21.02.2013

»Sartre ist tot. Ok?«

Simon Srebnik in Claude Lanzmanns Film Shoah
Simon Srebnik in Claude Lanzmanns Film Shoah
(Foto: Claude Lanzmann)

Claude Lanzmann über seine Studienjahre in Deutschland, über seinen Film Shoah und über das Erbe seiner Generation

Claude Lanzmann wurde im November 1925 in Paris geboren. In seinen Memoiren »Der pata­go­ni­sche Hase« berich­tete er vor wenigen Jahren, wie er in sehr jungen Jahren Résis­tance-Kämpfer wurde. Später war Lanzmann, der unter anderem mit Simone de Beauvoir zusam­men­lebte, und zwölf Jahre mit der Schrift­stel­lerin Angelika Schrobs­dorff verhei­ratet war, Jour­na­list, Schrift­steller und Filme­ma­cher: Für sein Lebens­werk Doku­men­tar­filme Pourquoi Israel (1973), Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures (2001) und Le rapport Karski (2010) sowie den Meilen­stein Shoah (1986) wurde er jetzt auf der Berlinale geehrt.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Sie sind ziemlich unmit­telbar nach dem Krieg, 1946 bereits nach Deutsch­land gekommen: Als Student. Das ist ziemlich unge­wöhn­lich, für einen Résis­tance-Kämpfer. Wie kam es dazu? Wie ist es Ihnen da ergangen?

Claude Lanzmann: Das ist vermut­lich meine dunkle Seite, meine heimliche Sehnsucht, mich mit dem zu konfron­tieren, was ich nicht kenne und ein bisschen fürchte. Ich hatte gegen die Deutschen im Krieg gekämpft, habe in der Résis­tance Deutsche getötet, aber ich bewun­derte die großen deutschen Philo­so­phen. Kant und Hegel besonders. Ich habe Leibniz studiert, und wollte über ihn eine Arbeit schreiben. Darum ging ich zunächst nach Tübingen, wo ich ein Jahr gelebt habe. Michel Tournier, und Gilles Deleuze, die dort auch studierten, waren damals meine Freunde. Etwas später bin ich dann nach Berlin gekommen. Ich war während der Berliner Blockade Lektor an der Freien Univer­sität Berlin. Dort ging ich sehr bald auf den alten Doro­theen­s­täd­ti­schen Friedhof. Der lag direkt neben dem Haus, in dem Bertolt Brecht wohnte und dort befinden sich die Gräber von Fichte und Hegel, direkt neben­ein­ander und von Hegels Frau, nicht zu vergessen. Brecht konnte immer von seinem Arbeits­zimmer darauf gucken. Das alles hat mir sehr gefallen – ein wunder­schöner Friedhof, und eine phan­tas­ti­sche Erfahrung, die ich nie vergesse.
Aber auch mit den lebenden Deutschen habe ich mich verstanden. Es war das beste Jahr meines Lebens.

artechock: Haben Sie sich damals auch mit zeit­genös­si­scher deutscher Philo­so­phie beschäf­tigt?

Lanzmann: Ja, mit den Exis­ten­tia­listen. Ich hatte in Paris bereits Sartre gelesen. Nicht unbedingt verstanden, aber gelesen. Von Heidegger wollte ich nichts wissen. Heidegger war ein Nazi, seine Philo­so­phie ist imprä­gniert von Blut und Boden, aber ich bin einmal von Tübingen aus nach Heidel­berg gefahren um Karl Jaspers persön­lich zu hören. Seine Vorträge über »Die Schuld­frage« haben mich faszi­niert. Jaspers hat klar­ge­macht, dass es natürlich eine deutsche Kollek­tiv­schuld während des Krieges gegeben hat. Das waren nicht ein paar Gangster, die die unschul­dige deutsche Nation über­wäl­tigt und in Geisel­haft genommen hatten. Was geschehen ist, hätte nicht geschehen können, ohne einen gewissen allge­meinen Konsens. Der Krieg und die Morde in den Lagern brauchten große Büro­kratie. den Verwal­tungs­ap­parat eines modernen Staats. Natürlich gilt diese Kollek­tiv­schuld-These nicht für dieje­nigen Deutschen, die während oder nach dem Krieg geboren wurden. Eine Verant­wor­tung haben aller­dings auch sie. Damit müssen sie zurecht­kommen, auch wenn es schwierig ist – man muss den Dingen ins Auge sehen.

