La Chimera

Italien/F/CH 2023 · 133 min. · FSK: ab 12
Regie: Alice Rohrwacher
Drehbuch: , ,
Kamera: Hélène Louvart
Darsteller: Isabella Rossellini, Josh O'Connor, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Carol Duarte u.a.
Eintauchen in die Volkstümlichkeit
(Foto: Piffl)

Das Leben ein Trugbild

Alice Rohrwacher erzählt im letzten Teil ihrer Italianità-Trilogie von versunkenen Schätzen und Träumen

Immer wieder die Bilder einer blonden Frau, die ins gleißende Licht blinzelt. »Hast du bemerkt, dass uns die Sonne folgt«, sagt sie, dann verschwindet ihr Bild. Fahr­kar­ten­kon­trolle. »Das Ende Ihres Traumes werden Sie nie erfahren«, sagt der Schaffner zu Arthur. Der Engländer reist mit dem Zug in einen kleinen Ort in der Toskana, wo er mit Beniamina, so heißt die Frau aus dem Traum, zusam­menwar. Sie ist seine Schimäre, die er verloren hat und der er nach­trauert, wie ein Trugbild ist sie nicht wirklich existent und trotzdem sinn­stif­tend. Es wird eine phan­tas­ma­go­rische Reise in eine versun­kene Zeit.

La Chimera ist der dritte und letzte Teil von Alice Rohwa­chers Italia­nità-Trilogie, nach Land der Wunder (2014) und Glücklich wie Lazzaro (2018). Man kann ihr eine gewisse Nostalgie vom einfachen Leben und den Glauben an die anar­chi­sche Kraft der Unter­drückten attes­tieren. Sie macht ein wenig verklä­rende und dadurch tatsäch­lich zum sehn­süch­tigen Träumen einla­dende Erin­ne­rungs­filme, die in einer sehr sinn­li­chen, medi­en­freien Welt spielen, mit Männern wie aus einem Pasolini-Film und selbst­be­wussten Frauen, die weder singen können noch bügeln, sich lieber betrinken. Alice Rohr­wa­cher und ihre Schwester Alba, die Schau­spie­lerin, die in La Chimera eine kleine, aber zentrale Rolle über­nommen hat, sind selbst in der Toskana aufge­wachsen. Die Acht­zi­ger­jahre, in denen die gesamte Trilogie spielt, ist die Zeit ihrer Kindheit, Italien ist von hoher Arbeits­lo­sig­keit und Inflation getroffen, die Menschen leben in Armut. Im Film sehen wir an der Stadt­mauer die Well­blech­hütten.

Es ist aber auch die Zeit, als die Gesell­schaft noch nicht abstrakt war, das Dorfleben einen noch mit den Menschen zusam­men­brachte und diese voller Geschichten und Witz waren. Arthur, der Engländer, mit viel Melan­cholie von Josh O’Connor verkör­pert, ist ein Fremder und dennoch fest in der Dorf­ge­mein­schaft verankert. Er hat eine besondere Gabe, weshalb sich die orts­an­säs­sigen Halb­starken und Klein­kri­mi­nellen um ihn scharen: Mit seiner Wünschel­rute kann er die 2000 Jahre alten Gräber der Etrusker aufspüren, Vorfahren der Toskaner, die den Toten reiche Schätze mit auf den Weg ins Jenseits gaben – eine Schimären-Statue soll auch dabei gewesen sein. Arthur aber geht es vor allem um den Eingang zur Unterwelt, wo er Beniamina vermutet. Sie wird gespielt von Yile Yara Vianello, die schon als Drei­zehn­jäh­rige in Rohr­wa­chers Spiel­film­debüt Corpo Celeste (2011) die Haupt­rolle hatte. Hier entrollt sie als Schimäre einen Ariadne-Faden und ist auch für Rohr­wa­cher Inbild der Erin­ne­rung.

Aus den immer wieder ins Gegen­licht gefilmten Bildern, die wie die anderen Teile der Trilogie von Hélène Louvart auf grob­kör­nigem 16- und 35mm-Film­ma­te­rial gebannt wurden, kontu­riert sich allmäh­lich ein volks­tüm­li­ches Heist-Movie. Der Einbruch in die Gräber, die Bergung der Schätze, die Blödheit der Räuber und die List der Bande, die einem ominösen Boss gehorcht, lassen eine märchen­hafte Genre-Folklore entstehen. Dass die Femme fatale diesmal eine Schimäre ist, macht alles nur noch schöner.

