Lars von Trier: Geister – Exodus

Riget Exodus

Dänemark 2022 · 5 × 61-68 min. · FSK: ab 16
Regie: Lars von Trier, Morten Arnfred
Drehbuch: ,
Kamera: Manuel Alberto Claro
Darsteller: Søren Pilmark, Ghita Nørby, Birgitte Raaberg, Peter Mygind, Bodil Jørgensen u.a.
Stilvoller lässt sich der Nebelmonat November nicht einläuten...
(Foto: Zentropa/Christian Geisnaes)

Gefangen im Swedenborg-Raum

Das Studio Isabella und viele weitere Kinos in Deutschland präsentieren die dritte Staffel von Lars von Triers Krankenhausserie »Geister« als Halloween-Special

»Das König­liche Reichs­kran­ken­haus steht auf uraltem Sumpfland. Es versam­melte die klügsten Köpfe des Landes mit ihrer hoch­mo­dernen Tech­no­logie. Von nun an sollte gerechnet und gezählt werden, auf dass nie mehr Aber­glauben und Unwis­sen­heit die Bastion der Wissen­schaften erschüt­terten.« So lautet der feier­liche Prolog zu der – abgesehen vom tsche­chi­schen Kran­ken­haus am Rande der Stadt (Buch: Jaroslav Dietl, Regie: Jaroslav Dudek) – wohl besten, künst­le­risch anspruchs­vollsten Weißkit­tel­serie des europäi­schen Fern­se­hens: Lars von Triers Hospital der Geister (The Kingdom), gedreht mit Braun­filter im Dogma-Stil. Da die dänischen Doktoren in ihrem wissen­schaft­li­chen Frei­maurer-Hochmut die Geister von ihrem urei­gensten Terri­to­rium verbannt haben, nehmen diese immer perfidere Rache.

Auch dem dänischen Regisseur mit dem deutschen Künst­ler­namen scheint seine Erfolgs­serie von 1994 und 1997 keine Ruhe gelassen zu haben. Schon damals hatte er eine Fort­set­zung geplant, doch starben bis zum Jahr 2000 zwei der wich­tigsten Darsteller, Kirsten Rolffes und Ernst-Hugo Järegård. Dennoch präsen­tierte Lars von Trier, der inzwi­schen an Parkinson erkrankt ist, bei den letzt­jäh­rigen Film­fest­spielen von Venedig eine – angeblich finale – dritte Staffel seiner Erfolgs­serie: Lars von Trier: Geister – Exodus. Denn ergeht es den »Geistern« und ihren einge­fleischten Fans nicht wie dem bade­man­tel­tra­genden Medium Sigrid Drusse und den anderen betagten Damen im Mehr­bett­zimmer für Kassen­pa­ti­en­tinnen, die das Zeitliche gesegnet haben? Aus dem soge­nannten Sweden­borg-Raum, einem nach dem schwe­di­schen Philo­so­phen Emanuel Sweden­borg benannten Zwischen­reich zwischen Leben und Tod, gibt es keinen wirk­li­chen Ausweg.

Die unter anderem von Stephen King hoch­ge­schätzte Serie The Kingdom hat stets mehr Fragen zwischen Himmel und Erde aufge­worfen, als sie beant­wortet hat. Und so beschäf­tigt das Serien-König­reich seine Fans bis heute, derart eigen­tüm­lich und/oder visionär sind die Themen, die in den Neun­zi­gern verhan­delt wurden: der Hochmut eines Neuro­chir­urgen, der einen Kunst­fehler vertuscht; Voodoo-Ritu­al­morde; ein aus der Patho­logie entwen­deter Kopf, mit dem ein liebes­kranker Chef­arzt­sohn die verfüh­re­ri­sche Leiterin des Schlaf­la­bors beein­dru­cken will; schwe­di­scher Größen­wahn, der auf dänische Minder­wer­tig­keits­ge­fühle trifft; Hahnen­kämpfe zwischen dem schwe­di­schen Star­chir­urgen Stig Helmer und dem völlig über­for­derten Abtei­lungs­leiter Moesgaard und seiner »Aktion Morgen­luft« oder anderen gutge­meinten Sozi­al­re­formen wie die Verbrei­te­rung von Türen für Roll­stuhl­fahrer, die zum Scheitern verur­teilt sind. Und tagen die Frei­maurer unter den Ärzten immer noch in einem der unzäh­ligen Keller­räume, stets im Zeichen der Eule der Minerva als Symbol der Wissen­schaft?