Der Nach­kriegs­ge­nera­tion war das auch klar: Ich hielt Vorle­sungen über Sartre und fran­zö­si­sche Literatur. Meine Kurse waren sehr beliebt. Viele der männ­li­chen Studenten waren älter als ich, um die Dreißig, und gerade zurück aus der Gefan­gen­schaft. Eines Tages kam eine Handvoll Studenten an und fragte mich, ob ich eine Vorlesung über Anti­se­mi­tismus halten könnte. ich hatte damals schon Sartres seinen groß­ar­tigen Text »Über die Juden­frage« gelesen. Seine Über­le­gungen waren zentral, weil er eine Sprache für das Unaus­sprech­liche fand, weil er den Typus des Anti­se­miten sehr präzise beschrieben hat. Wir haben dann drei Wochen über Anti­se­mi­tismus gear­beitet. Dem fran­zö­si­schen Mili­tär­kom­man­danten gefiel das aller­dings gar nicht, und er drohte mir, ich müsse das nächste Flugzeug von Tempelhof nehmen, wenn ich nicht sofort Schluss mache. Das galt als Politik, und Politik war in Berlin verboten. Mich hat das so geärgert, dass ich nach der Rückkehr nach Paris über die Reedu­ca­tion schreiben wollte.

artechock: Was war das Bild von Deutsch­land, dass Sie damals hatten?

Lanzmann: Ich muss Ihnen eins sagen: 1948 war ich 23 Jahre alt, sehr jung. Das Ausmaß der Shoah hatte ich noch nicht begriffen. Das ist mir erst sehr viel später klar geworden. Das erste Konzen­tra­ti­ons­lager, das ich persön­lich gesehen habe, war das von Schwen­ningen, im Schwarz­wald, südlich von Stuttgart. Das war kein Vernich­tungs­lager. Aber die Erfahrung war sehr hart, die Spuren waren noch ganz frisch.

artechock: Wie haben die Über­le­benden damals über ihre Erleb­nisse gespro­chen? Haben Sie das überhaupt?

Lanzmann: Ich habe damals fast gar keine Über­le­benden gekannt. Ich kannte einen Freund meiner Mutter, aber der hat nicht geredet. Sie müssen eines verstehen: Der Krieg war endlich zuende gewesen, die unmit­tel­bare Befreiung vorüber, und die Leute wollten nicht darüber reden, was Ihnen passiert war. Es hat dafür die Zeit gefehlt. Und das waren Erleb­nisse, die hat man beweint, aber man hat nicht geredet. Der Sinn für die Dimension der Verbre­chen entstand erst mit dem Vergehen der Zeit. Vergessen sie nicht, dass die Deutschen geschlagen waren, Berlin war eine einzige Ruine.

artechock: Haben Sie die Nürn­berger Prozesse als eine Art Genug­tuung erlebt?

Lanzmann: Ich hab den Prozess nicht sehr genau verfolgt. Ich lebte überhaupt nicht sehr synchron mit den großen histo­ri­schen Ereig­nissen. Etwa die Staats­grün­dung von Israel 1948, die mir sehr viel bedeutete – da war ich in Berlin. Ich kam immer etwas zu spät.

artechock: Auf der Berlinale werden Sie für Ihr Lebens­werk als Doku­men­tar­filmer geehrt. Im Zentrum von allem steht natürlich Shoah.

Lanzmann: Offen gesagt: Ich sehe mich überhaupt nicht als Doku­men­tar­filmer. Shoah weicht den üblichen Kate­go­rien – fiktional oder doku­men­ta­risch – aus. Die sind zu platt und beschrei­bend. Verzeihen Sie mir die Eitelkeit, aber ich möchte einen Freund von mir zitieren, der gesagt hat: Das Kino ist die siebte Kunst, Shoah ist die achte Kunst. Ich habe keine bereits exis­tie­rende Realität abgefilmt, sondern ich habe das überhaupt erst komplett herge­stellt, was man auf der Leinwand sieht. Vorher gab es nichts.