Der Film ergreift Partei für die Armen und zeigt den begin­nenden Ausver­kauf der italie­ni­schen Schätze an Inves­toren und Sammler. Das ist der reale, harte Hinter­grund, den Alice Rohr­wa­cher mit ihrem verträumten Film auch deutlich bean­standet. Auch der Adel ist, wie in Glücklich wie Lazzaro, verarmt. In einem herun­ter­ge­kom­menen Palast trifft Arthur auf die alte Flora, der Isabella Rossel­lini mit großer Lust Gebrech­lich­keit verleiht; sie ist die matriachale »Mama« vieler Töchter, die auf Beniamina, die verschwun­dene Schwester, von der alle Welt spricht, neidisch sind. Als Haus­an­ge­stellte hält sich Flora die junge Italia (Carol Duarte), die, wie der Name sugge­riert, mehr Allegorie als Figur ist, sie ist eine Anspie­lung an die Unter­drü­ckung des Landes durch über­kom­mene, feudale Struk­turen.

La Chimera zeigt auch eine quasi-doku­men­ta­ri­sche Illusion: Die Figuren verlieren sich immer wieder in authen­ti­schen Szenen toska­ni­scher Bräuche und in der Gemein­schaft der immer auch ein wenig ver- und entrückten Menschen. Alice Rohr­wa­cher taucht tief ein in die italie­ni­sche Historie und birgt selbst wie eine Schatz­su­cherin die verbor­genen Geschichten und Sehn­süchte. Das ergibt einen durch und durch magischen Film über den desolaten Zustand eines Landes, der auch vor der Gegenwart nicht haltmacht.

Unter den Straßen das Grab

Trugbilder wie wir: Alice Rohrwachers wunderbarer Film La Chimera und die Öffnung des Kinos zum Leben

Chimären, das sind jene antiken Misch­wesen aus Tier und Mensch, Geschwister der Sphinx und der Hydra; es sind aber auch verbotene gene­ti­sche Kreu­zungen und ganz allgemein meint der Begriff Trug­bilder.

Um die geht es hier vor allem: Anfangs fährt ein Zug durch eine Ebene, die wir schnell als »italie­nisch« erkennen. Es ist ein altmo­di­scher Zug. Das Ganze muss in den späten 70er oder frühen 80er Jahren spielen. Autos und Kleidung passen unauf­dring­lich in diese Zeit; es gibt nichts Digitales und man kann Fußbälle bemerken, die das Logo der Fußball-WM aus dem Jahr 1982 tragen.

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Zu den Eröff­nungs­credits läuft Musik von Monte­verdi: Der »Orpheus« des Kompo­nisten durch­zieht den Film wie ein Ariad­ne­faden und gibt das Sujet vor: Eine Heim­keh­rer­ge­schichte und eine wunder­same Komödie. Diesmal sind es vor allem Frauen, die mit Gesang zu tun haben, was das alles genau bedeutet, löst sich erst mit der Zeit auf. Die Haupt­figur aber ist ein Mann. Dieser Arthur (gespielt von Josh O’Connor, dem »Prinz Charles« der Serie »The Crown«) ist ein Ausge­stoßener aus eigenem Willen, und ein Ausländer, vor allem ein moderner Orpheus auf der Suche nach seiner Eurydike.
Diese seine Chimäre heißt Beniamina. Das aus unbe­kannten Gründen verlorene Mädchen hat von ihm Besitz ergriffen und ist zu einem abstrakten Ideal geworden, das ihn in der Gegenwart lähmt, weil er von ihr nicht lassen kann.

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Zu Beginn sitzt Arthur im Zug, und träumt – wir können es sehen – von einer jungen Frau. Vermut­lich ist es jene Beniamina. Unsanft wird er aus seinen schönen Träumen gerissen.

Weil er wie Orpheus eine privi­le­gierte Verbin­dung zur Unterwelt hat, besitzt Arthur auch das mythisch-poetische Talent, mit Hilfe einer Wünschel­rute alte Gräber aufzu­spüren. So reist er in die Toskana, zurück zum Heimatort von Beniamina, wo deren Mutter mit ihren Töchtern auf einem zu atem­be­rau­bender Schönheit verfal­lenen Adels­pa­last lebt. Sie ist eine charmante Frau voller Groß­zü­gig­keit und Vers­tändnis, aber als Angehö­rige ihrer Klasse eben auch eine zynische Ausbeu­terin, deren Dienerin nicht zufällig »Italia« heißt.
Sie befindet sich in einer Welt, die komplett im Verfall begriffen ist, von der nur noch Reste übrig sind, und die doch von großer Behar­rungs­kraft ist. Sie wird von Isabella Rossel­lini gespielt – und so haben wir die Tochter der Schwedin Ingrid Bergman und des italie­ni­schen Neorea­listen Roberto Rossel­lini noch nie gesehen: Mit weißen Haaren macht sie sich und uns einen Spaß daraus, künstlich zu altern.

