Der große Trip – Wild

Wild

USA 2014 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Jean-Marc Vallée
Drehbuch:
Kamera: Yves Belanger
Darsteller: Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski, Michiel Huisman, Gaby Hoffmann u.a.
Wandern als Rite de Passage

39 Sekunden

»I’d rather be a forest than a street
Yes I would, if I could, I surely would
I’d rather feel the earth beneath my feet
Yes I would, if I only could, I surely would«

(Simon & Garfunkel, El Condor Pasa)

Die meisten wirklich guten Filme zeichnet aus, dass sie bis ins Detail gut sind. Und man sie gerade deshalb wieder und wieder sehen kann, weil jede Wieder­ho­lung eben keine Wieder­ho­lung, sondern ein neuer Film ist. Er ist neu, weil selbst die kleinsten Details durch ihren starken Strich zu einem eigenen Gemälde werden.

Das trifft auch auf Jean-Marc Vallées Der große Trip – Wild zu. Wild ist durch Reese Wither­spoon eine schau­spie­le­ri­sche Labsal, durch Nick Hornbys konge­niale Dreh­buch­ad­ap­tion von Cheryl Strayeds Erin­ne­rungen in eine packende Erzählung überführt worden und durch Yves Bélangers Kamera ein faszi­nie­render Trip an den Rand ameri­ka­ni­scher Zivi­li­sa­tion. Wild zeigt aber auch die gelungene Trans­for­ma­tion der Gene­ra­tion nach Woodstock, die sich ohne religiöse Rück­zugs­räume in einem kolla­bie­renden poli­ti­schen Umfeld ohne nennens­werte Über­gangs­ri­tuale neue Wege suchen muss, um sich immer wieder neu zu verankern. Für Cheryl (Reese Wither­spoon) ist das die Wanderung – ein zwar altes, seit Jahr­hun­derten weltweit als Pilgern aner­kanntes Allheil­mittel, doch in Wild erlebt es eine erstaun­liche Neuschrei­bung. In einem zwar jungen, aber bereits gesät­tigten Genre – man denke nur an die aus fast jedem Blick­winkel in den letzten Jahren entstan­denen modernen Pilger­filme (z.B. Emilio Estevezs Dein Weg, Sean Penns Into the Wild, Coline Serreaus Saint Jacques... Pilgern auf Fran­zö­sisch oder John Currans Spuren) eine erstaun­liche Leistung.

Das dürfte vor allem daran liegen, dass Vallées in Wild mehr als die eine Geschichte erzählt. Während Cheryls Wanderung wird ange­messes asso­ziativ, wohl dosiert und perfekt arran­giert über Rück­blenden eine weitere Narration einge­woben, in die wiederum eine dritte einge­bettet ist. Es ist nicht nur Cheryls Kindheit, Jugend und der durch den frühen Krebstod der mit ihr symbio­tisch verbun­denen Mutter ausgelöste persön­liche Zusam­men­bruch mit verhee­renden Folgen, es ist auch die Geschichte von Cheryls Mutter Bobbi selbst, die zu einem schil­lernden erzäh­le­ri­schen Kern wird. Sieht man Laura Dern bei ihrer Inter­pre­ta­tion dieser Rolle zu, möchte man so wenig in die Gegenwart zurück, wie Cheryl, für die ihre Wanderung auch eine vertrackte Befreiung aus einer an sich eman­zi­pierten Mutter-Tochter-Beziehung ist. Das für Dern seit David Lynchs Blue Velvet (1986) charak­te­ris­ti­sche Lächeln, bei dem nie ganz klar ist, wo die Grenzen zwischen Ekel und Genuss verlaufen, wird hier zum tief sitzenden Symbol für eine neue Gene­ra­tion intel­lek­tu­eller und doch emotio­naler Frauen, die sich zwar aus den alten patri­ar­cha­li­schen Struk­turen noch nicht ganz haben lösen können, sich aber so weit davon befreit haben, dass es als Rollen­mo­dell für die nächste Gene­ra­tion reicht. Dern zele­briert diese Trans­for­ma­tion nicht, sie ringt sie sich in einer schau­spie­le­ri­schen Wahr­haf­tig­keit ab, die faszi­niert, einen schaudern und schütteln lässt und zugleich tief berührt.

Doch Wild hat noch eine letzte, delikate Über­ra­schung zu bieten, ein letztes Detail, dass es allein schon wert wäre, den Film ein zweites Mal zu sehen. Mit Beginn von Cheryls 1000 Meilen langer Wanderung den legen­dären Pacific Crest Trail entlang setzt Vallée dezent, aber dennoch präzise ein immer wieder­keh­rendes musi­ka­li­sche Motiv ein. Für den mit der populären Musik der späten 1960er Vertrauten dürfte schnell klar sein, um welchen Song es sich handelt, doch alle Vertraut­heit wird im gleichen Moment negiert, denn was Vallée als span­nungs­stei­gerndes musi­ka­li­sches Motiv immer wieder anspielt, wird mit dieser Verwen­dung ähnlich neu inter­pre­tiert wie Cheryl es mit ihrer Neude­fi­ni­tion des Pilgerns zur völlig persön­li­chen, intimen »Rite de Passage« tut. Doch auch jene, die Simon & Garfun­kels »El Condor Pasa« bis dahin noch nicht gehört haben sollten, dürfte die Verwen­dung des 39 Sekunden langen Gitarren- und Mandolin-Intros einen faszi­nie­renden Aha-Moment bescheren, wenn »El Condor Pasa« schließ­lich genau im richtigen Moment um seinen Vokalteil ergänzt wird.

