Der Schüler

The Disciple

Indien 2020 · 129 min.
Regie: Chaitanya Tamhane
Drehbuch:
Kamera: Michal Sobocinski
Schnitt: Chaitanya Tamhane
Darsteller: Aditya Modak, Arun Dravid, Sumitra Bhave u.a.
Alles, was ein ganzes Leben ausmacht
(Foto: Netflix)

Götterdämmerung

Chaitanya Tamhanes Venedig-Drehbuchpreis- und FIPRESCI- Gewinner ist formal starkes, kluges und zärtliches Kino und ein großer Film über Musik und Hierarchien und die wichtigste Entscheidung im Leben

Am Rande des Brunnens oh Suchender
Sähte ich einen Tama­rin­den­samen
Auf dem Baum treiben Fische
Er wirft einen Schatten
Am Rande des Brunnens oh Suchender
Heiratete ein Reh
Am Rande des Brunnens oh Suchender
Es bekam fünf Rehkitze
Am Rande des Brunnens oh Suchender

– Text des abschließenden Ragas in The Disciple

Wie nur beginnen mit einem Text über einen Film, dem man sich jeden nur möglichen Zuschauer wünscht, dessen Thematik und Herkunft allein aber sehr vielen schon zu exotisch sein dürfte, um allein nur einen Versuch zu wagen? Viel­leicht mit dem Verspre­chen, dass Tamhanes Der Schüler mit einer Schluss­ein­stel­lung aufwartet, die so über­ra­schend wie schlüssig, so traurig wie schön, die in ihrer Ambi­va­lenz so meis­ter­lich, poetisch und subtil grausam ist, dass man sie sich nicht nur auf einem kleinen Bild­schirm zu sehen wünscht, sondern im größten Kino der Stadt.

Dabei ist das noch nicht alles, ist Tamhanes Film voll dieser Momente, die bei aller atem­be­rau­benden Stille und Schönheit, die diesen Film durch­fluten, immer auch eine Brechung wagen, um eine alte und doch ganz neue Geschichte zu erzählen, die eines zermür­benden Lehrer-Schü­ler­ver­hält­nisses im musi­ka­li­schen Umfeld, eines Verhält­nisses, das dem hier­ar­chi­schen und destruk­tiven Impetus der in Damien Chazelles Whiplash geschil­derten Lehrer-Schüler-Beziehung in nichts nachsteht.

Aber Tamhanes Film ist kein ameri­ka­ni­scher Film, sondern ein indischer Film, auch wenn Alfonso Cuarón (Roma) beratend zu Seite stand und mit Michał Sobociński ein polni­scher Kame­ra­mann für die so spek­ta­ku­läre (etwa die Aufnahmen in einem Mumbaier Chawl) wie lyrische (z. B. die Zeitlupe der leuch­tenden Werbe­ta­feln an der Straße am Chowpatty Beach) Kame­ra­ar­beit verant­wort­lich ist.

Nein, Tamhanes Film ist ein durch und durch indischer (Autoren-) Film, der mit Chazelles Whiplash nur die Musik im Zentrum gemein hat, und einen auto­ri­tären Lehrer, der seinem Zögling immer wieder die Grenzen aufzeigt. Die Musik bei Tamhane ist jedoch nicht west­li­cher Jazz, sondern die nord­in­di­sche Mogul-Variante des Raga, eine Spielart der indischen klas­si­schen Musik, bei der meist ein Sänger oder eine Sängerin in abwech­selnder Besetzung von Sitar, Tabla und Harmonium begleitet werden.

Tamhane führt uns in diese alte musi­ka­li­sche Tradition über die Mumbaier Gegenwart ein. Bei einem Konzert im kleinen Rahmen gleich zu Beginn des Films fährt Sobocińskis trance-artige, ganz im Rhythmus der Musik operie­rende Kamera jedoch am zentralen, alten Sänger (Arun Dravid) vorbei und fokus­siert auf den jungen Sitar­spieler Sharad (Aditya Modak), der seinen Meister bei seinem meis­ter­li­chen Spiel mit den Tonarten immer wieder nickend und lächelnd bestätigt. Wir sehen damit von der Ober­fläche alles, was wir wissen müssen. Wir sehen die bildungs­bür­ger­liche Elite Mumbais, die sich ihre kultu­relle Tradition zu leisten bereit ist, und wir sehen und hören diese Tradition und ahnen bereits durch die Kame­ra­ein­stel­lung und das Spiel der Prot­ago­nisten die hier­ar­chi­schen Struk­turen des Lehrer-Schü­ler­ver­hält­nisses, das dahinter steht.

