Anatomie eines Falls

Anatomie d'une chute

Frankreich 2023 · 151 min. · FSK: ab 12
Regie: Justine Triet
Drehbuch: ,
Kamera: Simon Beaufils
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado-Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis u.a.
Entspannter Top-Star: Sandra Hüller
(Foto: Plaion Pictures/Wild Bunch/Central)

Wirklichkeitskrise

In Justine Triets Gerichtsfilm Anatomie eines Falls wird über die Wirklichkeit selbst verhandelt, mit einer sublimen Sandra Hüller

Diese Musik­stücke wird man nicht mehr aus seinem Kopf kriegen. Mit einer mächtigen Instru­men­tal­ver­sion von 50 Cents »P.I.M.P.« hebt der Film an. In Endlos­schleife und ohren­be­täu­bend legt es sich über den Auftakt von Justine Triets Anatomie eines Falls, als kraft­voller Gegen­spieler von Sandra, der Schrift­stel­lerin, die sich im Wohnraum ihres Chalets eigent­lich von einer Studentin inter­viewen lassen will. Ihr Mann hat die Musik im oberen Stockwerk auf volle Laut­stärke gedreht. Später wird ihr sehbe­hin­derter Sohn Daniel, elf Jahre alt, auf dem Klavier immer wieder dazu ansetzen, Isaac Albéniz’ »Suite Española« zu spielen. Die Töne verhas­peln sich, er stockt, er beginnt von vorne, zu sehr im Stakkato, zu schnell, immer wieder.

Wegen der ohren­be­täu­benden Musik vertagt Sandra schließ­lich das Interview. Sandra Hüller spielt diese Sandra, sie trägt den Film vom ersten Moment an, wirkt sehr natürlich, tiefen­ent­spannt, wenn sie alle Facetten ihrer Mimik zeigt, lässige Belus­ti­gung ausstrahlt. Das Authen­ti­sche, das Hüller für ihre Figur trans­por­tiert, wird entschei­dend sein für die ernste Tonlage, die der Film später einschlägt, wenn sie sich vor Gericht behaupten muss. Und das hat viel­leicht auch über die Goldene Palme entschieden, die der Film in Cannes gewann, nur eine von zwei Preisen, die an die beiden Filme mit Sandra Hüller im Wett­be­werb gingen (neben Anatomie eines Falls erhielt Jonathan Glazers The Zone of Interest die zweit­wich­tigste Auszeich­nung, den Grand Prix).

Nachdem Sandra, die Schrift­stel­lerin, die Studentin hinaus­be­gleitet hat, sieht man, wie der Sohn mit seinem Hund Snoop (der mit der Dog Palm belohnt wurde) das Haus verlässt, anschei­nend für einen Spazier­gang in der Sonne. Als er zurück­kommt, ist etwas passiert. Samuel, Sandras Mann, liegt im Schnee vor dem Haus, unter seinem Kopf eine Blutlache. Daniel ertastet ihn und wird später wie der blinde Seher aus dem Mythos die Betei­ligten zum tatsäch­li­chen Kern des Gerichts­pro­zesses führen. Sandra ist angeklagt, Samuel mit einem Gegen­stand auf den Kopf geschlagen und seinen Tod herbei­ge­führt zu haben. Präzise Reenact­ments am vermeint­li­chen Tatort sollen die Beweise erbringen. Vom Tod seines Vater bis zum Ende des Prozesses wird Daniel immer und immer wieder versuchen, das Stück von Albéniz auf dem Klavier zu spielen. Ganz als gelte es, die Wirk­lich­keit zu beherr­schen. Wenigs­tens ein bisschen.

Die Musik versetzt den Film in eine von Emotionen durch­drun­gene Sphäre, die dann wieder vom analy­ti­schen Sezier­messer der Gerichts­ver­hand­lung und der Wahr­heits­fin­dung durch­schnitten wird. Messer­scharfe Logik und eine Rhetorik, in der jedes Wort sitzt, konter­ka­rieren die tastende Suche nach der uner­gründ­li­chen Wahrheit, die bis zum Schluss des Films nicht belastbar wird. Weder gibt es hier die eine Rück­blende, die Verläss­lich­keit über die Gescheh­nisse herstellen könnte, noch sind die Figuren eindeutig kontu­riert, als gut oder böse, als schuldig oder unschuldig. Vor Gericht, wo der Film über weite Strecken spielt, werden neben dem möglichen Tather­gang auch die Moral verhan­delt und subtil Vorur­teile gegenüber der Fremden, der deutschen Schrift­stel­lerin ausge­spielt. Sandra hat ihren Mann, den Einhei­mi­schen, der an den Ort seiner Kindheit zurück­ge­zogen ist, immer wieder betrogen, mit Männern wie mit Frauen. Eine grund­sätz­liche mora­li­sche Unauf­rich­tig­keit haftet ihr also an, die ihre Aussagen tönern machen. In den Augen der Anklage ist sie, was Foucault das Monströse, das Anormale genannt hat, eine, die nicht nur die Gesetze der Gesell­schaft, sondern auch der Natur über­treten hat. »Ich bin kein Monster«, sagt Sandra zu ihrem Sohn, als sie von einem aufwüh­lenden Gerichtstag nach Hause zurück­kehren.