Die Weite und das Ich

Während der Western schon in der Frühzeit des US-Kinos prägenden Charakter hatte, entwi­ckelte sich das Genre des Road­mo­vies – eine Moder­ni­sie­rung des klas­si­schen Frontier-Gedankens – erst Ende der 1960er Jahren zu einer festen Größe im ameri­ka­ni­schen Film­schaffen. Die Weite und Mannig­fal­tig­keit des Landes waren wie gemacht, um aus der Spur geratene Prot­ago­nisten auf eine entbeh­rungs­reiche, nicht selten tragisch endende Suche nach Freiheit und Identität zu schicken. Ridley Scotts Thelma & Louise gab dem lange Zeit vorwie­gend männlich konno­tierten Genre Anfang der 1990er Jahre neue Impulse, da hier zwei Frauen aus ihren fest­ge­fah­renen Verhält­nissen ausbre­chen und sich plötzlich in einem Abenteuer wieder­finden.

Eine Tendenz, die auch in jüngerer Zeit wieder verstärkt zu beob­achten ist. So lief im April 2014 hier­zu­lande der von John Curran verant­wor­tete Erleb­nis­be­richt Spuren an. Eine medi­ta­tive, bild­ge­wal­tige Nacher­zäh­lung der stra­pa­ziösen Outback-Wanderung von Robyn Davidson, die 1977 von Alice Springs bis zur austra­li­schen Westküste marschierte (satte 2700 Kilometer) und dabei den Kontakt mit anderen Menschen auf ein Mindestmaß redu­zierte. Im Sommer folgte schließ­lich das klamau­kige Roadmovie Tammy – Voll abge­fahren, das Susan Sarandon zwar in einer augen­zwin­kernden Variante ihrer „Thelma & Louise“-Rolle zeigt, vor allem aber damit beschäf­tigt ist, Holly­woods Comedy-Allzweck­waffe Melissa McCarthy einmal mehr als unan­ge­passte Wucht­brumme zu insz­e­nieren.

Deutlich überz­eu­gender fällt da schon die neue Regie­ar­beit des Kanadiers Jean-Marc Vallée (Dallas Buyers Club) aus. Mit Der große Trip – Wild adap­tierte er die Best­seller-Memoiren von Cheryl Strayed, die 1995 ihr in Scherben liegendes Leben neu zu ordnen versuchte, indem sie, ohne große Outdoor-Erfahrung, zu einem Fußmarsch auf dem berühmt-berüch­tigten Pacific Crest Trail aufbrach. Einem Fern­wan­derweg, der sich von der mexi­ka­ni­schen Grenze entlang der US-Westküste bis nach Kanada erstreckt. Ange­stoßen wurde die Verfil­mung von Schau­spie­lerin Reese Wither­spoon, die nicht nur in der Haupt­rolle zu sehen ist, sondern auch als Produ­z­entin fungierte (ihre eigene Produk­ti­ons­firma Pacific Standard war zuletzt an David Finchers Ehethriller Gone Girl – Das perfekte Opfer beteiligt).

Die Konfron­ta­tion mit Wildnis und Einsam­keit als Ausweg aus einer persön­li­chen Krise ist sicher­lich kein inno­va­tives Film­kon­zept, führt hier aber zu einer facet­ten­rei­chen Reise in die Gedan­ken­welt der stark verun­si­cherten Haupt­figur. Anstatt auf große Gesten und scha­blo­nen­hafte Plot-Volten zu setzen, arbeiten Vallée und Dreh­buch­autor Nick Hornby mit einer asso­zia­tiven, episo­den­haften Erzähl­weise, die immer wieder zwischen Cheryls Erleb­nissen im Verlauf der Wanderung und ihren schmer­z­li­chen Erin­ne­rungen changiert. Während viele Übergänge klar motiviert sind (vor allem durch bestimmte Musik­stücke), werden manche Rück­blenden eher will­kür­lich einge­leitet. Was aller­dings nicht im Geringsten proble­ma­tisch ist, da auch im wahren Leben Gedanken oftmals kommen und gehen, ohne dass sie einen bewussten Auslöser hätten. Eine Erfahrung, die auf einem langen Fußmarsch durch häufig menschen­leere Land­schaften gewiss noch stärker zum Tragen kommt.

Auch wenn sich die nach und nach entblät­ternden Gründe für Cheryls Desori­en­tie­rung und ihren Aufbruch überaus tragisch gestalten, driftet der Film nur selten in senti­men­tale Gefilde ab. Entschei­denden Anteil daran haben nicht zuletzt die recht diffe­ren­ziert agie­renden Darsteller. Etwa Laura Dern, die Cheryls Mutter Bobbi als leicht naive, zugleich aber auch anste­ckend warm­her­zige White-Trash-Kämpferin spielt. Zusam­men­ge­halten wird das große Ganze von der über­ra­schend wand­lungs­fähigen Reese Wither­spoon, die problemlos zwischen Wut, Trauer, Entschlos­sen­heit und Freude pendelt und der Prot­ago­nistin damit die nötigen Ecken und Kanten verleiht. Manchmal wirkt sie geradezu entwaff­nend sympa­thisch, dann wieder erstaun­lich schroff und in anderen Momenten glaubhaft in sich gekehrt.

Einen kleinen Dämpfer erhält das starke, trotz fehlender Dreh­buch­zu­spit­zungen spannende Frau­en­por­trät, wenn der Film in den letzten Einstel­lungen eine konven­tio­nelle und reichlich über­flüs­sige Glück­ser­fah­rung postu­liert. Etwas mehr Mut zur Offenheit wäre an dieser Stelle wünschens­wert gewesen.