Licorice Pizza

USA 2021 · 134 min. · FSK: ab 12
Regie: Paul Thomas Anderson
Drehbuch:
Kamera: Paul Thomas Anderson, Michael Bauman
Darsteller: Cooper Hoffman, Alana Haim, Sean Penn, Tom Waits, Bradley Cooper u.a.
Mehr Glück geht kaum...
(Foto: Universal Pictures)

Filmische Formel zum großen Glück

Paul Thomas Andersons semi-biografische, sommerliche Liebesgeschichte aus dem Jahr 1973 ist großes Kino und einer der schönsten Filme des Jahres

»You were so young, oh, and I was so free
I may've been young, but baby that’s not what I wanted to be
Well, you were the one (oh, why was it me?)
'Cause baby, you've shown me so many things that I've never seen
Whatever you need, baby, you've got it from me«

– Chris Norman & Suzi Quatro, Stumblin' In (1978)

Es gibt Filme, nach denen der Sinn des Lebens eine ganz neue Bedeutung erhält, ja, nach denen man das Gefühl hat, dass das wahre Glück allein und nur durch einen Film ausgelöst werden kann. Und wenn dieses Glück bei dem Gedanken an diesen Film auch noch wochen­lang nachhallt, ist eigent­lich jedes weitere Wort über­flüssig.

Eigent­lich geht es dann nur noch darum, dieses Glück teilen zu wollen, was gleich noch einmal glück­li­cher macht. Denn einen großar­tigen Film mit anderen Menschen zu teilen bzw. sie teilhaben zu lassen am eigenen Glück, poten­ziert das Glücks­ge­fühl gleich noch einmal. Doch dieses Teilen ist eine schwie­rige Sache, mehr noch, wenn es wie in diesem Fall um Paul Thomas Andersons Licorice Pizza geht. Wie immer stellt sich nämlich im gleichen Atemzug die Frage, wie so etwas möglich ist, so ein Film und solche Gefühle? Lassen sich solche ja dann doch sehr privaten, von der eigenen Filmo­grafie und Biografie abhän­gigen Glücks­ge­fühle überhaupt adäquat, verall­ge­mei­nernd in Worte fassen, ohne die Erwar­tungs­hal­tungen beim Leser ins Uner­mess­liche zu steigern, und damit nur eine Enttäu­schung zu provo­zieren? So wie bei Andersons Thomas Pynchon-Verfil­mung Inherent Vice (2014), die mich ähnlich begeis­tert hatte, doch kaum einer in meinem Umfeld konnte diese Begeis­te­rung auch nur in Ansätzen nach­voll­ziehen.

Um zumindest diesen Wieder­ho­lungs­fehler zu vermeiden: wer bei Inherent Vice wegen dessen immer wieder expe­ri­men­teller, subjek­tiver, tran­szen­den­taler Erzähl­weise einge­schlafen sein sollte, wird auch mit Licorice Pizza seine Probleme haben. Zwar ist es dieses Mal nicht ein kongenial umge­setzter Thomas Pynchon, doch es ist weiterhin Paul Thomas Anderson, der hier erneut in die frühen 1970er eintaucht. Nicht in das Jahr 1970 wie in Inherent Vice, sondern in das Jahr 1973 und die Erin­ne­rungen seines Freundes Gary Goetzman, die ihn zu Licorice Pizza animiert haben. Denn wie Gary Goetzman treibt auch Andersons 15-jähriger Held Gary (Cooper Hoffman) durch dieses Jahr, lernt zufällig die zehn Jahre ältere Alana (Alana Haim) kennen und verliebt sich in sie. Mal gemeinsam, mal allein rennen sie durch dieses Jahr, treiben und liegen in plato­ni­scher Inten­sität beiein­ander und versuchen sich an den verschie­densten Dingen im Leben, spielen mit dem Leben, suchen nach dem Leben.

Das ist natürlich klas­sischstes Coming-of-Age, bester »Bildungs­roman«, aber dann auch wieder nicht. Denn wie Erin­ne­rungen so sind, ist nichts gleich, erinnert jeder anders, ist das Unwich­tige mal zentral und das Wichtige ganz neben­säch­lich. Und umgekehrt.