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Alles geschieht irgendwo im Westen der Toskana, in Blera und an anderen Orten, denen die Geschichte einge­schrieben ist. Die Gräber der Etrusker sind hier zahlreich, das Meer liegt nahe – an diesem Ort versam­melt Arthur eine Gruppe von schrägen Figuren um sich, arme Bauern und Dorf­trottel, groteske Körper, die aus einem Fellini-Film stammen könnten und sich als Grab­räuber verdingen.

So führt die Regis­seurin Alice Rohr­wa­cher en passant auch eine Debatte um die Rolle der Kunst. Haben die Armen nicht das Recht, sie zu stehlen, um ihre elemen­taren Bedürf­nisse zu stillen? Oder darf Kunst nicht zur Ware werden, sondern muss auf Marmor­so­ckeln angebetet werden?

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Im Film liegt die eigent­liche Gegenwelt zum Adels­pa­last in einem verlas­senen Bahnhof, der von Frauen und Kindern gekapert und zu einer jener utopi­schen Soli­dar­ge­mein­schaften umgebaut wurde, wie sie die Regis­seurin liebt.
Ein Bürgertum gibt es nicht, weil es die Regis­seurin nicht inter­es­siert – es gibt nur Oben und Unten.

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Alice Rohr­wa­cher ist eine Regis­seurin des Magischen Natu­ra­lismus. Ihr Kino – zuvor Land der Wunder und Glücklich wie Lazzaro – arbeitet sich am obskuren Auftau­chen des Heiligen im Alltäg­li­chen ab, Utopi­sches tritt neben Ruinen, Heiliges neben Profanes, alles ist beiläufig.
Rohr­wa­cher zeigt Folklore: Dorffeste, Umzüge, Trink­feste, Tänze und volks­tüm­liche Balladen, aber eben auch eine Reise in den Hades, zu den Tempeln der Etrusker.
Ein Straßen­umzug, Wein, Volks­kunst, Karneval, man denkt an Fellini, man denkt an Pasolini. Eine Einfach­heit, ein grund­sätz­li­cher Natu­ra­lismus durch­zieht diesen Film. Karneval und Zirkus ist dieser Film.

Immer wieder passiert irgend­etwas Wunder­bares, was den Film völlig verändert: Zum Beispiel die Musik: Kraftwerk, Mozart, Schlager und Monte­verdi. Zum Beispiel diese wunder­baren Räume, zum Beispiel die pasto­ralen Land­schaften.

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Roberto Rossel­lini sagte einmal, dass er jedes Mal, wenn er seine Kamera auf die Straßen Roms richtete, das feste Gefühl hatte, dass sich hinter dem Sicht­baren etwas verbarg. Rossel­lini sprach von den vielen Schichten, die sich hinter und unter den Straßen der Stadt verbergen, von den Zivi­li­sa­tionen, die vom Beton verdeckt werden, und von den alten Welten, die in die Gegenwart hinein­ragen, in Rom allemal.

Unterhalb des aris­to­kra­ti­schen Palastes, in dem eine der Zwil­lings­töchter von Rossel­lini, eben Isabella, in diesem Film lebt, gibt es die unge­sunden slum­ar­tigen Behau­sungen der Armen, der Enterbten des Systems, des Lumpen­pro­le­ta­riats.

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Rohr­wa­cher hat in drei verschie­denen Formaten gedreht: 35-mm für die Totalen, ansonsten Super16 und 16-mm. Im Ergebnis ein eigen­wil­liger unver­gleich­li­cher Stil, ein Zwielicht-Film zwischen dem Kino-Heiligen und dem Profanen, zwischen Naivität und sprühender Intel­li­genz und Poesie.

Der Regis­seurin ist ein benei­dens­wert offener und dennoch immer souverän geführter, kontrol­lierter Film geglückt. Ihr gelingt die Öffnung des Kinos zum Leben, weg von allen Forma­tie­rungen.

Es wird viel geraucht, es wird viel getrunken. Dies ist auch ein groß­bür­ger­li­ches, souver­änes Kino; ein Kino gegen Spießig­keit und Puri­ta­nismus der Gegenwart. Manchmal sprechen Figuren in die Kamera. Pilo­tinnen ist nichts verboten.

Die Schau­spie­lerin Alba Rohr­wa­cher, Schwester der Regis­seurin, spielt eine zynische Kuns­thänd­lerin. Einmal sagt sie zu Arthur: »Du kannst dich so dreckig anziehen wie du willst, aber du wirst nie etwas anderes sein, als das was du bist. Ein Kind deiner Klasse.«

Ein wunder­barer Film.