Shoah ist ein Film, der Versuch, der Vernich­tung der sechs Millionen Juden und der Vertil­gung der Erin­ne­rung Wider­stand zu leisten. Ihnen ihre Erin­ne­rung zurück­zu­er­statten. Denn diese Vernich­tung war erfolg­reich. Die Nazis haben nicht allein Menschen zerstört, sie haben ihr Zers­törungs­werk selbst noch vernichtet – das ist es, was der Ausdruck »Ver-Nicht-Ungs-Lager« eigent­lich bedeutet. Wir müssen uns diese wesent­liche, ganz grund­le­gende Differenz zwischen Vernich­tungs­la­gern und Konzen­tra­ti­ons­la­gern in Erin­ne­rung rufen: Die Zustände in den Konzen­tra­ti­ons­la­gern waren unglaub­lich hart. Und viele Leute starben. Aber es gab die Möglich­keit zu überleben. In den Vernich­tungs­la­gern stellte sich diese Möglich­keit gar nicht. Das waren Lager, dazu auser­sehen waren, den unmit­tel­baren Tod zu verwalten. Die Passa­giere der ankom­menden Züge wurden zu großen Teilen norma­ler­weise während der ersten zwei, drei Stunden nach ihrer Ankunft getötet.

Vernich­tungs­lager findet man auf dem Staats­ge­biet Polens. Das waren Lager, die eine sehr präzise Funktion hatten. Sie sollten massen­haft töten, aber sie waren nicht dazu bestimmt, dauerhaft zu bleiben. Konzen­tra­ti­ons­lager dagegen lagen auf deutschem Gebiet und sie waren ein Dauer­zu­stand. Jeder Deutsche kannte sie: Buchen­wald, Dachau.

artechock: Die aller­meisten Über­le­benden, die bis heute berichtet haben, stammen also aus Konzen­tra­ti­ons­la­gern, nicht aus Vernich­tungs­la­gern...

Lanzmann: Genau. Das ist die radikale Differenz. Es gab keine Leichen, keine Spuren! Diese anderen Filme wie Nacht und Nebel von Alain Resnais, die immer Leichen zeigen – das sind immer dieselben Bilder: Man sieht Bulldozer, die Kadaver in Gräben schütten. Aber das sind Leichen, die aus Konzen­tra­ti­ons­la­gern stammen. Man hat sie entdeckt, als die Ameri­kaner die Konzen­tra­ti­ons­lager in Deutsch­land befreit hatten. Viele von ihnen starben durch eine große Typhus­epi­demie am Ende des Krieges.

artechock: Was war Ihre Intention, als Sie begannen an Shoah zu arbeiten?

Lanzmann: Ich wollte kein Buch machen, ich wollte einen Film machen. Es gibt genug sehr gute Bücher, das Meis­ter­werk von Raul Hilberg zum Beispiel, und manches mehr. Aber nein! Ich hatte auch nie bean­spru­chen wollen, irgend­etwas Neues zu den Erkennt­nissen der Histo­riker beizu­tragen. Ich wollte etwas ganz und gar Anderes: Ich wollte zeigen. Ich wollte das humane Gesicht des Inhumanen zeigen, wollte Emotionen zeigen, die Tränen, die Lügen, et cetera. Das, was ich von ganzem Herzen zu machen wünschte, war eine Verge­gen­wär­ti­gung, eine Verkör­per­li­chung (»Incar­na­tion«) der Gescheh­nisse. Eine Verge­gen­wär­ti­gung, die durch die Prot­ago­nisten selbst geschieht. Man muss es sehen, und man sieht es.

artechock: Was waren das für Menschen, denen Sie bei Ihrer Recherche begeg­neten? Wie würden Sie die beschreiben?

Lanzmann: Es sind Menschen, die ich selbst als Heilige ansehe, als Helden und als Märtyrer. Shoah ist kein Film über das Überleben. Es ist ein Film über den Tod. Über die Radi­ka­lität des Todes in den Lagern mit den Gaskam­mern. Das ist das zentrale und einzige Thema von Shoah. Die Menschen in dem Film kann man keine »Über­le­benden« nennen. Ich nenne sie »Gespenster«. Sie waren das Einzige, was mir wichtig war und mich wirklich inter­es­sierte. Es sind Menschen, die in den Vernich­tungs­la­gern in den Sonder­kom­mandos von den Deutschen zur Besei­ti­gung der Spuren einge­setzt waren. Das bedeutet: Diese Menschen waren an der letzten Etappe des Zers­törungs­pro­zesses und der Ermordung ange­kommen, und darum wurden sie zu direkten Zeugen des Todes ihres Volkes – zusammen mit den Mördern selbst­ver­s­tänd­lich. Das waren Menschen, die mit den schau­er­lichsten Erfah­rungen konfron­tiert waren, die man sich vorstellen kann. Es war ein Wunder, dass sie entkommen waren. Entkommen war nicht vorge­sehen. Keiner, der Zeuge der Verbre­chen geworden war, durfte jemals entkommen.