Anderson prak­ti­ziert also Erin­ne­rungs­kultur, die nicht nur durch die Namen der Prot­ago­nisten und ihre Darsteller bzw. Ideen­geber (Alana/Alana oder Gary/Gary) durch die Gegenwart hinter­fragt wird, sondern auch durch die Ereig­nisse. Gary versucht sich neben seinem Job als Kinder­schau­spieler auch im Verkauf von Wasser­betten und dann in dem lange Zeit in Kali­for­nien verbo­tenen Geschäft mit einem Flip­per­salon, während Alana mal Gary beim Wasser­bet­ten­ver­kauf hilft, um dann den für das Bürger­meis­teramt kandi­die­renden Politiker Joel Wachs (Benny Safdie) in seinem Wahl­kampf­team zu unter­stützen, das es tatsäch­lich einmal gab. Damit dringt auch die korrupte Politik der Nixon-Jahre in diesen Film, um dann aber auch genauso wieder zu verschwinden, so wie das in jedem Leben von uns passiert. Nichts steht fest, alles ist im Fluss, der mal als Strom­schnelle und dann wieder träge, breit und langsam dahin­fließt.

Und so ist auch Andersons Film. Das Private, das hier liebevoll und zärtlich erzählt wird, spiegelt sich im großen Welt­ge­schehen, in großen Namen aus Politik und Film, die Anderson auftreten lässt, so wie es Tarantino auch gerne macht. Doch ist das bei Tarantino oft mit einem drama­ti­schen, gedan­ken­spie­le­ri­schen, die Geschichte neu schreiben wollenden Impetus versehen, sind Andersons Anspie­lungen wie ein Gedicht, das eine Asso­zia­tion nach der anderen zur Folge hat. So spielen Tom Waits, Sean Penn, Bradley Cooper sehr reale und 1973 ähnlich berühmte Gestalten aus dem Film­ge­schäft; nur Benny Safdie, der mit seinem Bruder Joshua 2019 den tollen, wilden Adam Sandler-Film Uncut Gems gemacht hat, ist hier nicht Film­mensch, sondern Politiker.

Das mag einigen viel­leicht zu asso­ziativ klingen, ist aber von unge­heurem Tempo und einer flir­renden Dynamik. Allein wie Gary und Alana immer wieder durch den Film laufen, rennen, und sie Anderson mit seiner Kamera dabei verfolgt, ist so schön wie es aufregend und spannend ist, denn jeder Lauf zieht auch einen neuen Lebens­ab­schnitt nach sich. Mal beruf­li­cher, mal privater Art.

Das wirkt so wirklich und authen­tisch, so komisch, ernst und grotesk, so leicht und schwer, als wäre es tatsäch­lich das echte Leben, ein ganzes Leben, so wie es auch Richard Linklater in seinem Boyhood gezeigt hat. Das mag daran liegen, dass Andersons Kostüm­de­si­gner Mark Bridges alte Schul­jahr­bücher aus dem Jahr 1973 ausge­wertet hat und ohne sie zu kopieren, sich ähnlich animieren und inspi­rieren lassen hat wie Anderson, für den etwa sein Filmtitel »Licorice Pizza« (Lakritz-Pizza), eine im damaligen Südka­li­for­nien populäre Laden­kette für Schall­platten, mehr als nur die Laden­kette ist, sondern Ausdruck eines Denkens der damaligen Zeit. Und so verfährt auch Bridges, der die Kleidung nicht einfach nur kopiert, sondern sie trans­for­miert, so wie das goldene Kostüm der Stewar­dess während eines Fluges seiner Helden Gary und Alana, das es so nie gegeben hat. Aber hätte geben können.

Viel­leicht sind es diese »Trans­fer­leis­tungen«, die Andersons Film dann auch zu einem sehr gegen­wär­tigen Film machen, trotz seines Rück­blicks auf ein Jahr, das schon fast ein halbes Jahr­hun­dert zurück­liegt. Denn diese Trans­fer­leis­tungen werden ja nicht nur durch die Kostüme und Andersons Erzählung erzeugt, sondern auch durch die Filmmusik von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood, der anders als in seinen zwei Vorgän­ger­filmen dieses Film­jahres, für die er kompo­niert hat – The Power of the Dog und Spencer – die Musik dieses Mal nicht als fast schon krie­ge­ri­sches Instru­men­ta­rium einsetzt, sondern so zurück­ge­nommen und subtil Anderson musi­ka­lisch zuar­beitet, dass es gerade noch hörbar, aber nichts­des­to­trotz auch dieses Mal ein Hoch­ge­nuss ist. Der auch in seiner Auswahl an Songs aus dieser Zeit die Grenzen spie­le­risch über­schreitet und zeigt, dass Zeit so wenig wie Menschen und ihre Sehn­süchte linear ist, sondern einer Spirale gleicht und wir deshalb auch sehr über­ra­schend und passend zugleich ein Lied wie Suzi Quatro’s Stumbl' In, ein Lied aus der »Zukunft«, aus dem Jahr 1978 hören, während Gary und Alana auf ihre Zukunft zurennen und zustol­pern.