Das alles erinnert an Otto Premin­gers Anatomie eines Mordes, auf den sich nicht nur Triets Titel reimt. Auch hier wird eine verkrustet-verklemmte gesell­schaft­liche Moral vor Gericht verhan­delt, auch hier wird von der Staats­an­walt­schaft eine Frau in ihrer Schuld umkreist. Hat sie ihre eigene Verge­wal­ti­gung provo­ziert? Geschah der Mord durch den Ehemann aus Eifer­sucht, Kalkül oder aus einer mentalen Störung heraus? Der Tather­gang bleibt bei Preminger am Ende offen.

Auch bei Triet wird die Ehe von Sandra und ihrem Mann vor Gericht verhan­delt. Der Staats­an­walt, in scharf­sin­niger Brillanz von Antoine Reinartz verkör­pert, bringt immer neue Fragmente einer zerrüt­teten Liebe zum Vorschein, die Triet sehr elegant in Rück­blenden überführt. Nicht aber die Frage: »Was ist passiert?« wird hier gelöst, vielmehr lenkt sich der Blick auf eine Wirk­lich­keit, die in ihrem Wahr­heits­ge­halt ohnehin proble­ma­tisch ist. Denn Sandra und Samuel (gespielt von Samuel Theis) sind beides Schrift­steller, die ihre Fiktionen dem echten Leben abringen, und dem, was sie selbst für das Reale halten – dass die Figuren wie ihre Schau­spieler heißen, über­schreitet ebenfalls viel­sa­gend die Schwelle zwischen dem Realen und Fiktio­nalen. Samuel soll nach einer Schreib­krise mühevoll nach neuem Material für eine Geschichte gesucht und dafür mit seinem Handy Gespräche mit seiner Frau aufge­zeichnet haben. Hat er den heftigen Streit, der jetzt im Gerichts­saal zu hören ist, nur provo­ziert, um ihn später in einem Roman zu verar­beiten? Und wie stark mag seine Verlet­zung gewesen sein, weil Sandra von ihm eine Idee für einen Roman über­nommen hatte?

Der Zugriff auf die Realität durch die Fiktion und umgekehrt ist ein Thema, das Justine Triet bereits in ihrem letztem Film Sibyl inter­es­sierte. Im Drehbuch, das sie, wie jetzt auch, zusammen mit Arthur Harari schrieb, geht es um eine Psycho­the­ra­peutin, die die Erzäh­lungen ihrer Patienten für ihre eigenen Romane ausnutzt. Wirkte das dort aber noch plump und bediente es einen relativ schlichten Voyeu­rismus, fügt sich in Anatomie eines Falls die Exploita­tion des Realen durch die Fiktion völlig organisch in die Handlung ein – und reißt trotzdem die großen philo­so­phi­schen Fragen auf. Ob wir jemanden geliebt haben oder nicht, ist vor Gericht nicht verhan­delbar. Und mehr noch: Wenn die Fiktion vom Realen durch­drungen wird und das Reale in die Fiktion eindringt, werden sie beide unun­ter­scheidbar und unbe­stimmbar. So schwebt der Film gleichsam über seinem Prozess, den er erzählt: Denn um diese Gemenge­lage von Realem und Erdachtem geht es in unserem Leben.

