Lara

Deutschland 2019 · 98 min. · FSK: ab 0
Regie: Jan Ole Gerster
Drehbuch:
Kamera: Frank Griebe
Darsteller: Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter u.a.
Reise in die eigenen Abgründe

Versöhntes Unglück

»Als ich im letzten Sommer bei ihr war, fand ich sie einmal auf ihrem Bett liegen, mit einem so trost­losen Ausdruck, dass ich ihr nicht mehr näher zu treten wagte. Wie in einem Zoo lag da die fleisch­ge­wor­dene anima­li­sche Verlas­sen­heit.« – Peter Handke, Wunsch­loses Unglück

»Aber es gab keinen anderen mehr: die Lebens­um­s­tände hatten sie zu einer Liebe erzogen, die auf einen nicht austausch­baren, nicht ersetz­baren Gegen­stand fixiert bleiben musste.« – Peter Handke, Wunsch­loses Unglück

Es war schon ein wenig über­ra­schend, als Jan-Ole Gersters Lara auf dem dies­jäh­rigen Münchner Filmfest mit dem Förder­preis »Neues Deutsches Kino« für die beste Regie ausge­zeichnet wurde. Denn zum einen lag die Konkur­renz mit Filmen wie Sterne über uns, Golden Twenties, Mein Ende.Dein Anfang, Bruder Schwester Herz und Es gilt das gespro­chene Wort nicht nur quali­tativ ziemlich nah beiein­ander, zum anderen erzählten diese Filme auch inhalt­lich verwandte Geschichten über Frauen, die sich ihrer selbst bewusst werden und beginnen, sich den eigenen Schatten zu stellen. Und dann ist Jan-Ole Gerster natürlich kein Debütant mehr, sondern ganz im Gegenteil ein »gestan­dener« Regisseur, der mit seinem bereits 2012 erschie­nenen Oh Boy einen Meilen­stein des neuen, deutschen Kinos geschaffen hatte.

Aber egal, die Über­ra­schung mal beiseite geschoben, ist Lara deshalb kein Film, der diese Auszeich­nung nicht verdient hätte. Denn obwohl Gerster ja eigent­lich seit Jahren an der Verfil­mung von Christian Krachts tollem Kolonial-Roman »Imperium« arbeitet, präsen­tiert er sich für dieses »Zwischen­spiel« mit dem Drehbuch des slowe­ni­schen Autors, Foto­künst­lers und Filme­ma­chers Blaž Kutin in alter Stärke und – mit vertrauten Motiven. Wieder ist es ein Tag in Berlin, den Gerster umkreist, wieder ist es eine Person, die im Mittel­punkt dieser »Einkrei­sung« steht. Und wieder ist Tom Schilling mit dabei, doch dieses Mal nur die vage Skizze einer fragilen Lebens­linie.

Schilling ist Viktor, der Sohn von Lara (Corrina Harfouch), die an ihrem 60. Geburtstag vor einem Abgrund steht, der in seiner düsteren Komple­xität auch für sie selbst kaum zu fassen ist. Doch statt sich tatsäch­lich in »ihren« Abgrund zu stürzen, »fasst« Lara über Corrina Harfouchs virtuose schau­spie­le­ri­sche Perfor­mance die Gele­gen­heit beim Schopf und begibt sich auf eine eintägige Reise nicht nur in die ernüch­ternde Vergan­gen­heit ihrer beruf­li­chen Identität, sondern auch an die Anfänge ihres Lebens, dorthin, wo die Träume noch ganz anders aussahen, als das, was später daraus werden sollte.

Harfouch inzeniert vor allem den Körper von Lara dabei mit einer derartig »verstockten« Inten­sität, dass einem Angst und Bange wird. Gerster verstärkt Harfouchs Spiel dabei durch die äußere Archi­tektur, durch die er Lara mit ihren zirkel­prä­zisen Stakkato-Schritten schreiten lässt. Ist sie zu Beginn im vertrauten Umfeld ihrer im bruta­lis­ti­schen Berliner Stil gebauten Miet­woh­nung tatsäch­lich noch ganz »Beton«, wird sie mit ihren Besuchen im wohl­ha­benden bildungs­bür­ger­li­chen Westen Berlins zunehmend porös, wird deutlich, dass hinter ihrer verstockten, beton­ar­tigen »Stütze« die Narben eines großen Verzichts liegen. Dieser Verzicht arti­ku­liert sich vor allem um Laras geschei­terte Karriere als Pianistin, die sie wiederum über ihren Sohn Viktor versucht zu kompen­sieren.

Eine Konstel­la­tion, die unwei­ger­lich an Michael Hanekes Klavier­spie­lerin erinnert, aber anders als Hanekes Erika ergibt sich Gersters Lara nicht völlig ihren aggress­siven und auto-aggres­siven Impulsen, sondern initiiert im Laufe der Handlung fast so etwas wie einen psycho­dra­ma­ti­schen Selbst­hei­lungs­pro­zess, indem sie sich der schlimmsten Nieder­lage ihres Lebens noch einmal stellt. Diese »Selbst­er­mäch­ti­gung« nicht nur als Frau, sondern auch als Mutter und vor allem als Mensch ist der größte Moment von vielen großen Momenten in Gersters Film.