Greenwood ist wie fast alles Betei­ligten dieses Family & Friends-Projektes ein alter Freund von Anderson. Für Alana Haim – die hier ihr schau­spie­le­ri­sches Debüt gibt – und die Band mit ihren Schwes­tern, Haim, hat Anderson Musik­vi­deos gemacht, Alanas Mutter war Andersons Kunst­leh­rerin in der Schule und der zweite große Star und Debütant dieses Films, Cooper Hoffman, der mit Alana die großen Schau­spieler dieses Films immer wieder in den Schatten stellt, ist niemand anders als der Sohn von Philip Seymour Hoffman, der in Anderson-Klas­si­kern wie Punch-Drunk Love, Magnolia oder The Master tragende Rollen spielte und dann – und auch das ist nur eine kleine Randnotiz, die aber viel­leicht diesen flam­menden, züngelnden, zärt­li­chen Realismus dieses Films erklärt – war Alana auch einige Zeit die Baby­sit­terin des nicht mehr ganz so kleinen Cooper.

Und dann ist da natürlich noch der ganze Rest, der einen über­ra­genden Film auszeichnet. Ein Rest, der gerade von einem Auto­di­dakten wie Anderson gerade nicht als Rest verstanden wird, sondern so wie sich Anderson für Regie und Drehbuch verant­wort­lich fühlt, fühlt er sich auch für diesen »Rest« fast schon über­ver­ant­wort­lich, hat er anders als in seinem letzten Film Der seidene Faden Andy Jurgensen nun ganz den Schnitt über­lassen (der dafür für den besten Film­schnitt, den Satellite Award, nominiert wurde), und hebt auch seine Kame­ra­ar­beit (zusammen mit Michael Bauman) Licorice Pizza weit über den Durschnitt, sind es etwa nicht nur die Perspek­tiven der Lauf­se­quenzen, die begeis­tern, sondern auch die über­ra­schenden Totalen, die Porträt­fo­to­grafie, bei der wir eben nicht nur jeden Pickel der Darsteller sehen, sondern auch das entfern­teste Lächeln zu einem beson­deren, zu einem magischen Moment wird.

Nur eins werden wir bei all dem Glück, das dieser Film bereiten kann, in Deutsch­land wohl nicht erleben: dass John Paul Anderson auch bei uns wie vor der Premiere seines Films im legen­dären Village Theater in Los Angeles schnell noch eine neue 35mm-Kopie seines Films ziehen lassen wird, um mit einem Mehr an Rot- und Gelbtönen das Zusam­men­spiel von Projektor, Leinwand und Raum zu einem perfekten cine­philen Genuss zu machen.

Die Zeit der Wasserbetten

Liebe, Lakritz und Musik: In Licorice Pizza wirft Paul Thomas Anderson einen nostalgischen Blick auf die frühen 70er Jahre

»Es ist eine alte Geschichte/ Doch bleibt sie immer neu;«
Und wem sie just passieret/ Dem bricht das Herz entzwei. – Heinrich Heine

Alana und Gary sind zwei junge Menschen und ein Liebes­paar. Aller­dings eines der unge­wöhn­lichsten der Film­ge­schichte, und eines, dessen zwei Seiten nie gleich­zeitig inein­ander verliebt zu sein scheinen. Darum ist dieser Film auch eine Komödie.

Licorice Pizza ist die erste große Über­ra­schung des Kino­jahres 2022. Auf seine alten Tage wird Paul Thomas Anderson noch milde und menschen­freund­lich. Bislang kannte man diesen Regisseur (Magnolia, There Will Be Blood, The Master u.v.m.) eher als das Gegenteil: Einen Kontroll­freak, der sich gern als Regie-Genie insze­nierte und in den letzten 20 Jahren mit großem Gestus relativ herme­ti­sche, strenge Filme machte, die sich darin gefielen, das Publikum zu spalten in gläubige Anhänger und in Agnos­tiker. Paul Thomas Anderson ist ein Regisseur, den man entweder vorbe­haltlos liebt oder hasst. Dazwi­schen geht nicht viel.