Mutmaßungen über Sandra und Samuel

Justine Triets Cannes-Gewinner ist eine so leidenschaftliche wie kluge Sezierung einer Beziehung und stellt mit subtiler Dramatik und politischem Kalkül die Frage, wie Wahrheit funktioniert

»Wie aber verträgt sich ein Ding wie Unbe­schol­ten­heit mit der bewun­derns­werten Vielzahl von Ereig­nissen in dem Raum der Zeit? Denn eines begibt sich nach dem anderen und bedeutet dies in Gegensatz zu jenem und ist unwie­der­bring­lich dahin in die Zeit: ob einer das beachtet oder nicht, ob er es wünscht oder gutheißt oder es am Ende doch lieber zurück­nehmen möchte.«
– Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob

»4. Two or more meanings that do not agree but combine to make clear a compli­cated state of mind in the author.
6. When a statement says nothing and the readers are forced to invent a statement of their own, most likely in conflict with that of the author.«

– William Empson, Seven Types of Ambiguity

Es ist eine im Kern einfache Geschichte, eigent­lich nicht viel anders als Uwe Johnsons Reka­pi­tu­la­tion über den gewalt­samen Tod von Jakob in seinem Klassiker »Mutmaßungen über Jakob«. Auch in Justine Triets Anatomie eines Falls stirbt ein Mann und wie bei Johnson entscheidet der Blick darüber, ob es eine einfache Geschichte bleibt oder ob es eine kompli­zierte Geschichte wird und sich damit dem Anspruch einer absoluten Wahrheit mehr und mehr entzieht.

Bei Triet ist es aller­dings von vorne­herein schon eine kompli­zierte. Denn als Samuel (Samuel Theis) aus dem Fenster seines Chalets in den fran­zö­si­schen Alpen fällt und stirbt, ist er nicht allein wie Jakob, sondern seine Frau Sandra (Sandra Hüller) ist im Haus und ihr elfjäh­riger blinder Sohn Daniel (Milo Machado Graner) gerade mit seinem Blin­den­hund spazieren. Es folgen die üblichen Schritte des Rechts­staats wie Beweis­auf­nahme und Zeugen­be­fra­gungen und schließ­lich ein Gerichts­pro­zess. Denn Sandra wird verdäch­tigt, Samuel aus dem Fenster gestoßen zu haben. Was die Dinge noch einmal kompli­zierter macht, ist Sandras Beruf. Sie ist eine bekannte Schrift­stel­lerin, die zum auto­fik­tio­nalen Schreiben tendiert; der Prozess ist also auch ein Prozess darüber, was Literatur und Leben unter­scheidet oder nicht unter­scheidet. Und es ist ein Prozess vor und mit der Öffent­lich­keit und ihren Mutmaßungen über die Wahrheit einer Beziehung und gleich mehrerer Lebens­li­nien.

Doch Justine Triet, die das Drehbuch für Anatomie eines Falls zusammen mir ihrem Lebens­partner, dem Schau­spieler, Regisseur und Dreh­buch­autor Arthur Harari geschrieben hat, setzt weitaus mehr als nur einen Gerichts­film in Szene. Wie ein präzises Räderwerk, dessen neue Räder und Funk­tionen erst mit jeder neuen Szene sichtbar werden, entwi­ckelt Triet eine immer komple­xere Bezie­hungs­ge­schichte, schlägt wie eine Bild­hauerin im Schaf­fens­pro­zess Stein um Stein ab, um neue Facetten des porträ­tierten Charak­ters bloß­zu­legen. Sie zeigt eine in ihrem künst­le­ri­schen Beruf erfolg­reiche Frau, die wie Cate Blanchett in Tár unter ihrem Erfolg leidet, weil der Erfolg die privaten Bezie­hungen zu ihrem Mann und ihrem Sohn verändert. Und sie zeigt einen Mann, der von Schuld zerfressen wird, und ein Kind, das wie in Peter Weirs Der einzige Zeuge die entschei­dende Instanz zur Wahr­heits­fin­dung sein könnte. Doch auch das ist, wie schon ange­deutet, kompli­ziert, denn Daniel ist blind und war spazieren, hat die Eltern aber vor seinem Spazier­gang noch reden hören oder war es doch ein Streit, wie die Ermittler glauben?

