liebe

Jean-Marc Barrs Dogma #5

Ein Mann und eine Frau. Der nackte Zufall führt sie zusammen, mitten in Paris. Nach wenigen Minuten – im Leben wie im Kino – sind sie ein Paar.

Die Kamera folgt ihnen durch die Straßen und in die Häuser, begleitet sie des nachts in Kneipen und wacht mit ihnen auf. Jeanne (Elodie Bouchez) ist Buch­händ­lerin, Dragan (Sergej Trifu­novic) ein Maler und ein Flücht­ling aus Ex-Jugo­sla­wien. Aber wer ist Dragan überhaupt, wo genau kommt er her, was hat er hinter sich? Jeanne weiß es nicht, und der Zuschauer auch nicht. Wenig mehr erfährt man über den jungen Mann, als das er illegal in Frank­reich ist, und von der Auswei­sung bedroht. Die beiden sind ein unglei­ches Paar; während sie verant­wor­tungs­voll die Liebe ernst nimmt, ist er ein großes Kind, das viel zu viel trinkt, und auch mal für ein paar Tage einfach verschwindet.

Regisseur Jean-Marc Barr ist uns als Schau­spieler (u.a. aus Lars von Triers Europa) bekannt. Seinen ersten eigenen Film drehte er nach dem strengen Authen­ti­zitäts-Kanon der dänischen Dogma95-Regis­seure. Den größten Teil des Films über kommt er mit seinen zwei Haupt­dar­stel­lern aus, und einem minimalen Team. Auch drehte er tatsäch­lich in doku­men­ta­ri­scher Manier auf der Straße, und verließ damit die geschlos­senen Räume und länd­li­chen Milieus, in denen die bishe­rigen Dogma-Filme spielten. Lovers ist schon darin sehr fran­zö­sisch, daß er sich – ganz anders als die Dänen – um Familie nicht schert (und auch das Liebes­ver­hältnis zwischen Jeanne und Dragan kann man hier kaum als implizite Fami­li­en­grün­dung verstehen).
So wild und frisch wirkt Lovers, dass man sich zugleich an das spontane fran­zö­si­sche Kino früherer Jahr­zehnte erinnert fühlt. Zumal Jean-Luc Godards À bout de souffle (1960) drängt sich auf, denn auch hier begegnet sich ein bina­tio­nales Paar im Herzen von Paris, das nichts gemeinsam hat, außer seiner Liebe. Und auch Lovers ist ein Paris-Film, der uns die Topo­gra­phie der Stadt erschließt (Auch indem er die Großstadt zum dritten Haupt­dar­steller machte, fügt Barr Dogma95 etwas Neues hinzu.), Orte zeigt, die neu sind, Perspek­tiven, die nicht auf Sehens­wür­dig­keiten gerichtet sind, und doch ganz unver­wech­selbar pari­se­risch.

Nein, so gut wie Godard ist Jean-Marc Barrs Film trotzdem nicht. Zuviel Pathos, zuwenig Ironie liegt in seiner Geschichte, und was die Figur des Dragan angeht, wirkt er wie ein Verschnitt aus der Balkan-Klischee-Kiste: Versoffen, irra­tional, melan­cho­lisch.
Wo Godards Sarkasmus für heitere weise Leitig­keit sorgt, insze­niert Barr die Tragödie: Als Dragan schließ­lich von der Polizei abge­schoben wird, kippt der Film endgültig ins elegische Melodram. Minu­ten­lang sehen wir die zurück­ge­blie­bene Jeanne schluch­zend die Treppe hinauf­steigen – eine Szene, die (für mich) nicht funk­tio­niert, weil das ganze Verhältnis zwischen dem Paar dort eine Behaup­tung ist, wo es über das Flüchtige und Zufällige, Spontane, das auch die Bilder ausdrü­cken, hinaus­geht. Barr hält Liebe für eine irra­tio­nale Schick­sal­macht, die muß, was sie muß, und irgendwie stets das Gute reprä­sen­tiert. Im Gegensatz zu ihm weiß Godard, dass so rein und gut wie hier die Liebe nicht ist.

Ande­rer­seits: gerade in dieser naiven Reinheit enthüllt uns Barr zwar kein Geheimnis der Liebe, dafür aber der Dogma-Gruppe. Denn alle deren bishe­rigen Filme müssen als Utopien verstanden werden: Insze­nierte Festen (Das Fest; Dogma #1) ein Aufbre­chen fami­liärer Lebens­lügen, entlarvte Idioterne (Idioten; Dogma #2) die Verkramp­fungen der bürger­li­chen Gesell­schaft, feierte Mifunes sidste sang (Dogma #3) die Flucht in wahl­ver­wandt­schaft­liche Bezie­hungen auf dem Land, so zeigt uns nun Lovers, was noch bleiben könnte, wenn’s auch im Grünen nicht mehr funk­tio­niert: Ein Mann und eine Frau.