Und jetzt das: Ein Crowd­pleaser! Eine Liebes­ge­schichte!! Die natürlich auch ironisch gebrochen wird, aber immerhin. Und die auch ernst gemeint bleibt. Eine Coming-of-Age-Geschichte aus den frühen 1970er Jahren, die mit Nostalgie und melan­cho­li­schem Herz­schmerz ebenso spielt wie mit jugend­li­chem Ulk-Humor, mit kindlich-kindi­schen Albern­heiten.

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Anderson erzählt aus irgend­einem Grund wahn­sinnig gerne von neuro­ti­schen oder verträumten Charak­teren und von deren verschie­denen Zwängen, sowie von der kaum verbor­genen Angst dieser Figuren, die dazu neigen, zwischen einer falschen Selbst­si­cher­heit und einer allzu offen­sicht­li­chen Unent­schlos­sen­heit zu schwanken.

Gary ist 15 und ein Kinder­star im Hollywood-Showbiz, Alana ist Assis­tentin eines Foto­grafen und 10 Jahre älter. Eine unge­wöhn­liche Liebes­ge­schichte, die allerlei Schwie­rig­keiten erlebt, von denen der erstaun­liche Alters­un­ter­schied nicht der größte ist. Gespielt werden sie von Alana Haim, Gitar­ristin und Sängerin vom Indie-Rock-Trio Haim (gemeinsam mit ihren beiden Schwes­tern, die auch im Film zu sehen sind), und von Newcomer Cooper Hoffman, dem Sohn von Andersons Lieblings-Darsteller Philip Seymour Hoffman, der 2014 verse­hent­lich an einem Drogen­cock­tail starb. Diese beiden Nach­wuchs­schau­spieler sind alles andere als glamourös, doch das ist Konzept. So wie der Verzicht darauf sie zu schminken. So sieht man Puber­täts­pi­ckel, Akne und Haut­fle­cken – eine zur Schau getragene emotio­nale Nacktheit, die mehr als einen Hauch jener Vertei­di­gung des Vulgären atmet, die man in den Filmen von Mike Leigh finden kann, die mir, wie manches von Anderson, immer auch ein bisschen zynisch vorkommen.

Mehr noch als um die Liebe zwischen beiden geht es um die Figuren selbst: Alana wider­setzt sich Garys hart­nä­ckigem Werben, verständ­li­cher­weise. Was man aber nicht versteht: Sie hängt gerne mit Gary und seinen Freunden ab, ohne selber zu verstehen, warum. Wie gesagt: Sie sind 10 Jahre jünger. Alana, sitzt in den klein­bür­ger­li­chen armen Verhält­nissen der Eltern fest, sie weiß nicht, was sie will, und schafft es auf ihrer Weise auch nicht, erwachsen zu werden.

In Neben­rollen erlebt man einen über­ra­schend selbst­iro­ni­schen Sean Penn, der wohl auf den alternden William Holden anspielen soll, und Bradley Cooper als Jon Peters, ein Friseur, der als Barbra Streisand-Liebhaber bekannt wurde und als Vorbild für die Warren-Beatty-Figur in Shampoo in die Film­ge­schichte einging. In dieser Figur verdichtet sich ein schon damals über­holtes Bild von Männ­lich­keit, das aus der passiv-aggres­siven Haltung gegenüber naiven jungen Leuten Kraft schöpft, aus dem Wissen, dass nur man selber in der Lage sind, »Barbra Streisand« richtig auszu­spre­chen.

Jede zweite Einstel­lung ist eine Reverenz an das Kino. Noch nie war ein Paul-Thomas-Anderson-Film so feti­schis­tisch und einem Tarantino-Film so ähnlich, wobei Once Upon a Time... in Hollywood eine alter­na­tive Geschichte erzählt, während Licorice Pizza eher versucht, die Real­ge­schichte wieder und wieder zu durch­leben und in den Status eines Kindes zurück­zu­reisen.
Wie ein Kind sich insgeheim nach Ordnung sehnt, so sehnt Anderson sich nach der Kindheit des Jahres 1973. In dieser Liebe zum Infan­tilen (im besten Sinn des Wortes) erinnert der Film auch an Richard Linklater, vor allem an Boyhood.