Und was glaubt eigent­lich Sandras Straf­ver­tei­diger Vincent (Swann Arlaud), ein Freund aus alten Tagen, der Sandra rät, weniger ihren Anspruch auf die Wahrheit zu sehen, als wie sie diese Wahrheit und sich selbst in der Öffent­lich­keit reprä­sen­tiert? Wie kompli­ziert das Leben ist, wird einem ja sowieso erst dann klar, wenn man darüber nachdenkt, darüber spricht oder schreibt – in Triets dichtem Drama fließen alle Rezep­ti­ons­ebenen mit ihren zahllosen Seiten­armen immer zügiger in einen Mahlstrom zusammen, der irgend­wann tatsäch­lich das ganze Leben mit sich zu reißen scheint. Nicht nur die Liebe von Seelen­ver­wandten rauscht hinab, sondern auch die Abgründe eines Paares wie in Bergmans Szenen einer Ehe werden sichtbar. Und ein finaler, aggres­siver Streit, der wie Juliette Binoche und Vincent Lindon in Claire Denis’ Mit Liebe und Entschlos­sen­heit den Abgrund noch einmal tiefer erscheinen lässt. Doch anders als bei Denis hören wir diesen Streit zu Anfang nur, gibt es nur einen Audio­mit­schnitt, den Samuel ange­fer­tigt hat, um über diese und andere Alltags­auf­nahmen endlich seinen eigenen Roman zu schreiben zu können. Aber auch die so eindeutig erschei­nende Tonauf­nahme verliert ihre Aussa­ge­kraft, als sie durch Bilder und sie beglei­tende Narrative unterlegt wird.

Triet insze­niert diesen Streit über die Tonauf­nahme so souverän wie jedes so leise wie intensiv tickende Voran­schreiten ihres emotio­nalen Räder­werks und macht einmal mehr deutlich, dass das, was auch große Kunst ausmacht – die sieben Seiten der Wahrheit – auch das große Leben definiert, wir am Ende nichts und doch alles wissen, es am Ende um unsere indi­vi­du­elle Entschei­dung geht, sich für das über­zeu­gendste Narrativ zu entscheiden.

Das ist durchaus als Kritik am Fakti­schen gemeint, doch ist es alles andere als »post­fak­tisch«, liegen jedem Narrativ hier ja valide Fakten zugrunde. Es geht vielmehr um die Form. Damit entfernt sich Triet auch sehr weit von Margarete von Trotta und ihrer vor zwei Wochen in den Kinos gestar­teten Ingeborg Bachmann-Exegese, in der es ebenfalls um ein Schrift­stel­ler­paar und einen Kampf um das Überleben in der Beziehung ging und Trotta sich sehr schnell für eine Seite, für die »offen­sicht­liche«, tenden­ziöse Wahrheit entscheidet. Und gegen die Möglich­keiten narra­tiver Komple­xität, die Triet einfor­dert und damit auch ganz nah bei Samira El Ouassil und Frie­de­mann Karig ist, die gemeinsam und ein wenig expe­ri­men­tell in ihrem Podcast Pira­ten­sender Powerplay, aber noch in ihrer schrift­li­chen Reflexion Erzäh­lende Affen die Bedeutung von narra­tiven Denk­struk­turen nicht nur für unsere Gegenwart heraus­strei­chen.

Bei all den asso­zia­tiven Räumen, die Triets groß­ar­tiger Film eröffnet, sei aller­dings noch einmal betont, dass wir es hier nicht nur mit einem Meta-Gerichts­film zu tun haben, sondern auch mit einer groß­ar­tigen, hyper­realen Beschrei­bung von Bezie­hungs- und Alltags­rea­lität, die ganz nebenbei auch die bekannten, tradi­tio­nellen Rollen­muster austauscht, der Mann fast in allen Belangen das darstellt und lebt, was sonst die Frau ist.

Es ist eine relative Realität, die von einer umwer­fenden Sandra Hüller so filigran und immer wieder furcht­ein­flößend und erschüt­ternd erspielt wird, die von dem fantas­ti­schen Kinder­schau­spieler Milo Machado Graner so zurück­hal­tend wie neugierig hinter­fragt und von dem übrigen Ensemble zu einem fantas­ti­schen Ganzen in den erzäh­le­ri­schen Raum gewuchtet wird, dass man sich bereits lange vor dem Ende wünscht, die Anatomie eines Falls möge noch länger als die an sich ja schon langen 151 Minuten dauern.

Wohltemperierter Zerfall der modernen Familie

Szenen einer Ehe: Sandra Hüller glänzt als kühl-zwielichtige Künstlerin und Mutter in Justine Triets Anatomie eines Falls

»Ich bin unschuldig, das weißt du oder...?«
- Aus dem Film

Wir wissen gar nichts. Es könnte sich um einen Unfall, um Selbst­mord, aber auch um Mord handeln. Oder um einen MacGuffin, einen drama­tur­gi­schen Trick, den die Regis­seurin in irgend­einer Dreh­buch­werk­statt beigebracht bekommen hat.
Das Ergebnis ist ein What­hap­pened-Szenario, bei dem sich der Autor dieses Textes manchmal bei der Frage ertappte, wie stark ihn das alles inter­es­siert. Und ob überhaupt. Und warum denn...?