All diese ungelösten Fragen plagen ebenso die Schlaf­wand­lerin Karen (Bodil Jorgensen), nachdem sie die zweite »Geister«-Staffel im Fernsehen ange­schaut hat. Stunden später wird sie von einer myste­riösen Stimme ins Reichs­kran­ken­haus gerufen. Dort tritt sie mit größter Selbst­ver­s­tänd­lich­keit in die Fußstapfen von Sigrid Drusse (Kirsten Rolffes), der über­sinn­lich begabten Dame mit dem ebenso stark entwi­ckelten Eigen- wie Gerech­tig­keits­sinn und ihrem etwas tumben, aber hilfs­be­reiten Sohn Bulder, einem Kran­ken­pfleger. Die Patientin Drusse war es, die damals der kleinen Marie Gerech­tig­keit wider­fahren ließ, deren Geis­ter­stimme nur sie allein im Fahrstuhl vernehmen konnte. Marie, unehe­liche Tochter eines Kran­ken­haus­arztes, war von ihrem eigenen Vater Åge Krüger (Udo Kier) umge­bracht worden. Krüger kehrte als Dämon zurück und zeugte mit der Assis­ten­zärztin Judith ein weiteres Kind, das als riesen­hafter Fötus seiner Mutter gehörig zu schaffen machte: das »Brüder­chen«, dem wiederum Udo Kier seinen unbe­re­chen­baren Echsen­blick verlieh.

Nun ist aus dem »Brüder­chen« ein großer Bruder und Kran­ken­haus­pförtner geworden. Er droht an seinen eigenen Tränen zu ertrinken, was Karen verhin­dern will. Unter­dessen trifft auf der entrückten Chefetage der Schwede Dr. Helmer junior ein, gespielt von Mikael Pers­brandt. Er möchte die näheren Todes­um­stände seines Vaters heraus­finden, des genialen, selbst­herr­li­chen Star­chir­urgen Stig Helmer (Ernst-Hugo Järegårds letzte Para­de­rolle). Aus Angst vor Dieben nahm er die Radkappen seines Volvos ab, bevor er seinen Arbeits­platz betrat. Auf dem Dach schrie sich Helmer senior regel­mäßig seinen Frust über den Klein­geist der Dänen aus dem Leib: unver­gess­liche Szenen. Helmers damalige Kollegin und für seinen Geschmack zu aufdring­liche Freundin Rigmor (Ghita Norby) ist inzwi­schen selbst Patientin.

In den fünf Episoden der neuen Staffel, die jeweils eine knappe Stunde dauern, geht es unter anderem um das herrlich absurde »gender­ge­rechte« Bestreben, sämtliche Vornamen in den Pati­en­ten­akten zu streichen, um geschlechts­spe­zi­fi­scher Diskri­mi­nie­rung vorzu­beugen – Verwechs­lungen mit schwer­wie­genden Folgen garan­tiert. Und so huldigt Lars von Trier mit seinem einzig­ar­tigen phan­ta­sie­vollen Sarkasmus dem Geist des Ortes, auf dass dessen unerlöste Seelen auf ewig umher­gehen mögen – als Teufel alias Grand Duc ist William Dafoe mit von der Partie. »Ich kann nicht verspre­chen, dass es einfach oder blutarm werden wird, die sieben Reich­s­tore zu öffnen«, sagt der Regisseur. Stil­voller lässt sich der Nebel­monat November nicht einläuten.