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Natürlich will dieser Film auch über private Gefühle und Unter­hal­tung hinaus etwas Substan­zi­elles erzählen: Über das Jahr 1973, in dem der Viet­nam­krieg zu Ende ging und Richard Nixons Watergate-Affäre ans Licht kam und in dem Wasser­betten der aller­neu­este Konsum­renner wurden.
Über die Filme New Holly­woods, denn dies ist auch ein sati­ri­scher Blick hinter die Kulissen der Film­in­dus­trie, der vor allem auf Werke von Robert Altman und Peter Bogd­a­no­vich anspielt.

Und er erzählt vom Übergang vom hand­werk­li­chen zum post­mo­dernen Wirt­schaften, vom analogen zum digitalen Zeitalter, das bereits in den vielen Ideen von Haupt­figur Gary auftaucht, der auch ein Geschäfts­genie ist, das immerfort nur in den Kate­go­rien von »Billig kaufen, teuer verkaufen« denkt. In dieser Figur gibt es auch ein paar Bill Gates-Anteile, ein Stück Silicon Valley. Es gibt darin aber auch schon den dunkleren Teil neben der Geschichte der Garagen-Genies, die zu Milli­ar­dären wurden, der mit diesen aber untrennbar verbunden ist: die Geschichte vom Aufstieg der Hoch­stapler im Gewand der Unter­nehmer.

Anderson will einen Sinn für die Verluste schaffen, die mit dem einher­gehen, was wir heute für Fort­schritt halten. In dieser Hinsicht ist Andersons neues Werk unbedingt ein konser­va­tiver Film, so wie dieser Regisseur wohl ein konser­va­tiver Filme­ma­cher ist, wie das auch frühere Filme, nicht zuletzt sein letzter, Phantom Thread, bewiesen.

Licorice Pizza fügt sich auch in anderer Hinsicht in das Werk dieses Regis­seurs: Denn dessen Filme sind fast immer Americana, also Filme, die ein Kapitel aus dem ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­dert und dem Mindset der USA erzählen wollen.
In diesem Fall geht es um das Jahrzehnt der Befreiung, um die kurze Phase zwischen dem brutalen Jahr 1968 und dem Regie­rungs­an­tritt von Ronald Reagan, der Phase, in der Amerika an sich selbst einmal kurz zu zweifeln begann – Stichwort Watergate – und sich das Land darüber tatsäch­lich libe­ra­li­sierte, bevor der Neoli­be­ra­lismus die Herr­schaft über die Köpfe und die Dinge übernahm.

Das Jahr 1973 ist nicht eines, sondern das Schlüs­sel­jahr in dieser Entwick­lung, die von 1969 bis 1979 reicht: Nichts war hier besser als in anderen Jahren, wie gesagt begann Watergate, in Vietnam wurde der Frieden geschlossen, in Chile wurde mit Salvador Allende die Hoffnung gemordet und die USA schauten zu, mit dem Jom-Kippur-Krieg verlor Israel seinen Nimbus, es gab die Ölkrise und – viel­leicht am bedeu­tendsten –: mit dem Zusam­men­bruch des Bretton-Woods-Abkommens entfes­selte die US-Regierung die Finanz­märkte. Vor allem aber war 1973 das Jahr, in dem die Geschichte gewis­ser­maßen ihren vorläu­figen Schei­tel­punkt erreichte. Seitdem läuft sie im Sinne von Baudril­lards Das Jahr 2000 findet nicht statt rückwärts.

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Der Titel bedeutet übrigens »Lakritz Pizza«. Keine Angst: dieses Essen wird den ganzen Film über nicht serviert werden. Mehr noch: Es wird nicht mal erwähnt. Der Regisseur, so hat er in Inter­views erklärt. hat diesen Titel einfach deswegen gewählt, weil er ihn ein schönes Wort findet, viel schöner als all' die anderen Worte, die ihm einge­fallen sind, um diesen Film zu betiteln. Und diese Geste dieser Entschei­dung gibt die Richtung vor: Es geht letzt­end­lich um pure Schönheit, also um Subjek­ti­vität; es geht um den Sinn der Sinn­lo­sig­keit. Genau gesagt um den Sinn, der in dem steckt, was vermeint­lich keinen Sinn macht, was vermeint­lich die reine Willkür ist.
Davon abgesehen ist »Lakritz-Pizza« natürlich auch eine Metapher und Verball­hor­nung der klas­si­schen Vinyl-Schall­platte, die in etwa so aussieht, wie eine Lakritz-Pizza wohl aussehen könnte, wenn es sie denn gäbe. Dies war tatsäch­lich auch der Name einer alten Platten-Verkaufs­kette.