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Der Haupt­zeuge ist ausge­rechnet ein sehbe­hin­dertes Kind – und trotzdem ist der vierte Spielfilm der fran­zö­si­schen Regis­seurin Justine Triet keines­wegs ein klas­si­scher Krimi­nal­film. Bei den Film­fest­spielen in Cannes gewann Anatomie eines Falls im Mai über­ra­schend die Goldene Palme.

»Anatomie« – dieser Begriff im Titel ist nicht zufällig gewählt: Das Konzept der Anatomie hat mit der Forensik zu tun, der Idee, Fakten so zu sezieren, dass am Ende eine gewisse Form der Objek­ti­vität, der Tatsachen-Wahrheit heraus­kommt. Die Idee dieses Films geht dabei auch auf einen groß­ar­tigen alten Hollywood-Film aus dem Jahr 1959 zurück. In Otto Premin­gers Anatomie eines Mordes spielt James Stewart einen armen Anwalt, der einen Soldaten vertei­digt, der des Mordes am angeb­li­chen Verge­wal­tiger seiner Frau beschul­digt wird. Anatomie d’une chute zeigt ebenfalls eine juris­ti­sche Anatomie, aber es geht hier nicht so sehr um die Sezierung der juris­ti­schen Spiele, sondern um eine Reflexion über die Moral hinter dieser Sezierung der Fakten.
Zudem ist der Titel in der deutschen Über­set­zung doppel­sin­niger als im Original: »Chute« heißt Sturz oder Absturz. Der »Fall« meint dieses ebenso wie den Krimi­nal­fall oder Gerichts­fall.

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Der hier verhan­delte Fall scheint zunächst einfach zu liegen. Er wird von seinem Anfang her zunächst chro­no­lo­gisch erzählt: Eine hervor­ra­gende Sandra Hüller spielt eine erfolg­reiche Schrift­stel­lerin, die sich auf auto­bio­gra­fi­sche Werke spezia­li­siert hat. Zu Beginn gibt sie ein Interview, und erweist sich hier als kühle, kalku­lie­rende, ein bisschen arrogante, jeden­falls sehr selbst­be­wusste Person.
Sie lebt mit ihrem Ehemann, einem im Gegensatz zu ihr nicht erfolg­rei­chen und frus­trierten Schrift­steller zusammen, der seine Frus­tra­tion zum Teil mit Rotwein ertränkt, zum Teil aggressiv nach außen trägt. Beide haben einen kleinen Sohn, der vor einiger Zeit einen Unfall hatte, der sein Sehver­mögen stark beein­träch­tigt hat.

Kurz nach dem besagten Interview stürzt der Ehemann vom zweiten Stock des Hauses tödlich ab. Ein Unfall? Im Prinzip könnte es sich auch um Selbst­mord handeln, aber es besteht ebenfalls die Hypothese eines Mordes.
Die Schrift­stel­lerin wird jeden­falls nach einiger Zeit unter Mord­ver­dacht gestellt, angeklagt und muss sich darum vor Gericht verant­worten. Der einzige wichtige Zeuge in diesem Fall ist der Sohn, der damals im Haus war und der nun in ein erschüt­terndes Stahlbad über die so dunklen wie wahren Geheim­nisse des Lebens seiner Eltern getaucht wird.

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Der Film entwirrt die Komple­xität zwischen­mensch­li­cher und part­ner­schaft­li­cher Bezie­hungen, in die niemand außer den Betei­ligten hinein­sehen kann. Je länger eine Beziehung dauert, desto seltsamer kann sie werden, zugleich über­winden die Partner vieles gemeinsam. Wir fragen uns bis zum Schluss: Hat sie es getan oder nicht? Wird sie dafür verur­teilt werden? Werden wir die Wahrheit heraus­finden, wenn wir ihren Charakter genau verfolgen? Und werden wir jemals erfahren, wie es wirklich war?

Obwohl sich etwa andert­halb Stunden des langen Films auf den Prozess konzen­trieren, besteht der Clou von Regis­seurin Justine Triet darin, das juris­ti­sche Instru­men­ta­rium nur zu benutzen, um mit ihm eine Anatomie des Paares in Rück­bli­cken zu voll­ziehen, die auch in ihrer mora­li­schen Beflis­sen­heit an Ingmar Bergmans bürger­liche Intro­spek­tions-Melo-Dramen und dessen Welt­erfolg Szenen einer Ehe erinnert. Während des Gerichts-Prozesses werden die Span­nungen in der Ehe deutlich, vor allem die Eifer­sucht des Ehemanns, der im Erfolg seiner Frau die eigene Mittel­mäßig­keit wider­ge­spie­gelt sieht.