In den folgenden zwei Stunden entfaltet sich dieser Moment nicht nur zeitlich in alle Rich­tungen. Wir wissen bald, dass Sharads Meister erwartet, dass Sharad bis mindes­tens 40 nicht heiraten, sondern sich ganz der Musik hingeben sollte, und wir begleiten Sharad in diese Zukunft, sehen ihn und seinen Meister altern und ihn vor Pornos am Bild­schirm mastur­bieren statt eine Familie zu gründen. Und wir sehen Sharad in seine eigene Vergan­gen­heit reisen, sehen ihn als das Kind seines Raga-begeis­terten Vaters, der an weit entfernte Orte reisen muss, um Frei­licht­kon­zerte zu besuchen, die genau so insze­niert sind, wie es etwas der große Mumbai- und Marathi-Autor Kiran Nagarkar auch erzählt hat: stunden- manchmal tage­langes Sitzen, Zuhören und musi­ka­li­sche Tradition inha­lieren und lernen. Tahame schildert diese Kindheit so wie das Leben: als Pein, aber auch als erfül­lende und ewige Suche nach dem authen­ti­schen Ausdruck der eigenen Stimme. Der weibliche Raga-Guru von Sharads Vater ist auch der Guru von Sharads Guru, ein Gespenst, das sich über abge­spielte Tonband­auf­nahmen, die Sharad während seiner nächt­li­chen Motor­rad­fahrten durch Mumbai hört, immer wieder in den Vorder­grund drängt. Und die großar­tige Stimme, gespro­chen von der erst vor wenigen Wochen verstor­benen Filme­ma­cherin Sumitra Bhave, erklärt immer wieder, warum Sharad die Bürde dieses Schü­ler­da­seins auf sich nimmt, denn wenn allein schon die gespro­chene Stimme ein derar­tiges Halbgott-Charisma entfalten kann, wie muss es dann erst um die gesungene Variante bestellt sein.

Aber wir sehen gegen diesen Glauben an eine höhere Sache immer wieder die Realität geschnitten, den Fluss der Zeit mit seinen Strom­schnellen, der Sehnsucht nach Ruhm und finan­zi­eller Sicher­heit, die Sharad ähnlich stark verun­si­chern wie Joe Gardner in Pete Doctors und Kemp Powers Soul. So wie Joe wird sich auch Sharad noch einmal neu besinnen, als er reali­siert, dass selbst sein Guru um Honorare geprellt wird und außerhalb der Raga-Blase kaum ernst­ge­nommen wird, sondern einfach nur ein krän­kelnder alter Mann in einem der vielen Shawls von Mumbai ist.
Sharad reali­siert aber auch, dass er in seinem Opferd­uktus übersehen hat, dass die Dinge sich ändern müssen, um die gleichen bleiben zu müssen, dass die Musik – so anders als er und sein Umfeld – sich über musi­ka­li­sche Fusion-Modelle und TV Shows zu etwas ganz Neuem entwi­ckelt hat, in dem brah­ma­ni­scher Ethos keinen Platz mehr hat und Teile dieser Tradition unwi­der­ruf­lich in Verges­sen­heit zu geraten drohen, und damit die Bedeutung von Tradition, Kunst und ihre Entste­hung in ihren Grund­festen hinter­fragt wird.

Wie Sharad dennoch im letzten Moment dem eigenen Schicksal, seiner Bestim­mung, seiner Sozia­li­sa­tion entkommt, ist ein großer Augen­blick, bricht er doch mit seinem bishe­rigen Leben genau in dem Moment, als er viel­leicht das erste Mal zu gesangs­tech­ni­scher, voll­kom­mener Authen­ti­zität findet. Ein Moment, der auch deshalb so über­zeu­gend und über­ra­schend ist, weil Tamhane mit der Erwar­tungs­hal­tung der Zuschauer nach einem weiteren musi­ka­li­schen Erfolgs-Biopic bricht. Umso mehr, als gerade hier, wie so oft in Tamhanes Film, deutlich wird, dass Tamhane nicht nur 18 Monate ausgie­bige Recher­chen geleistet hat, sondern sich fast ebenso lang Zeit für sein Casting genommen hat und nicht gut singende Schau­spieler, sondern vor allem gut spielende und hervor­ra­gende Sänger gefunden hat, die seinen Film auch zu einem musi­ka­li­schen Erlebnis machen.

Und dann kommt das Ende, ein weiterer Moment ganz im Rhythmus der Stadt. Wir stehen mit Tamhane und Sobocińskis alles umfas­sender, alles aufsau­gender Kamera am späten Abend in der Mumbaier Metro und fahren stadt­aus­wärts. Die Kamera erfasst Sharad rechts im Bild, dann tritt ein Raga-Straßen­mu­siker mit einer einfachen, lauten­ar­tigen Handsitar ins linke Bild und geht spielend durch die Wagons und singt, geht auch an Sharad vorbei, der wegblickt, ihn keines Blickes würdigt, aber gleich­zeitig erkennen muss, dass der Raga wohl doch noch lebt, auch ohne ihn und vor allem in einem Umfeld, von dem er und alle Gurus vor ihm es wohl kaum erwartet hätten, in der verach­teten, verarmten Subkultur Mumbaier Straßen­künstler.
Dieser Moment verkör­pert alles, was ein ganzes Leben ausmacht, ist Trauer, ist Schönheit, ist Hoffnung, aber auch Verderben, hier verschmelzen gesun­gener Text und gefilmte Erzählung zu einer Symbiose von umwer­fender Erkenntnis und radikaler Schönheit.

Der Schüler ist seit dem 30. April auf Netflix abrufbar.