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Insze­niert ist das alles mit berü­ckender Souver­änität und einer enormen Leich­tig­keit: Die Kamera fließt im Rhythmus der Musik, schon zu Beginn sieht man eine schwin­del­erre­gende Plan­se­quenz; die Montage ist so etwas wie die Takt­ge­berin das Ganzen, die dem Film einen atem­be­rau­bend flüssigen Sog verleiht; die Schau­spieler sind großartig und perfekt gecastet und geführt.
Alles das, was Paul Thomas Anderson immer schon gut konnte, aber viel­leicht nur ein einziges Mal bisher, vor 22 Jahren in Magnolia virtuos zusam­men­brachte, das zeigt er in diesem Film.

Licorice Pizza hat den Charme und die Magie der frühen Filme des Regis­seurs. Viel­leicht liegt das daran, dass er erstmal seit langem wieder in gewissem Sinn auto­bio­gra­phisch ist: Gedreht in den Suburbs von Los Angeles, im San Fernando Valley, dem Tal, in dem der 1970 geborene Anderson selber aufge­wachsen ist – und das auch schon als Kulisse für Boogie Nights und Magnolia diente.

Wie in diesen Filmen ist auch hier die Musik besonders wichtig und besonders exquisit: Zum Sound­track gehören Nina Simone, The Doors, Paul McCartney & Wings, David Bowie, Donovan,...

Once Upon a Time... in Hollywood ist ohne Frage der grund­sätz­lich bessere Film, weil er einen Sinn für das Mythische der mensch­li­chen Existenz mit einem Sinn für Verluste und Tragödien verbindet. Aber Licorice Pizza ist der huma­nis­ti­schere Film.

Er ist fehler­frei, gewis­ser­maßen so fehler­frei, dass man als Zuschauer fast schon wieder beginnt, Verdacht zu schöpfen: Viel­leicht ist das Einzige, was man gegen diesen leichten, fröh­li­chen, hübsch surrealen, enorm huma­nis­ti­schen Film einwenden kann, genau das: Dass er und sein Regisseur genau wissen, wie gut sie sind. Und dass sich der Film in seinen ganzen Stärken sehr gut (allzu gut?) gefällt.

Mal wieder ist es »Time«-Kriti­kerin Stephanie Zacharek, die dieses diffuse Gefühl, das ich beim Anschauen dieses Film trotz aller vieler kleiner Freuden hatte, glänzend auf den Punkt bringt: »Movies that seem assured of how endearing they are usually end up being the least endearing of all. ... Licorice Pizza feels pleased with how casual and effort­less it is, which is the exact opposite of being casual and effort­less.«

Trotzdem: Der Kern des Films und sein eigent­li­cher Hedo­nismus liegen woanders: In seiner Nostalgie und in Andersons erhabenen Steadicam-Exzessen. Sie sind in ihrer ganzen Sinn­lo­sig­keit pure Lust. Damit und nur damit ist dieser Film nicht nur die erste Über­ra­schung des Kino­jahres, er ist auch dessen erster großer Film.

PS:
Es ist inter­es­sant, wie die angel­säch­si­schen Kritiker auf diesen Film reagieren: Man kann grob zusam­men­fas­send sagen, dass die unin­ter­es­santen und Main­stream-Film­kri­tiker diesen Film ganz großartig finden, während die anderen kleinere oder größere Bedenken anmelden. Die »New York Post« gibt 100 von 100, die New York Times nur 70 von 100. Norma­ler­weise ist es bei Filmen dieses Regis­seurs mindes­tens umgekehrt. Das nährt den Verdacht. Hinzu kommt: Es sind die mehr oder weniger alten Männer, die diesen Film gut finden. Und es sind die Frauen, nicht immer junge, die diesen Film schlecht finden. Und ich muss zugeben: Aus Erfahrung vertraue ich mehr den Frauen. Ich muss also mein eigenes Urteil noch einmal über­prüfen.