Der Sohn war bei den dauernden Strei­te­reien der Eltern dabei und hat alles gehört, aber nichts gewusst. Im Prozess wird sich seine Unschuld und deren Perver­tie­rung als entschei­dend erweisen. Der Film ist keine Suche nach der Wahrheit der Tatsachen, sondern nach subjek­tiven Wahr­heiten. Das Ergebnis ist eine Chronik der Geheim­nisse der Ehe, aber auch eine Reflexion über den seeli­schen Schmerz, der mit der Erin­ne­rung an dunkle Ereig­nisse verbunden ist, und über den mora­li­schen Schmerz, der damit verbunden ist, sich der Kälte der Justiz und der Unge­wiss­heit der Zeugen zu unter­werfen.
Aber wir kennen die Personen nicht und sehen nur das, was der Film uns zeigen will. Und das ist oft keine einfache Vorstel­lung. Niemand wäre begeis­tert, wenn sein Leben, seine Entschei­dungen und seine vielen Fehler vor Fremden, aus dem Zusam­men­hang gerissen und von allen beurteilt, vor Gericht disku­tiert würden.

Unbedingt erwäh­nens­wert ist hier auch Vincent (Swann Arlaud), der Anwalt der Autorin, mit dem sie eine lang­jäh­rige Affäre hat und der das Bild ihres verstor­benen Mannes verdrehen muss, damit alle im Gerichts­saal die Version seines Selbst­mords glauben.

Der Film zeigt uns damit also vor allem den (Zer-)Fall der modernen Familie, die oft als Wiege für jede subtile und rück­sichts­lose Form der Mani­pu­la­tion angesehen wird. Die stets kompli­zierten zwischen­mensch­li­chen (und in diesem Fall fami­liären) Bezie­hungen werden von Justine Triet unter die Lupe genommen. Dabei werden geschickt manche Klischees vermieden.

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Anatomie eines Falls ist ein guter Film, wohl­tem­pe­riert und maßvoll. Er wird bestimmt noch viele Preise gewinnen. Zum Beispiel beim Europäi­schen Filmpreis. Denn dies ist genau die Art von mittlerem Realismus, von bürger­li­cher Aufgeräumt­heit, der bei solchen Akade­mie­ab­stim­mungs­ge­mein­schaften reüssiert. Ein Film, der ebenso wie die hypo­the­ti­schen Selbst­fin­dungs­ro­mane der Prot­ago­nistin davon erzählt, wie sich die Realität in Fiktion verwan­delt, in subjek­tive, perspek­ti­vi­sche Deutungen.
Einwenden muss man, dass die Regis­seurin eine im Kino schon tausendmal benutzte etwas zu gut geölt abschnur­rende Erzähl­ma­schine anwirft, dass alles zum Teil recht konstru­iert ist, wie die Struktur einer Fern­seh­serie – ein Drei­teiler. Und dass ein paar Erzähl­tricks als allzu offen­sicht­li­ches Werkzeug zur Lösung des Falles fungieren.

Anatomie eines Falls ist ein drama­tur­gisch sehr solides Film­pro­dukt – Ja: »Produkt«. Etwas (Ver-)Käuf­li­ches. Eine Handels­ware –, das auf eine etwas akade­mi­sche, bemüht-beflis­sene Art und Weise erzählt wird, in einer Länge, die mit zwei­ein­halb Stunden viel­leicht zu lang ist für die erzäh­le­ri­sche Substanz, die es am Ende enthält.

Um wirklich zu fesseln, dazu macht der Film mit Werten viel zu viel, mit Bildern viel zu wenig. Zuviel Drehbuch, zu wenig Kamera und Montage. Respekt­voll aber kühl blickt man auf ein analy­ti­sches Konstrukt.

Die mancher­orts begeis­terte Reaktion auf Triets Film ist über­trieben. Wir müssen abwarten, wie relevant er im Rückblick bleiben wird. Oder ob er sich eher zu einer der schnell verges­senen Cannes-Palmen entwi­ckelt, wie Die Klasse oder Dheepan. Zuvor wird er viele Jahres­preise gewinnen. Zuviel Zeitgeist trübt den Blick.