Denn Gerster zeigt mit stiller, poeti­scher Wucht, dass die Erkenntnis um ihr eigenes Schicksal Lara noch lange nicht zu einem »besseren«, glück­li­cheren Menschen macht, dass die »Anderen« für sie weiterhin ein uner­reichtes Land sein werden. Es ist kein »Happy End«, aber immerhin so etwas wie eine Versöh­nung mit sich selbst.

Eine Mutter, die Musik und die Dämonen

Es ist kein Morgen wie jeder andere für Lara. Das zeigen die ersten Bilder, lange bevor wir wissen, dass sie heute Geburtstag hat. Frühmor­gens liegt sie wach im Bett, ihr Blick scheint leer, traurig, viel­leicht depri­miert; man spürt, dass es keinen richtigen Grund für sie gibt, aufzu­stehen, und so über­rascht es nicht, als sie, nachdem sie sich doch mit langsamen, schweren Bewe­gungen erhoben hat, erstmal zum Fenster geht, dieses öffnet, auf einen Stuhl tritt, und mit dem Gedanken zu spielen scheint, sich hinun­ter­zu­stürzen. Ob sie es getan hätte? Das liegt im Auge des Betrach­ters und dem Bild, das man von dieser Frau erst noch entwi­ckeln muss, der Antwort auf die Frage wie sehr hier Tristesse und Lebens­mü­dig­keit zu über­wiegen scheinen, und ob nicht doch eher alles ein Test ist, ein abwä­gendes, souver­änes Spiel, das eine ältere Frau nicht zum ersten Mal mit sich selber, dem Leben und ihrem Überdruss daran spielt: kühl, sarkas­tisch, am Rande des Zynismus.

Aber zur Entschei­dung kommt es gar nicht, denn vorher klingelt es an der Wohnungstür – und dies ist der erste von einer ganzen Reihe von Momenten in diesem Film, die auch unter anderem ein guter Witz sind.

Jan-Ole Gersters zweiter Spielfilm knüpft insofern an seinen Erstling »Oh Boy« an, als dass auch »Lara« eine oft perfekte Balance zwischen Schwermut und Humor hält, Heiterkeit und Melancholie vermischt, und man sich als Zuschauer fragt, wie sehr sich auch die Titelheldin manchmal einen bitteren Spaß aus ihrem Leben macht. Zumindest umspielt immer wieder ein Lächeln Corinna Harfouchs Gesicht – und sei es nur, dass ihre Figur lacht, weil sie sich bestätigt fühlt in ihrer pessimistischen Sicht auf die Dinge. Oder handelt es sich doch vor allem um eine traurige Geschichte, die von Zuschauer Ernst und Mitleid erwartet?

Es ist die Polizei, die klingelt, man brauche sie als Zeugin für eine Hausdurchsuchung, erklärt der Beamte, sie sei ja schließlich Kollegin. Die folgenden Szenen erzählen in wenigen Minuten en passent einiges über Lara Jenkins: Sie wird 60 an diesem Tag, sie wohnt im Berliner Hansaviertel, sie ist frühpensioniert; irgendetwas ist offenbar vorgefallen. Ihr Sohn Viktor ist Pianist, am Abend hat er ein wichtiges Konzert, bei dem er erstmals auch eigene Kompositionen vorstellt. Aber auch die Beziehung zu ihrem Sohn ist offenbar in irgendeiner Form gestört.

Im Folgenden begleitet der Film die Titelheldin auf ihrem Weg durch den Tag, der auch einer durch ihr Leben ist. Auch darin liegt eine Ähnlichkeit zu »Oh Boy«: Ein Tag in Berlin, eine Hauptfigur; diese in ständiger Bewegung, halb getrieben, halb absichtsvoll, driftend, treibend, ausweichend, dann wieder Konfrontation suchend; Begegnungen und kurze Episoden, die zum Teil zufällig sind, sich aber mit den anderen bald zu einem repräsentativen Mosaik fügen.

Offenbar will Lara an diesem Tag mit einigem »reinen Tisch machen«. Sie hebt auf der Bank ihren kompletten Konto­be­stand ab, sie kauft ein Abend­kleid für das Konzert, zu dem sie offen­kundig gar nicht einge­laden ist. Sie kauft hierfür auch alle Rest­karten auf, sie besucht ihre alte Arbeits­stelle, wo es zu ziemlich befan­genen Begeg­nungen mit Ex-Kollegen kommt, deren Scheu oder Angst erkennbar ist. Man begreift, dass Lara offenbar keine Freunde hat; ein Zufalls-Treffen mit Viktors Freundin und Laras Besuch bei ihrer eigenen Mutter wie die kurze Konfron­ta­tion mit Viktor selbst zeigen Laras Entfrem­dung auch engsten Angehö­rigen gegenüber. Gegen­sei­tige Verlet­zungen, eine grund­sätz­liche Unfähig­keit zu kommu­ni­zieren, werden erkennbar.