Sie aber entkamen. Außer­or­dent­li­cher Mut, verband sich in ihren Fällen mit außer­or­dent­li­chem Glück. Die Prot­ago­nisten erzählen deshalb in Shoah auch nie, wie sie davon­kamen, wie es ihnen gelang, beispiels­weise aus Sobibor oder Treblinka zu fliehen. Sie sagen nie »Ich«, sie sagen immer »Wir«. Denn sie sind Sprecher der Toten. Das spüren sie instinktiv. Es gibt auch keine Anekdoten in Shoah. Shoah ist eine Form für sich. Eine eigene Gestalt. [er verwendet das deutsche Wort]. Das ist nicht Schind­lers Liste.

artechock: Wie haben Sie Ihren Titel gefunden?

Lanzmann: Ich habe nach einem Titel gesucht. Am liebsten wäre mir ein Film ohne einen Titel gewesen, aber das geht nicht, schon aus prag­ma­ti­schen Gründen. Am Ende war es Zufall. Aber ein schöner. Ich kann nicht hebräisch, deshalb ist mir das Rätsel, das Geheimnis, das dieses Wort trans­por­tiert, sehr lieb. Statt­dessen ist »Holocaust« ein idio­ti­scher Ausdruck, »Holocaust«, das klingt wie Achter­bahn, wie »roller coaster« auf Englisch. Und voll­kommen absurd und obszön – denn er ist religiös. Aber welcher Gott sollte so etwas zulassen?

artechock: Das 20. Jahr­hun­dert erscheint im Rückblick als ein Jahr­hun­dert der Desil­lu­sio­nie­rung, des Verschwin­dens der Utopien. Was kann man machen um Ihre Erfah­rungen und die Ihrer Gene­ra­tion zu bewahren?

Lanzmann: Ich glaube, das kann man nicht. Wir leben in einer anderen Welt als die Menschen der Nach­kriegs­zeit. Die Utopien sind tot, auch die schönen.

artechock: Für immer?

Lanzmann: Ich glaube schon.

artechock: Aber in der Geschichte wechseln sich doch immer Zeiten des Skep­ti­zismus mit denen des Utopismus ab?

Lanzmann: Viel­leicht... Es gibt diesen ameri­ka­ni­schen Philo­so­phen Fukuyama – heute machen sich alle lustig über ihn, weil er das »Ende der Geschichte« propa­giert hat. Aber ich glaube, er hat einige sehr kluge Sachen gesagt. Über die Entwick­lung der Welt und den Konsu­mismus.

artechock: Können Intel­lek­tu­elle etwas bewirken? Müssen Sie Vorbild sein, sich öffent­lich äußern, wie Ihr Freund Jean-Paul Sartre?

Lanzmann: Sartre ist tot. Ok? Sartre war für meine Gene­ra­tion, aber auch für mich selbst unglaub­lich wichtig.Er ist ein großer Denker, der heute leider unter­schätzt wird. Über sein philo­so­phi­sches Werk will ich gar nicht behaupten, dass ich alles verstanden hätte. Aber Sartre fand die richtigen Worte nach dem Krieg. Er stellt die Frage nach der Moral, und nach der Freiheit. wer ihn gelesen und verstanden hat, wird die Freiheit nie vergessen, nie verraten.

Es ist kein Zufall, dass die jungen Romane heute nicht allzu viel zu sagen haben über die Liebe und den Menschen. Heute gibt es viel Nach­läs­sig­keit [désin­vol­ture], ein großes Fehlen von Respekt. Das Verlangen nach Utopien ist die Essenz des Menschen, aber sinnvoll zu leben, ist schwierig.