The Lesson

Großbritannien/D 2023 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Alice Troughton
Drehbuch:
Kamera: Anna Patarakina
Darsteller: Richard E. Grant, Julie Delpy, Daryl McCormack, Stephen McMillan, Crispin Letts u.a.
Auf der Suche nach dem bisschen Wahrheit, das Leben heißt...
(Foto: Port-au-Prince/24 Bilder)

Die Toten sieht man nicht

Alice Troughton macht in ihrem Spielfilmdebüt alles richtig und liefert einen literarischen Thriller, der durch überragende Schauspieler und ein komplexes Drehbuch bis zum Ende überrascht

Am Anfang erinnert alles ein wenig an den subtilen psycho­lo­gi­schen Horror von Jordan Peeles Get Out, in dem ein Afro­ame­ri­kaner mit seiner weißen Freundin auf dem Gut ihrer wohl­ha­benden Eltern in einer bizarren Rassis­mus­spi­rale Identität und Leben zu verlieren droht.

In Alice Trough­tons erstem Spielfilm – sie hat bislang vor allem in Serien wie Lore und Lost in Space Regie geführt – ist die Konstel­la­tion ähnlich. Der angehende junge, afro-britische Schrift­steller Liam Sommers (Daryl McCormack) wird engagiert, Bertie (Stephen McMillan), dem Sohn des berühmten Schrift­stel­lers JM Sinclair (Richard E. Grant), Nachhilfe zu geben, damit er die Aufnah­me­prü­fung an einer Elite­uni­ver­sität besteht. Für Liam ist es eine Ehre, im Haus des Schrift­stel­lers verkehren zu dürfen, auch wenn ihm schnell klar wird, dass Sinclair durch den Suizid seines älteren Sohnes nicht nur lite­ra­risch auf verlo­renem Posten zu stehen scheint, sondern auch in der Beziehung zu Bertie und vor allem zu seiner Frau Hélène (Julie Delpy) Abgründe entstanden sind, die kaum mehr zu kontrol­lieren sind und in deren Sog auch Liam zusehends gerät.

Troughton gestaltet diesen ersten Teil mit verfüh­re­risch düsteren Farben und kris­tall­klaren Dialogen, in denen vor allem über Andeu­tungen, Leer­stellen und einen immer inten­si­veren lite­ra­ri­schen Diskurs das »Schlacht­feld« bestellt wird, auf dem sich Liam mehr und mehr behaupten muss, um nicht abzu­stürzen.

Dreh­buch­autor Alex MacKeith bettet vor allem in diesen Teil seine Kritik am prüfungs-fokus­sierten und maroden briti­schen Bildungs­system ein, die er bereits in seinem hoch­ge­lobten Thea­ter­s­tück School Play ins Zentrum stellt, erweitert es jedoch in The Lesson um die Kritik an einer streng hier­ar­chi­schen, elitären Welt, deren Ethos wie ein neoli­be­rales Krebs­ge­schwür inzwi­schen bis in den fami­liären Kern der Gesell­schaft gestreut hat.

Troughton bietet bei all der Kritik jedoch immer wieder wunderbar leichte Momente in diesem inten­siven Kammer­spiel, in dem sich über wunderbar kompo­nierte Dialog­par­tien immer wieder die Bezie­hungs­dyaden verschieben, neue Themen­schwer­punkte gesetzt und die Schatten der Vergan­gen­heit mehr und mehr ans Licht diktiert werden. Dabei entstehen gerade über die Parkszenen Momente, die an Anto­nionis Blow Up erinnern, in dem so wie hier die Toten eher durch ihr Nicht­da­sein als durch ihre Präsenz wirken, und auch Troughton und MacKeith die Frage stellen, was hier real ist, mehr noch als der Altschrift­steller dem Jung­s­chrift­steller deutlich macht, dass die wahre Kunst nicht unbedingt die eigene Krea­ti­vität ist, sondern die große Kunst des Kopierens, des Klauens von anderen.

Und damit nicht genug, wird auch die Frage nach Liebe, nach Bezie­hungs­mus­tern gestellt. Was ist noch wahr und authen­tisch in einem Bezie­hungs­ge­füge, das weniger der Liebe als den Anre­gungen Machia­vellis folgt, aber dennoch auf die Rituale der Liebe besteht?

Troughton und MacKeith beant­worten fast alle Fragen, wenn auch nicht in den Momenten, wenn es der Zuschauer erwartet, und mit einem Ensemble, das selbst in den alltäg­lichsten Momenten brilliert, allen voran Daryl McCormack, der bereits an der Seite von Emma Thompson in Meine Stunden mit Leo (2022) mit einer umwer­fenden Ambi­va­lenz und fili­graner Ironie seine Rolle erforschte; ein Konzept, dessen er sich auch in seiner Rolle als junger Autor annimmt und eine charak­ter­liche Kaskade erspielt, die durch die Dialoge mit seinen eben­bür­tigen Gegenü­bern, sei es Richard E. Grant, Julie Delpy oder Stephen McMillan immer breiter, immer komplexer und über­ra­schender wird.

Dabei gehen auch die Thriller-Elemente von The Lesson nicht verloren, im Gegenteil ist das ein Thriller, der mit Worten statt mit Taten seine inten­sivsten Höhen erreicht und durch den man dann auch erfährt, dass man die Toten viel­leicht nicht mehr sieht, sie uns aber dennoch schreiben können.