Aber was ist hier eigentlich los? Am ehesten einer Erklärung nahe kommt das sich allmählich entfaltende Wissen um Laras Vergangenheit: In jungen Jahren war sie selbst eine hochbegabte Pianistin. Aber sie gab die Musik auf, weil sie sich nicht für »gut genug« hielt. Als Lara ihren alten Professor trifft, bestätigt dieser eitel und selbstsicher, dass alles eine Finte war, dass solche Finten zu seiner Methodik eine Pädagogik der Demütigungen gehören: Jeder Mensch habe das Talent, aber nicht jeder die Kraft, sich gegen Widerstände durchzusetzen – »entweder man hat es, oder man hat es nicht.«

So muss Lara erkennen, dass sie ihre eigenen Chancen viel­leicht nur durch Zufall selbst verpasste, und dass sie zugleich die schwarze Pädagogik, die an ihr prak­ti­ziert wurde, selbst verin­ner­licht und auf ihren Sohn über­tragen hat.

Aber um Läuterung der Figuren geht es nicht. Alles läuft zwar auf das Konzert am Abend zu. Aber auch dies bietet keine reini­gende Erkenntnis, sondern variiert nur die Geheim­nisse und Wider­sprüche, in denen die Figuren verhakt bleiben.

In seinem zweiten Spielfilm stellt Jan-Ole Gerster die Frage nach der Kunst; danach, wieviel Genie und Talent ermöglichen, wieviel Arbeit und Strenge und auch Härte nötig sind. »Lara« ist zuallererst ein Film über Kunst und Künstler, über den Preis der Perfektion, über Disziplin, Gewalt und Selbstverletzung – zwar am Beispiel Musik, aber nichtsdestotrotz ein eminent persönliches Werk, und auch darin eine Fortsetzung von »Oh Boy«. Zumal Tom Schillings Viktor durchaus dessen sieben Jahre ältere Version sein könnte.

Wo dies von Erziehung erzählt und ein Film über den Konflikt zwischen Disziplin und sich-gehen-lassen ist, steht Lara hier immer auf beiden Seiten zugleich, sie ist Mutter und Tochter, Lehrerin und Schülerin, auch wenn sie diese zweite Seite erst wieder in sich entdeckt.

Weil sie immer über­mäch­tige, brutalem herrschsüch­tige Mutter bleibt, und in ihren brüsken empa­thie­losen Bemer­kungen oft Recht hat, und trotzdem grund­sätz­lich im Unrecht ist, ist dies mindes­tens ebenso auch ein Film über die Macht der Mütter, über Eltern und Kinder, und die Verhält­nisse der Genera­tionen und den Sado­ma­so­chismus, der die Verhält­nisse nahezu jeder Familie durch­zieht.

Denn was denkt Lara über ihren Sohn Viktor und dessen Sieg über die Dämonen, die sie selbst besiegt hatten? Sie ist gewiss stolz, aber sie ist auch neidisch, sie begegnet Viktors eigenen Kompo­si­tionen mit Liebe wie Verach­tung.

So ist »Lara« ein nicht nur nach deutschen Maßstäben außergewöhnliches Werk: Über Kunst, über die Familie, über Einsamkeit; ein Film über den Versuch ein verlorenes Leben zurückzuerobern.

Anja Siemens' Schnitt ordnet diese facet­ten­rei­chen Eindrücke sensibel zu prägnanten Empfin­dungs­mo­menten; Frank Griebes Kamera lässt ein verges­senes, verlo­renes, neben den Post­kar­ten­ein­drü­cken dahin­sim­merndes altes West-Berlin zwischen Kant-Straße und Stutt­garter Platz, Hansa-Viertel und Ku-Damm sichtbar werden, das vor allem dem Erfah­rungs­ho­ri­zont der Haupt­figur entspricht.

Also einen beschränkten. Der äußere Panzer einer ihre Gefühle verschließenden Frau hat zwar zunehmend Risse, aber die Disziplin siegt am Ende. Mit Hanekes »Die Klavier­spie­lerin« sollte »Lara« schon deshalb nicht vergli­chen werden – denn hier lodert kein Vulkan unter der Kruste, keine sexuelle oder lebens­welt­liche Frus­tra­tion, kein enttäuschter Exzess, sondern eher die Angst davor, sich einmal gehen zu lassen. Diese Frau ist zu nichts wirklich fähig.

Gerster und seinem Ensemble gelingt es, alle allzu nahe liegenden, ober­fläch­li­chen Asso­zia­tionen zu über­schreiten, und in filmi­scher Form eine kluge Selbst­kritik des Bildungs­bür­ger­tums zu präsen­tieren, die wie jede gelungene Kritik, jederzeit auch eine rettende ist.