Ich habe keine Angst

Io non ho paura

Italien/E/GB 2003 · 108 min. · FSK: ab 12
Regie: Gabriele Salvatores
Drehbuch: ,
Kamera: Italo Petriccione
Darsteller: Aitana-Gijón Sánchez, Dino Abbrescia, Giorgio Careccia, Giuseppe Cristiano u.a.

Aussicht in die Unterwelt

Auf den ersten Blick wirken sie para­die­sisch, die weiten, von goldenen Korn­felder bedeckten Hügel Apuliens unter strahlend blauem Himmel. Doch die flirrende Hitze ist nicht jeder­manns Sache. Spielende Kinder verlieren sich in der Land­schaft: wenn die Erwach­senen vor der Sonne in die Häuser des nahen Weilers fliehen, gehört die Welt ihnen allein. Unbe­achtet können sie die Gegend erkunden und Grenzen austesten. So furchtbar sie aus kind­li­cher Sicht auch scheinen mögen, die Begegnung mit den »blut­rüns­tigen« Zucht­schweinen, die Nieder­lage im Wettlauf und die anschließende Mutprobe, im Gedächtnis behält man sie als Erin­ne­rung an eine heile Welt. Denn bald endet die Kindheit, nicht auf einen Schlag, aber langsam und unwie­der­bring­lich. Und man erkennt, dass ihre Gefahren nichts sind gegen die Abgründe der Erwach­senen.

Ein verlas­senes Gutshaus ist der Spiel­platz: schon ein erstes Zeichen dafür, dass der Wohlstand des Schein-Para­dieses vergangen, dass das Südita­lien der ausge­henden 70er Jahre verarmt ist. Hier entdeckt einer der Jungen, der zehn­jäh­rige Michele, eine impro­vi­sierte Falltür und darunter, in einem Erdloch, ein wirres Bündel, aus dem ein Fuß hervor­lugt. Die Entde­ckung bleibt sein Geheimnis. Schon bald macht er sich allein noch einmal auf zur Ruine, um sich die unter­ir­di­sche Gestalt vorsichtig näher anzusehen – und findet einen verwirrten Gleich­alt­rigen.
Michele ist klug, er hat viel Phantasie. Und ist es gewohnt, verant­wort­lich zu handeln – die Aufsicht über seine kleine Schwester, die die Mutter ihm über­tragen hat, hat ihn das gelehrt. Ihm ist klar, dass er erst mehr heraus­finden muss, bevor er etwas unter­nehmen kann. Aber was er allmäh­lich erfährt, über­steigt sein bishe­riges Wissen vom Gegensatz zwischen den vertrauten Angehö­rigen und der fremden, grausamen weiten Welt der Nach­richten.

Die lite­ra­ri­sche Vorlage war, wie der Film selbst, in Italien ein Kassen­schlager. Ganz aus der Perspek­tive seines jungen Helden Michele erzählt Salva­tores in beein­dru­ckenden Bildern eine Geschichte vom Weggang aus dem kind­li­chen Paradies – ein Weg, der über Wissen und Welter­kenntnis definiert ist. Das Zeit­ko­lorit, der heiße Sommer, der verlan­gende Blick aus dem armen Süden in den wohl­ha­benden Norden Italiens sind gut getroffen, und der junge Haupt­dar­steller ist sehr über­zeu­gend.
Das Jugend-Drama hat über weite Strecken die Kraft, seine Zuschauer mitzu­reißen und emotional zu fesseln. Es beginnt wie ein aben­teu­er­li­cher Kinder­film, wandelt sich zum Krimi und endet unver­mutet fast als action­las­tiger Thriller samt Einsatz unver­meid­li­cher Hubschrauber als deus ex machina – ein Stim­mungs­wandel, der auch stören kann. Und doch verblassen die wenigen Schock­ef­fekte schnell, und übrig bleiben die melan­cho­li­schen Bilder der endlosen, nun abge­ern­teten Hügel unter dem weiten Himmel.